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Lexikon der Mathematik: Geschlecht einer Fläche

eine numerische topologische Invariante von Flächen.

Da es sich eine topologische Invariante handelt, ist das Geschlecht zweier zueinander homöomor-pher Flächen gleich. Eine anschauliche Vorstellung vom Begiff der Homöomorphie von Flächen erhält man, indem man sie sich aus beliebig dehnbarem Material gefertigt denkt und annimmt, daß sich eine von ihnen in die andere durch äußere Kräfte deformieren läßt, ohne zu zerreißen.

Die genaue Definition lautet: Zwei Flächen sind homöomorph, wenn es eine bijektive stetige Abbildung zwischen ihnen gibt, deren Umkehrabbildung ebenfalls stetig ist.

Jede zur Kugeloberfläche homöomorphe Fläche, wie z. B. die Oberfläche eines konvexen Körpers, hat das Geschlecht g = 0. Ist zu einem Torus homöomorph, der Fläche, die anschaulich etwa durch einen Auto- oder Fahrradreifen repräsentiert wird, so hat das Geschlecht g = 1.

Stellt man sich eine beliebige Fläche als äußere Berandung eines Körpers \({\mathscr{K}}\subset \space {{\mathbb{R}}}^{3}\) vor, und bohrt durch \({\mathscr{K}}\) eine Röhre, die eine von einem Randpunkt zu einem anderen reichende vollständige Durchtunnelung ergibt, so entsteht ein neuer Körper dessen Oberfläche eine Modifikation 1 von ist. Das Geschlecht von 1 ist dann um 1 größer als das Geschlecht von . Eine andere Beschreibung dieser Modifikation erfolgt durch das „Anbringen eines Henkels“: Man erhält 1 (bis auf Homöomorphie), in dem man aus zwei Kreisflächen ausschneidet und einen Zylinder mit seinen Enden an je einer der beiden Schnittlinien anklebt. Bohrt man sukzessiv weitere derartige Röhren, die die bereits vorhandenen nicht kreuzen, so ergibt sich eine Folge , 1, 2, 3 … von Flächen, deren jede ein um 1 größeres Geschlecht als ihre Vorgängerin hat.

Das Geschlecht einer beliebigen Fläche kann man als „Anzahl der Tunnelröhren“ definieren, die man in eine Kugel bohren müßte, um einen Körper zu erhalten, zu dessen Oberfläche homöomorph ist. Äquivalent dazu, ist das Geschlecht als Anzahl der Henkel definiert, die man an der Kugeloberfläche anbringen muß um eine zu homöomorphe Fläche zu bekommen.

Das Geschlecht ist auch für abstrakte Flächen, d. h. für zweidimensionale Mannigfaltigkeiten definiert und bildet ein vollständiges topologisches Invariantensystem, d. h., es gilt:

Zwei kompakte orientierbare Flächen sind genau dann homöomorph, wenn sie gleiches Geschlecht haben.

Um das Geschlecht der Fläche zu bestimmen, benutzt man Triangulierungen, d. h., Zerlegungen von in disjunkte, krummlinig begrenzte Teile von der Form eines verbogenen Dreiecks. Man muß sich dabei nicht auf Dreiecke beschränken, sondern kann beliebige gekrümmte Polygone mit beliebig vielen Ecken zulassen. Entscheidend ist, daß sie topologisch von einfachster Form sind, etwa homöomorph zu einer Kreisscheibe.

Das läßt sich stets erreichen, indem man längs geeignet gewählter Kurven in Teile zerschneidet. Genauer: Man wählt zunächst eine gewisse Anzahl e von Punkten A1, …, Ae, die Ecken der Triangulierung, und dann eine gewisse Anzahl k diese Punkte verbindender stetiger Kurven, die wir Kanten nennen. Man muß die Kanten so wählen, daß die Fläche dadurch in f Polygone, die Seitenflächen, zerlegt wird. Hat man das erreicht, so erhält man das Geschlecht g aus der Formel \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}e-k+f=2-2g. \end{array}\end{eqnarray}

Diese Gleichung gilt unabhängig davon, wie man die Triangulierung durchführt. Zwei einfache Beispiele mögen die Gleichung (1) veranschaulichen: Betrachtet man auf der Kugeloberfläche irgendeinen Punkt P und eine stetige Kurve K, die von P ausgehend ohne sich selbst zu überschneiden zu P zurückkommt, so zerschneidet K die Kugeloberfläche in zwei Teilflächen. Da wir eine Ecke P und eine Kante K haben, gilt in (1) e = k = 1. Überdies ist f = 2, woraus sich erwartungsgemäß das Geschlecht g = 0 ergibt.

Den Torus kann man als Rotationsfläche, eines Kreises ansehen. Wenn man ihn so zerschneidet, daß man als Kanten einen Meridian und einen Breitenkreis und als Eckenmenge den einzigen Schnittpunkt dieser beiden Kurven bekommt, so entsteht nur eine Seitenfläche, man hat e = f = 1, k = 2, und (1) ergibt g = 1.

Ist die Fläche ein konvexes Polyeder, so gilt g = 0 und die Ecken, Kanten und Seitenflächen sind als Bausteine von direkt vorgegeben. Die Gleichung (1) reduziert sich auf die Eulersche Polyederformel. Die in (1) auftretende Größe χ() = ek + f heißt Eulersche Charakteristik der Fläche.

In der algebraischen Geometrie existiert der Begriff des Geschlechtes einer Fläche ebenfalls. Für eine 2-dimensionale algebraische Varietät X über einem Körper k unterscheidet man arithmetisches und geometrisches Geschlecht. Das geometrische Geschlecht pg ist in Analogie zum Geschlecht einer Kurve durch \begin{eqnarray}{p}_{g}={\dim }_{k}{H}^{0}(X,{{\rm{\Omega }}}_{X}^{2})\end{eqnarray} als Dimension des Vektorraumes aller regulären Differentialformen der Stufe 2 definiert.

Das arithmetische Geschlecht pa hingegen ist durch \begin{eqnarray}\begin{array}{lll}{p}_{a} & = & \chi (X,{\mathscr{O}}_{X})-1\\ & = & {\dim }_{k}{H}^{2}(X,{\mathscr{O}}_{X})-{\dim }_{k}{H}^{1}(X,{\mathscr{O}}_{X})\end{array}\end{eqnarray} gegeben, wobei \({H}^{i}(X,\space {\mathscr{O}}{X}_{})\) die i-te Kohomologiegruppe mit Werten in der Garbe \({{\mathscr{O}}}_{X}\) der rationalen Funktionen und \(\chi (X,\space {{\mathscr{O}}}_{X})\) die Eulersche Charakteristik von \({{\mathscr{O}}}_{X}\) ist. Die Differenz pgpa ist gleich der Dimension des Raumes aller regulären Differentialformen der Stufe 1, der sogenannten Irregularität q von X.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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