Lexikon der Mathematik: Geometrie von Geweben
Die Geometrie von Geweben ist ein Zweig der Differentialgeometrie, der sich mit Systemen von endlich vielen einparametrigen Kurvenscharen im ℝ2 oder ℝ3 oder Scharen von Flächen im ℝ3 befaßt.
Ein ebenes p-Gewebe ist ein Gebiet G von ℝ2, in dem p Scharen differenzierbarer Kurven gegeben sind. Im allgemeinen gilt p ≥ 3, und es wird gefordert, daß durch jeden Punkt von G von jeder Schar genau eine Kurve geht, und daß sich Kurven, die zu verschiedenen Scharen gehören, in höchstens einem Punkt schneiden. Ein einfaches Beispiel sind hexagonale Gewebe. Diese erscheinen als Sechseckwaben in der Ebene, die durch drei Scharen paralleler Geraden verschiedener Richtung gebildet werden.
Hauptgegenstand der Geometrie der Gewebe sind die Eigenschaften, die unter differentialtopologischen Transformationen invariant bleiben. Zwei Gewebe heißen äquivalent, wenn sie diffeomorph sind, d. h., wenn sie durch differenzierbare bijektive Abbildungen der Gebiete ineinander überführt werden können, deren Umkehrabbildungen ebenfalls differenzierbar sein müssen. Für p = 2 ist jedes Gewebe zu einem aus zwei Scharen paralleler Geraden bestehenden Gewebe diffeomorph. Solche Gewebe werden Netze genannt.
Im Fall p = 3 ist ein Gewebe i. a. weder zu einem hexagonalen Gewebe noch zu einem aus drei beliebigen Geradenscharen bestehenden Gewebe diffeomorph, d. h., ein 3-Gewebe ist i. a. nicht rektifizierbar.
Einen anschaulichen Beleg für diese Aussage liefert das Betrachten von sogenannten Brianchon-Sechsecken. Diese werden wie folgt definiert: Man wählt einen beliebigen Punkt P des Gebietes. Durch P geht dann genau je eine Kurve Ci,P der i-ten Schar (i = 1, 2, 3). Auf C1,P wählt man einen Punkt A und konstruiert eine Folge von Punkten A0 = A, A1, A2,…, die abwechselnd auf einer der Kurven C1,P, C2,P, C3,P liegen, durch sukzessives Bilden von Schnittpunkten, nämlich
- A1 = C2,A ∩ C3,P, wobei C2,A die eindeutig bestimmte Kurve der zweiten Schar durch A,
- \({A}_{2}={C}_{1,{A}_{1}}\cap \space {C}_{2,P}\), wobei \({C}_{1,{A}_{1}}\) die eindeutig bestimmte Kurve der ersten Schar durch A1,
- \({A}_{3}={C}_{3,{A}_{2}}\cap \space {C}_{1,P}\), wobei \({C}_{3,{A}_{1}}\) die eindeutig bestimmte Kurve der dritten Schar durch A2 ist.
Man fährt fort mit der Kurve der zweiten Schar durch A3, erhält einen Punkt A4 als Schnittpunkt mit C3,P, usw..
Die ersten sechs dieser Punkte bilden das Brianchon-Sechseck. Ist das Gewebe hexagonal, so wird A6 = A, d. h., die Konstruktion wiederholt sich nach sechs Schritten. Die Punktfolge schließt sich, ganz gleich, welche Anfangspunkte P und A gewählt wurden, und A1, … A6 bilden ein Sechseck, dessen Diagonalen C1,P, C2,P, C3,P sich in P schneiden. Im allgemeinen wird das nicht der Fall sein. Es gilt folgender Satz.
Ein 3-Gewebe in ℝ2läßt sich genau dann diffeomorph auf ein hexagonales Gewebe abbilden, wenn sich alle seine Brianchon-Sechsecke schließen.
Ein räumliches krummliniges p-Gewebe besteht aus p Kurvenscharen im ℝ3, wobei durch jeden Punkt nur eine Kurve jeder Schar geht. Diese Gewebe sind untereinander i. allg. selbst für p = 2 nicht diffeomorph. Von einfacher Struktur sind z. B. Vierseitgewebe. Das sind 2-Gewebe, für die eine einparametrige Flächenschar existiert, auf deren Flächen die Kurven der beiden Scharen des Gewebes Koordinatennetze bilden − eine Eigenschaft, die sich bei diffeomorphen Abbildungen nicht ändert.
Ein räumliches Flächengewebe besteht aus p Scharen von regulären Flächen im ℝ3 derart, daß durch jeden Punkt von ℝ3 von jeder Schar genau eine Fläche geht. Überdies dürfen je drei Flächen von drei verschiedenen Scharen höchstens einen gemeinsamen Punkt besitzen. Solche Gewebe heißen rektifizierbar, wenn sie zu einem aus Ebenenscharen bestehenden Gewebe diffeomorph sind.
Ein räumliches 4-Gewebe von Flächen heißt oktahedral, wenn das aus den Durchschnitten der Flächen je dreier der 4 Scharen mit einer Fläche der vierten Schar bestehende 3-Gewebe ein hexagonales Gewebe auf dieser Fläche ist.
Höherdimensionale Gewebe bestehen aus Scharen von r-dimensionalen Untermannigfaltigkeiten einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit M. Beispielsweise bilden im Fall n = 2 r drei Scharen r-dimensionaler Untermannigfaltigkeiten ein 3-Gewebe, wenn jeder Punkt von M in genau einer Untermannigfaltigkeit einer jeden Schar enthalten ist, und je zwei Untermannigfaltigkeiten von verschiedenen Scharen höchstens einen Punkt gemeinsam haben.
Ist ein 3-Gewebe gegeben, so kann man je zwei Kurven γ1 und γ2 der beiden ersten Scharen die eindeutig bestimmte Kurve der dritten Familie zuordnen, die durch den eventuell vorhandenen Schnittpunkt von γ1 und γ2 geht. Man gelangt zu einer partiell definierten binären Operation, d. h., zu einer algebraischen Struktur vom Typ einer Quasigruppe auf der Menge dieser Kurven.
Die Theorie der abstrakten Gewebe oder algebraischen Netze befaßt sich mit der Untersuchung der Eigenschaften derartiger Quasigruppen.
Literatur
[1] Blaschke, W.: Einführung in die Geometrie der Waben. Birkhäuser Basel, 1955.
[2] Blaschke, W.; Bol, G.: Geometrie der Gewebe. Springer Verlag, Berlin 1938.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.