Lexikon der Mathematik: Euklidische Geometrie
I. Euklid von Alexandria stellte in seinem 13-bändigen Werk „Die Elemente“ [1] erstmalig die Geometrie als abgeschlossenes deduktives System dar. Dieses Werk wurde zu dem (nach der Bibel) am zweithäufigsten gedruckten Buch der Weltgeschichte und war bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wichtigste Grundlage für die Ausbildung in Geometrie („Elemente“ des Euklid).
Euklid teilte seine Grundlagen in drei Kategorien, die Erklärungen (Definitionen) der auftretenden Begriffe, die Axiome (Grundaussagen, die für alle Wissenschaften interessant sind), und die Postulate (Grundaussagen, die sich speziell auf die Geometrie beziehen).
Im folgenden sind die Definitionen von Euklid auszugsweise und seine Axiome sowie Postulate vollständig aufgeführt:
Definitionen:
- Was keine Teile hat, ist ein Punkt.
- Eine Länge ohne Breite ist eine Linie.
- Die Enden einer Linie sind Punkte.
- Eine Linie ist gerade, wenn sie gegen die in ihr befindlichen Punkte auf einerlei Art gelegen ist.
- Was nur Länge und Breite hat, ist eine Fläche.
Axiome:
- Dinge, die demselben Dinge gleich sind, sind einander gleich.
- Fügt man zu Gleichem Gleiches hinzu, so sind die Summen gleich.
- Nimmt man von Gleichem Gleiches hinweg, so sind die Reste gleich.
- Was zur Deckung miteinander gebracht werden kann, ist einander gleich.
- Das Ganze ist größer als sein Teil.
Postulate:
- Es soll gefordert werden, daß sich von jedem Punkte nach jedem Punkte eine gerade Linie ziehen lasse.
- Ferner, daß sich eine begrenzte gerade Linie stetig in gerader Linie verlängern lasse.
- Ferner, daß sich mit jedem Mittelpunkt und Halbmesser ein Kreis beschreiben lasse.
- Ferner, daß alle rechten Winkel einander gleich seien.
- (Parallelenpostulat) Endlich, wenn eine gerade Linie zwei gerade Linien trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte, so sollen die beiden geraden Linien, ins Unendliche verlängert, schließlich auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte.
Diese Definitionen, Axiome und Postulate halten heutigen Anforderungen an logische Korrektheit nicht mehr stand. Zum einen erweist sich die Trennung nach Axiomen und Postulaten als nicht sinnvoll. Die Axiome erhalten nämlich nur dann eine Relevanz für die Geometrie, wenn konkrete geometrische Begriffe eingesetzt werden. Dann handelt es sich aber wiederum um geometrische Aussagen, also im Sinne Euklids um Postulate. In neueren Arbeiten wird daher nicht mehr zwischen Axiomen und Postulaten unterschieden, sondern nur von Axiomen gesprochen, worunter alle unbewiesenen Grundaussagen verstanden werden. Vor allem jedoch genügen die von Euklid gegebenen „Erklärungen“ nicht den logischen Ansprüchen an Definitionen. Vielmehr ist es unmöglich, alle auftretenden Objekte und Relationen zu definieren, da Definitionen nur auf Grundlage bereits bekannter Begriffe möglich sind. Einige grundlegende Begriffe (wie z. B. Punkt, Gerade usw.) müssen also als undefinierte Grundbegriffe an den Anfang gestellt werden. Ein logisch völlig korrekter axiomatischen Aufbau der Geometrie wurde von David Hilbert gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgestellt (Axiome der Geometrie).
II. Lange Zeit umstritten war die Frage, ob das Parallenpostulat auf Grundlage der anderen Axiome und Postulate bewiesen werden kann. Dieses sog. Parallelenproblem beschäftigte Generationen von Mathematikern und brachte unzählige Beweisversuche<?PageNum _86 hervor, die jedoch alle daran scheiterten, daß unbemerkt Aussagen verwendet wurden, die nicht aus den übrigen Axiomen und Postulaten ableitbar sind und vielmehr zum 5. Postulat äquivalente Aussagen darstellten.
Erst als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gauß, Bolyai und Lobatschewski zeigen konnten, daß auch die Theorie, die aus den übrigen Axiomen und Postulaten sowie der Verneinung des 5. Postulats besteht, eine widerspruchsfreie Theorie (nämlich eine nichteuklidische Geometrie) ist, war das Problem – wenn auch in einer völlig unerwarteten Weise – gelöst.
Als Euklidische Geometrie im Sinne eines axiomatischen Aufbaus der Geometrie wird seitdem die Geometrie bezeichnet, in der alle Axiome der Geometrie, also sowohl diejenigen der absoluten Geometrie als auch das 5. Postulat von Euklid bzw. das euklidische Parallelenaxiom gelten.
III. Einen gänzlich anderen als den axiomatischen Weg zur Beschreibung verschiedener Geometrien stellt das Erlanger Programm dar, welches Felix Klein in seiner Antrittsvorlesung 1872 darlegte. Danach kann eine Geometrie als Invariantentheorie bezüglich einer Transformationsgruppe auf einer Menge aufgefaßt werden. Die der euklidischen Geometrie zugrundeliegende (Punkt-) Menge ist dabei der euklidische Punktraum: Ein affiner Punktraum mit einem dazugehörigen Vektorraum, auf dem eine positiv definite symmetrische Bilinearform (Skalarprodukt) definiert ist. Die Transformationsgruppe, welche die euklidische Geometrie charakterisiert, ist die Gruppe der Bewegungen (euklidische Bewegungsgruppe), die zugehörige Transformationsgruppe des euklidischen Vektorraumes die Gruppe der orthogonalen Abbildungen, d. h. derjenigen Abbildungen, die das Skalarprodukt zweier Vektoren unverändert lassen. Somit sind Bewegungen abstandstreue Abbildungen des euklidischen Punktraumes auf sich.
Die Euklidische Geometrie im Sinne des Erlanger Programms ist somit die Theorie der Invarianten bezüglich der Bewegungen eines euklidischen Punktraumes. Zu diesen Invarianten zählen u. a. Streckenlängen, Streckenverhältnisse, Flächeninhalte bzw. Volumina und die Maße von Winkeln, wobei die Invarianz von Streckenlängen die Euklidische Geometrie von anderen (allgemeineren) Geometrien unterscheidet.
Man vergleiche hierzu auch das Erlanger Programm von Felix Klein.
Literatur
[1] Euklid: Die Elemente (nach Heibergs Text aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Clemens Thar). Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig, 1933–1937.
[2] Klein F.: Das Erlanger Programm (1872) – Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen. Goest & Portig Leipzig, 1974.
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