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Lexikon der Mathematik: Mathematik im 20. Jahrhundert-100 Jahre Mathematik

1. Einleitung

Das 20. Jahrhundert war eine Epoche außerordentlicher Entfaltung und Weiterentwicklung der Mathematik. Da sich in einem kurzen Artikel unmöglich auch nur die wichtigsten Leistungen aufzählen lassen, konzentriere ich mich auf einige erkennbare Schlüsselthemen. Ich klammere auch einige bedeutsame Gebiete aus, etwa den gesamten Bereich von der Logik bis zu der Computerwissenschaft, der von einem Experten gesondert dargelegt werden sollte; siehe hierzu beispielsweise Numerische Mathematik, Stringtheorie. Die Anwendungen – außer denen, die sich auf die Grundlagen der Physik beziehen – sollten ebenfalls nicht übergangen, aber an anderer Stelle gewürdigt werden.

2. Vom Lokalen zum Globalen

Mein erstes Thema läßt sich mit dem Schlagwort Vom Lokalen zum Globalen‘ beschreiben: Eine Verlagerung des Schwerpunkts von lokalen Betrachtungen, aus denen sich die klassische Theorie (z. B. Potenzreihen) entwickelte, hin zur modernen globalen Sichtweise, die von der Topologie dominiert wird. In der Tat hat Henri Poincaré, einer der Pioniere der Topologie, vorausgesagt, daß sie der vorherrschende Forschungsbereich des 20. Jahrhunderts sein werde.

In der komplexen Analysis definierte Weierstraß analytische Funktionen durch konvergente Potenzreihen; Abel, Jacobi und ihre Nachfolger waren jedoch diejenigen, welche die Notwendigkeit einer globaleren geometrischen Herangehensweise sahen. Vergleichbar entwickelte sich die herkömmliche Vorstellung in der Theorie der Differentialgleichungen, explizite Lösungen zu finden, weiter in die modernere Theorie, in der die Lösungen implizit und eher durch ihr globales Verhalten definiert sind. Die Kenntnis ihrer Singularitäten ist dabei eingeschlossen.

Ebenso ging in der Differentialgeometrie die klassische Methode, die mit Hilfe expliziter lokaler Formeln für Krümmungen und verwandten Begriffsbildungen arbeitet, in das umfassendere topologische Rahmenkonzept ein.

All dies kann man auch in der theoretischen Physik beobachten, wo man zwischen einem lokalem Modell, das normalerweise durch grundlegende Differentialgleichungen (den „Gesetzen“ der Physik) beschrieben wird, und dem makroskopischen Bild großen Maßstabs unterscheidet. Die Chaos- oder die Katastrophentheorie sind typische Beispiele für diese Entwicklungen.

Sogar in der Zahlentheorie ist ein ähnlicher Prozeß im Gange. Die lokale Theorie behandelt die durch einzelne Primzahlen gegebenen Stellen, wohingegen die globale versucht, alle Primzahlen zu verknüpfen. Zu diesem Zweck hat man in der Tat topologische Ideen mit großem Erfolg in der Zahlentheorie eingeführt.

3. Vergrößerung der Dimension

In der klassischen Mathematik lag zu Beginn die Betonung auf einer kleinen Anzahl von Variablen, oft nur einer. So verstand man ursprünglich unter Funktionentheorie die Theorie einer komplexen Variablen. Im 20. Jahrhundert kam der Übergang zu zwei und mehr Variablen, neue höherdi- mensionale Phänomene tauchten auf und wurden mit topologischen Methoden bearbeitet, wie im obigen Abschnitt angesprochen.

Die Geometrie nahm mit Kurven und Oberflächen ihren Anfang, im 20. Jahrhundert aber wurde die n-dimensionale Geometrie gang und gebe.

Man erhöhte nicht nur die Anzahl der unabhängigen Variablen, sondern auch die Anzahl der zu untersuchenden Funktionen. Es wurde selbstverständlich, Vektorfunktionen oder – allgemeiner – Tensorfelder zu erforschen.

