Lexikon der Mathematik: Meßprozeß in der Quantenmechanik
dort als bis heute vermutlich nicht gelöstes Grundproblem anzusehen.
Betrachten wir ein System mit einer Observablen, die nur zweier Werte fähig ist. Das System werde so präpariert, daß die Wahrscheinlichkeit, einen der Werte zu messen, 1/2 beträgt.
Zur wirklichen Messung wird das System kurzzeitig mit einer makroskopischen Apparatur gekoppelt. Die Apparatur werde auch als quantenmechanisches System betrachtet. Nach der Wechselwirkung von System und Apparatur ist die Wellenfunktion des Gesamtsystems kein Produkt von zwei Wellenfunktionen, von denen die eine das System und die andere den Zustand des Apparates beschreiben könnte. Wäre dies der Fall, dann könnte man bei entsprechender Struktur der Wellenfunktion für den Apparat daraus den Meßwert bestimmen. Anstelle dessen haben wir eine Wellenfunktion, die die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, daß das Gesamtsystem in einem von zwei Zuständen gefunden wird.
Ein drastisches Beispiel für diese Situation ist Schrödingers Katze: In diesem Fall ist der Apparat ein Kasten, in dem sich eine Katze und eine tödliche Waffe befindet. Der Meßwert „1“ löse die Waffe nicht aus und mit der Katze geschähe nichts. Der Meßwert „2“ löse die Waffe aus und bedeute den Tod der Katze. Da das System so vorbereitet ist, daß es sich nicht in einen Eigenzustand der Observablen befindet, kann nach der Kopplung mit dem Kasten samt Inhalt (betrachtet als quantenmechanisches System) nur gesagt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Ereignis Wert „1“ und Katze lebendig und mit welcher Wahrscheinlichkeit das Ereignis Wert „2“ und Katze tot gemessen werden. Das ist aber nicht das, was man unter einer Messung versteht: Sie sollte ein eindeutiges Ergebnis haben.
Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik ist der Ausweg aus dieser Situation die Behauptung, daß der Meßprozeß als Wechselwirkung des quantenphysikalischen Systems mit einem (der klassischen Physik gehorchenden) Apparat keiner Beschreibung zugänglich ist. Als Ergebnis des Meßprozesses ist das System mit einer sogenannten reduzierten Wellenfunktion zu beschreiben, die eine Eigenfunktion zu einem Eigenwert (Meßwert) der Observablen ist.
Die Kritiker dieser Auffassung sagen dagegen, daß, wenn die Quantenmechanik den Anspruch erhebt, eine fundamentale Theorie zu sein, sie die Beschreibung des Apparats im Rahmen der Quantenmechanik zulassen muß.
Eine der diskutierten Möglichkeiten zur Lösung des Problems ist die „Many-World-Interpretation“ der Quantenmechanik. Nach dieser Interpretation teilt sich die Welt wirklich bei jeder Messung in eine Anzahl neuer Welten, die durch die Zahl der Summanden in der Wellenfunktion für das Gesamt-system gegeben ist. Für jede Welt liegt dann ein bestimmtes Meßergebnis vor, weil angenommen wird, daß die entstandenen Welten keine Informationen austauschen können, also nichts von einander wissen.
[1] Rae, R.: Quantum physics: Illusion or reality?. Cambridge University Press, 1988.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.