Lexikon der Mathematik: Geschichte der Infinitesimalrechnung
eine der wichtigsten Triebfedern der modernen Analysis.
Die Infinitesimalrechnung hat eine lange Geschichte und ist nicht etwa eine Erfindung von Leibniz und Newton. Die Durchführung von Grenzübergängen, allerdings in geometrischer Form, war schon in der Antike Archimedes gelungen. Die Werke antiker Mathematiker, besonders die des Archimedes, wirkten als methodisches Vorbild bis in das 17. Jahrhundert Seit der Renaissance, also etwa seit dem 14. Jahrhundert, wurden die Werke der antiken Mathematiker in Übersetzungen bekannt und hatten besonders im 15. und 16. Jahrhundert größten Einfluß auf die Gelehrten Europas.
Drei Problemkreise haben das Entstehen der Infinitesimalrechnung wesentlich befördert:
a) mechanisch-physikalische Fragen, wie Wurf, freier Fall, Planetenbewegung, beschleunigte Bewegung;
b) mechanisch-geometrische Probleme, wie Flächen-, Volumen-und Schwerpunktberechnungen;
c) geometrische Probleme im engeren Sinne, wie das Tangentenproblem.
Nach einer „Anfangsphase“, zu der u. a. die einschlägigen Arbeiten von G. Galilei (1564–1642) und Commandino (1509–1575) zählen, setzte mit J. Kepler (1571–1630) eine neue Etappe ein. Kepler setzte das „Unendlich-Kleine“ bewußt in der Geometrie ein, um Flächeninhalte und Volumina zu bestimmen. So dachte er sich eine Kreisfläche durch eine unendliche Anzahl von gleichschenkligen Dreiecken ersetzt. Eng an Kepler angelehnt, entwickelte B. Cavalieri (1598?–1647) 1635 seine Methode der Indivisiblen. Indivisible sind unendlich dünne Gebilde, die eine Gesamtheit höherer Dimension bilden, z. B. bilden indivisible „Fäden“ zusammen eine Fläche. Durch Summation der Indivisiblen kann man Flächen und Volumina berechnen. Die Indivisiblenmethode Cavalieris war so vage, daß an eine sinnvolle geometrische Weiterentwicklung nicht zu denken war. Es wurde notwendig, die geometrische Form infinitesimaler Betrachtungen zu verlassen und algebraisch-rechnerische Methoden einzuführen. In der 1. Hälfte des 17.Jhs. griffen P. Fermat (1601–1665), Ch. Huygens (1629–1695) u. a. deshalb bewußt auf Grundgedanken der Archimedischen Mathematik (Exhaustionsmethode) zurück und arithmetisierten die Indivisiblenmethode. In ihren Arbeiten und in denen von J. Wallis (1616–1703) und vielen anderen wurden Quadraturen, Rektifikationen und Komplanationen durchgeführt. Besonders Fermat gelang es, bei der Berechnung von Extremwerten und der Konstruktion von Kurventangenten wesentliche Fortschritte zu erzielen. Seine Methode erinnert stark an die Bildung von Differentialquotienten. Die Fermatsche Tangentenbestimmung löste heftige Diskussionen aus und führte schließlich zur Einführung des „charakteristischen Dreiecks“ 1659 durch B. Pascal (1623–1662). Leibniz fand im charakteristischen Dreieck Pascals die entscheidende Anregung für seinen Kalkül (ab 1675).
Die Newtonsche Form der Infinitesimalrechnung (Fluxionsrechnung) entstand aus einer anderen Motivation. Newton wollte bei der Behandlung der oben erwähnten Probleme weder die antiken Methoden benutzen, noch die Indivisiblenmethode verwenden. Er bemühte sich um sichere Grundlagen für „echte“ Grenzübergänge und fand sie in seiner „Methode der ersten und letzten Verhältnisse“ (um 1665/67).
Letzlich leisteten der Leibnizsche Kalkül und die Newtonsche Methode dasselbe, nur war der Leibnizsche Kalkül sehr viel leichter zu handhaben. Auf dem europäischen Kontinent gelangen mit dem „Calculus“ von Leibniz den Bernoullis, L. Euler (1707–1783) und vielen anderen bald aufsehenerregende Erfolge. Die erste zusammenfassende Darstellung der „Leibnizschen Mathematik“ erschien 1696. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verschlossen sich englische Mathematiker weitgehend dem „Calculus“. Das führte zu einer Stagnation der britischen Mathematik. Erst mit der Übernahme der Infinitesimalmathematik Leibnizscher Prägung zu Anfang des 19. Jahrhunderts gelang der Anschluß an die internationale Entwicklung.
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