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Lexikon der Mathematik: Lie, Marius Sophus

norwegischer Mathematiker, geb. 17.12.1842 Nordfjordeide (Norwegen), gest. 18.2.1899 Christiania (heute Oslo).

Lie, jüngstes von sechs Kindern eines Dorfpfarrers, besuchte 1857–1859 eine private Lateinschule in Christiania und studiert bis 1865 an der dortigen Universität Mathematik und Naturwissenschaften. Nach Abschluß des Studiums gab er Privatunterricht, hielt Vorträge zur Astronomie und war noch unentschlossen, welcher Wissenschaft er sich zuwenden sollte. Erst die Lektüre von Arbeiten Poncelets und Plückers weckte 1868 sein Interesse und inspirierte ihn zu geometrischen Forschungen. Ein Auslandsstipendium verschaffte Lie die Möglichkeit, das Wintersemester 1869/70 in Berlin sowie den Sommer in Paris zu verbringen und wichtige Beziehungen zu führenden Mathematikern zu knüpfen. 1871 promovierte er an der Universität Christiania und erhielt dort 1872 einen für ihn persönlich geschaffenen Lehrstuhl, um seinen Weggang ins schwedische Lund zu verhindern. 1886 nahm er einen Ruf an die Universität Leipzig an, wo er bis 1898 wirkte, um dann unter sehr günstigen Bedingungen ein persönliches Ordinariat in Christiania anzunehmen.

Ausgehend von den Plückerschen Ideen befaßte sich Lie mit Fragen der projektiven Geometrie, speziell dem Studium der von ihm entdeckten Geraden-Kugel-Transformation, und führte den Begriff der Berührungstransformation ein. Ausgangspunkt war die Betrachtung sog. Berührungselemente und der Elementvereine, die er mit analytischen Mitteln der Differentialgeometrie untersuchte. Auf nahezu natürliche Weise ergab sich eine Verknüpfung mit der Lösung von Differentialgleichungen und der von G. Monge, A. Cauchy u. a. entwickelten Methode der Charakteristiken. Die von Lie geschaffene Integrationstheorie partieller Differentialgleichungen erster Ordnung gehört heute zum Grundbestand der Differentialgleichungstheorie und lieferte auch eine neue Sichtweise und Vereinfachung der Jacobischen Theorie.

Lies Hauptleistung bildete die Theorie der „endlichen kontinuierlichen Gruppen“, zu denen er ab 1874 publizierte, die ersten wichtigen Ideen gingen jedoch auf die gemeinsamen Studien mit F. Klein in Paris 1870 zurück. Diese heute als Lie-Gruppen bezeichneten und etwas allgemeiner definierten Gruppen bestanden aus kontinuierlichen (d. h. beliebig oft differenzierbaren) Transformationen, die von endlich vielen Parametern abhingen. Zu diesen Transformationen definierte Lie die infinitesimalen Transformationen. In den Fundamentaltheoremen klärte er erste wichtige Eigenschaften der Menge der infinitesimalen Transformationen, heute als Lie-Algebra bezeichnet, und deren Beziehung zur Ausgangsgruppe auf. Innerhalb weniger Jahre entwickelte er dann die Grundzüge der Theorie der Lie-Gruppen und Lie-Algebren, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigte.

Obwohl er viele wichtige Ideen und Anwendungsmöglichkeiten eröffnete, fand seine Theorie zunächst wenig Resonanz. Hinzu kam, daß er es nicht vermochte, die neuen Ideen in klarer, übersichtlicher, mathematisch strenger Form anderen Mathematikern verständlich zu machen, und erst in Leipzig fand er Schüler, die sein Werk weiter durchbildeten. So entstanden die großen zusammenfassenden Werke seiner Theorie nur durch die umfangreiche Mitarbeit von F. Engel (1861–1941) und G. Scheffers (1866–1945).

Durch zahlreiche Mathematiker weiterentwickelt, ist die Theorie der Lie-Gruppen und Lie-Algebren heute zu einem großen Forschungsgebiet mit zahlreichen Anwendungen, insbesondere der theoretischen Physik, angewachsen. Wichtige Impulse zur Entstehung dieser topologischen Algebra gingen auch vom 5. Hilbertschen Problem aus, das die Entscheidung forderte, ob bei geeigneter Wahl lokaler Koordinaten eine beliebige lokal euklidische topologische Gruppe ein Lie-Gruppe ist, und erst in den 50er Jahren gelöst wurde.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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