Lexikon der Mathematik: dynamisches System
Tripel (M, G, Φ) für eine Menge M, eine Gruppe (G, +) und eine Abbildung Φ : M × G → M, für die gilt:
- Φ(., 0) = idM(.), und
- Φ(Φ(m, s), t) = Φ(m, s + t) für alle m ∈ M und alle s, t ∈ G.
Die Menge M wird als Phasenraum des dynamischen Systems bezeichnet. Die Gruppe G wird i. allg. als topologische Gruppe vorausgesetzt.
Je nach Anwendung werden an den Phasenraum M und die Abbildung Φ weitere Forderungen gestellt. Meist wird M als topologischer Raum und Φ als stetig vorausgesetzt; dann bezeichnet man (M, G, Φ) als topologisches dynamisches System. Wird M als Maßraum und Φ als meßbare Abbildung vorausgesetzt, so heißt (M, G, Φ) ergodisches System. In den meisten Anwendungen wird für G die Gruppe ℝ bzw. ℤ verwendet, wobei man von einem kontinuierlichen bzw. einem diskreten dynamischen System spricht. Ein diskretes dynamisches System heißt auch Kaskade. Wird statt ℝ nur ℝ+ bzw. statt ℤ nur ℕ verwendet, spricht man oftmals auch von einem dynamischen System, obwohl es sich genauer um einen (diskreten) sog. Halbfluß handelt. Die Bedingungen 1. und 2. heißen Flußaxiome.
Der Begriff des dynamischen Systems geht auf die klassische Mechanik zurück, in der Systeme mit endlich vielen Freiheitsgraden behandelt werden. Der Zustand eines solchen Systems wird dabei durch endlich viele Orte und Geschwindigkeiten eindeutig bestimmt. Die zeitliche Entwicklung eines solchen Systems wird dabei durch ein Kraftgesetz, d. h. eine gewöhnliche Differentialgleichung festgelegt. Das dazugehörige Anfangswertproblem ist (unter geeigneten Voraussetzungen zumindest lokal) eindeutig lösbar.
Befindet sich das System also zu einer Zeit 0 in einem Zustand x0 ∈ M, so kann man durch Lösen des Anfangswertproblems
\begin{eqnarray}\dot{x}=F(x),\,\,\,\,\,x(0)={x}_{0}\end{eqnarray}
Ist das Anfangswertproblem eindeutig lösbar für alle Zeiten t ∈ ℝ, so wird dadurch eine Abbildung Φ : M × ℝ → M definiert, die jedem Anfangszustand x0 ∈ M und jeder Zeit t ∈ ℝ den eindeutigen Zustand zuordnet, in dem es sich nach der Zeit t befinden wird, wenn es sich zur Zeit 0 im Zustand x0 befand. Auch falls nur lokale Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen vorliegen, wird ihre Gesamtheit mitunter als dynamisches System bezeichnet.
Die Theorie der dynamischen Systeme hat sich aus dem Bestreben entwickelt, nicht Aussagen über Lösungen einzelner Anfangswertprobleme zu machen, sondern das globale Verhalten dieser Systeme der klassischen Mechanik zu beschreiben, insbesondere war man an der Stabilität des Planetensystems interessiert.
Als dynamisches System auf einem Banachraum bezeichnet man eine Familie \({\{{A}_{t}\}}_{t\in {\mathbb{R}}}\) linearer Operatoren auf einem Banachraum B, für die gilt:
\begin{eqnarray}{A}_{0}={\text{id}}_{B},\\ {A}_{s}{A}_{t}={A}_{s+t}\,\,(s,t\in {\mathbb{R}}).\end{eqnarray}
Dies sind Spezialfälle der o.g. Flußaxiome. Man spricht auch von einem Fluß auf B. Verwendet man statt ℝ nur ℝ+, spricht man analog von einem Halbfluß.
Breite Anwendungen finden dynamische Systeme beispielsweise in der Mathematischen Biologie: Deterministische Modelle der Biologie können als diskrete (Genetik) oder kontinuierliche dynamische Systeme aufgefaßt werden: Gewöhnliche Differentialgleichungen, Reaktionsdiffusionsgleichungen, Differenzendifferentialgleichungen, Transportgleichungen.
Die typischen Fragestellungen der Theorie dynamischer Systeme nach dem asymptotischen Verhalten einzelner Trajektorien, nach der Existenz globaler Attraktoren, nach Bifurkationen und nach der strukturellen Stabilität sind sämtlich für die Biologie relevant.
[1] Arnold, V.I.: Gewöhnliche Differentialgleichungen. Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin, 1991.
[2] Heuser, H.: Gewöhnliche Differentialgleichungen. B.G. Teubner Stuttgart, 1995.
[3] Hirsch, M.W.; Smale, S.: Differential Equations, Dynamical Systems, and Linear Algebra. Academic Press Orlando, 1974.
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