Ein größerer Schritt war der Übergang in der Linearen Algebra und Matrizentheorie zum Hilbertraum und zur Operatortheorie, bei denen die Anzahl der Dimensionen unendlich ist. In gleicher Weise wurden Funktionen durch Funktionale ersetzt, also Funktionen auf dem unendlichdimensionalen Funktionenraum.

4. Vom Kommutativen zum Nichtkommutativen

Die nichtkommutative Algebra erschien zum ersten Mal im 19. Jahrhundert in den Arbeiten Hamiltons über die Quaternionen, Graßmanns über die äußeren Algebren, Cayleys über Matrizen und Galois’ über die Gruppentheorie. Aber es blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten, diese Ideen zur vollen Blüte entwickelt zu sehen. Sie erstrecken sich inzwischen auf alle Bereiche der Mathematik, und aufgrund der Vertauschungsrelationen Heisenbergs haben sie eine unerwartete Anwendung in der Quantenphysik gefunden. Die Theorie der von Neumann-Algebren führt diese Beziehung sehr viel weiter, während in den letzten Jahren Alain Connes auch Ideen der Topologie und Differentialgeometrie in seine „nichtkommutative Geometrie“ integriert hat.

5. Vom Linearen zum Nichtlinearen

Der Großteil der klassischen Mathematik war linear. Dies traf insbesondere auf die euklidische Geometrie mit ihren Geraden und Ebenen zu. Im 19. Jahrhundert wurden erste Schritte auf allgemeinere Geometrien hin unternommen (Bolyai, Lobatschewski, Gauß, Riemann); sie erfuhren durch die

Einsteinsche Theorie der allgemeinen Relativität einigen Ansporn. Nichtlineare Phänomene lassen sich typischerweise am besten untersuchen, indem man die Topologie, wie in Abschnitt 2 beschrieben, einbezieht.

Das Soliton ist in der Theorie der Differentialgleichungen ein typisches nichtlineares Phänomen. Es taucht in vielen Problemen auf und hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Wirkung ausgeübt. Sein theoretischer Rahmen ist sehr umfassend, und seine praktischen Anwendungen sind bedeutsam, zum Beispiel auf Signale in Glasfasern.

In der Grundlagenphysik sind die fundamentalen Gleichungen Clerk Maxwells linear. Im 20. Jahrhundert jedoch tauchten ihre nichtlinearen (Matrix-)Pendants auf, die Yang-Mills-Gleichungen, die Kernkräfte kurzer Reichweite beschreiben. Die Nichtlinearität in den Yang-Mills-Gleichungen rührt unmittelbar von der Nichtkommutativität der Matrizen her – wodurch der Bezug dieses Abschnitts zum vorherigen hergestellt ist.

6. Homologietheorie

Aufgrund der oben beschriebenen Themen wird klar, daß die Topologie eine der zentralen vereinheitlichenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ist (wie von Poincaré vorausgesagt). Deshalb entwickelten sich die grundlegenden Techniken der Topologie zu universellen Methoden. Deren erste ist die Homologietheorie. Im wesentlichen erzeugt sie lineare Invarianten in nichtlinearen Situationen. Sie begann mit der Einführung des Begriffs der Zyklen in topologischen Räumen, die dann Perioden von Integralen liefern, wie in dem Werk von Riemann. Hodge führte diese Ideen in den dreißiger Jahren entscheidend weiter.

Eine andere Quelle der Homologie ist Hilberts Syzygientheorie der Polynomgleichungen, die im wesentlichen das Studium der Ideale und der Beziehungen zwischen ihren Erzeugenden ist. In Verbindung mit der topologischen Theorie führte dies letztendlich zu einem der Höhepunkte in der Mathematik des 20. Jahrhunderts – der Theorie der Kohomologie von Garben. Sie begann mit Leray, wurde von Cartan, Serre, Grothendieck weiterentwickelt und reifte zu einem sehr einflußreichen Instrument in der algebraischen und analytischen Geometrie heran.

Hilberts Theorie war nur ein Beispiel von vielen rein algebraischen Zusammenhängen, in denen die Homologie bedeutsam wurde. So haben endliche Gruppen, Lie-Algebren ihre eigene Homologietheorie, und die algebraische Zahlentheorie ist heute vollständig von homologischen Konzepten durchdrungen.

7. K-Theorie

Ein weiteres Instrument, das der Homologietheorie im Geiste ähnlich ist, tauchte später auf. Dies ist die K-Theorie oder „stabile lineare Algebra“ – das Studium additiver Invarianten von Matrizen. Sie wurde von Grothendieck in seiner Arbeit über den Riemann-Roch-Satz in die algebraische Geometrie eingeführt. Von Atiyah und Hirzebruch wurde sie dann in einen rein topologischen Kontext überführt und entwickelte sich zu einen machtvollen neuen Instrument. Insbesondere spielte sie in der Atiyah- Singer-Indextheorie über elliptische Differentialoperatoren eine wichtige Rolle.

Weitere Verallgemeinerungen folgten danach. Milnor und Quillen entwickelten eine rein algebraische Theorie, und diese weist tiefliegende Verbindungen zur Zahlentheorie auf.

In der Funktionalanalysis entwickelte Kasparow eine fruchtbare Theorie für (nichtkommutative) C*-Algebren, die einen natürlichen Platz in Connes’ nichtkommutativer Geometrie gefunden hat.

Zu guter Letzt ist erst unlängst deutlich geworden, daß die K-Theorie eine wichtige Rolle in der Quantenfeldtheorie und der Stringtheorie spielt, ein Punkt, auf den Witten mit Nachdruck hinweist.

8. Lie-Gruppen

Ein weiterer vereinheitlichender Faktor, der die Mathematik des 20. Jahrhunderts mitbestimmte, war die Theorie der Lie-Gruppen. Auch sie entstand am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Arbeiten von Lie und Klein. Heute durchdringt sie viele Bereiche. In der allgemeinen Topologie war die Arbeit von Borel und Hirzebruch sehr einflußreich, und die nichtkommutative harmonische Analysis auf Lie-Gruppen ist das Vermächtnis von Harish-Chandra. In der Zahlentheorie wurde das ehrgeizige Langlands-Programm im begrifflichen Rahmen der Lie-Gruppen formuliert. Die Verbindungen zur Physik sind ebenfalls wichtig, wie ich nun näher ausführen werde.

9. Einfluß der Physik

Während des gesamten 20. Jahrhunderts stellte die Physik einen zentralen Anreiz für die Entwicklung mathematischer Ideen dar. Hier lediglich einige Höhepunkte: Die Hamiltonsche Mechanik führte zum Studium der symplektischen Geometrie, ein Thema von großem aktuellen Interesse. Die Maxwellschen Gleichungen waren der primäre Anstoß für Hodges Theorie harmonischer Formen. Die Allgemeine Relativitätstheorie regte die Differentialgeometrie an. Die Quantenmechanik gab der Theorie des Hilbertraums und der Spektraltheorie Auftrieb. Die Kristallographie spielte in der endlichen Gruppentheorie eine Rolle. Die Elementarteilchen führten zum Studium von unendlichdimensionalen Darstellungen der Lie-Gruppen. Die Quantenfeldtheorie und die Stringtheorie haben in den letzten 25 Jahren zu einer Unmenge an neuen Konzepten und Ergebnissen in vielen Bereichen der Mathematik geführt. Diese umfassen die Knoteninvarianten von Vaughan Jones, die spektakulären Ergebnisse von Donaldson zu vierdimensionalen Mannigfaltigkeiten, die Spiegelsymmetrien (und Formeln zum Zählen von Kurven), die Quantengruppen, die Monstergruppe.

Auf formale Weise verwendet die Quantenfeldtheorie die Geometrie und Topologie von unterschiedlichen Funktionenräumen. Es wird eine Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts sein, ein besseres Verständnis für dieses gesamte Gebiet zu entwickeln.

(Übersetzung: Brigitte Post, unter Mitarbeit von Friedrich Hirzebruch)

Dieser Aufsatz geht auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die der Verfasser im Millenium-Jahr in Trondheim, Leeds und Toronto gehalten hat.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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