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Lexikon der Mathematik: Nevanlinna-Klasse

die Menge aller in \({\mathbb{E}}=\{z\in {\mathbb{C}}:|z|\lt 1\}\) holomorphen Funktionenf mit

\begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\mathop{\sup }\limits_{0\lt r\lt 1}\displaystyle \underset{0}{\overset{2\pi }{\int }}{\mathrm{log}}^{+}|f(r{e}^{it})|\,dt\lt \infty , & (1)\end{array}\end{eqnarray}

wobei log+x ≔ log x für x ≥ 1 und log+x ≔ 0 für 0 < x< 1. Sie wird mit N bezeichnet. Das Integral in (1) ist eine monoton wachsende Funktion von r. Man nennt Funktionen in N auch Funktionen von beschränkter Charakteristik. Die Klasse N wurde von Ostrowski und den Brüdern F. und R. Nevanlinna eingeführt.

Die Klasse N enthält jeden Hardy-RaumHp für 0 < p ≤ ∞. Andererseits existieren Funktionen in N, die in keinem Hardy-Raum liegen, wie z. B.

\begin{eqnarray}f(z)=\exp \frac{1+z}{1-z}.\end{eqnarray}

Die Funktion

\begin{eqnarray}f(z)=\exp {\left(\frac{1+z}{1-z}\right)}^{3}\end{eqnarray}

liegt nicht in N.

Der folgende Satz liefert eine Charakterisierung der Funktionen in N.

Eine in \({\mathbb{E}}\)holomorphe Funktion f gehört zur Klasse N genau dann, wenn beschränkte holomorphe Funktionen φ und ψ in \({\mathbb{E}}\)existieren mit

\begin{eqnarray}f(z)=\frac{\varphi (z)}{\psi (z)}\end{eqnarray}

für alle \(z\in {\mathbb{E}}\).

Eine wichtige Eigenschaft von Funktionen in N ist die Existenz radialer Randwerte.

Es sei fN. Dann existiert für fast alle t ∈ [0, 2π) der radiale Grenzwert

\begin{eqnarray}{f}^{* }({e}^{it}):=\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{r\to 1}f(r{e}^{it}).\end{eqnarray}

Ist f (z) ≢ 0, so ist \(\mathrm{log}|{f}^{* }|\in {L}^{1}({\mathbb{T}})\), wobei \({\mathbb{T}}=\partial {\mathbb{E}}\).

Die zu fN gehörige Funktion f* nennt man auch Randfunktion von f.

Als Folgerung erhält man: Ist fN, und existiert eine Menge E ⊂ [0, 2π) von positivem Lebesgue-Maß derart, daß f *(eit) = 0 für alle tE, so ist f(z) = 0 für alle \(z\in {\mathbb{E}}\).

Zur Konstruktion weiterer Beispiele von Funktionen in N sei zunächst

\begin{eqnarray}B(z)={z}^{m}\displaystyle \prod _{n}\frac{|{a}_{n}|}{{a}_{n}}\frac{{a}_{n}-z}{1-{\bar{a}}_{n}z}\end{eqnarray}

ein Blaschke-Produkt, wobei m ∈ ℕ0, 0 < |an| < 1 und

\begin{eqnarray}\displaystyle \sum _{n}(1-|{a}_{n}|)\lt \infty .\end{eqnarray}

Dabei kann die Menge der Zahlen an (die nicht notwendig paarweise verschieden sein müssen) auch endlich oder sogar leer sein. Im letzteren Fall ist B(z) = zm. Dann ist BH. Genauer gilt |B(z)| < 1 für \(z\in {\mathbb{E}}\) und B*(eit) = 1 für fast alle t ∈ [0, 2π). Eine Funktion f ü H mit | f (z)| < 1 fur \(z\in {\mathbb{E}}\) und f*(eit) = 1 für fast alle t ∈ [0, 2π) nennt man auch innere Funktion. Blaschke-Produkte sind also spezielle innere Funktionen.

Weitere innere Funktionen erhält man durch

\begin{eqnarray}\begin{array}{cc}S(z):=\exp\,\left(-\displaystyle \underset{0}{\overset{2\pi }{\int }}\frac{{e}^{it}+z}{{e}^{it}-z}d\mu (t)\right), & (2)\end{array}\end{eqnarray}

wobei μ: [0, 2π) → ℝ eine beschränkte, monoton wachsende Funktion ist, die μ′(t) = 0 für fast alle t ∈ [0, 2π) erfüllt. Das Integral ist als Riemann-Stieltjes-Integral zu verstehen. Ist z. B. μ(t) = 0 für t = 0 und μ(t) = 1 für 0 < t< 2π, so ergibt sich

\begin{eqnarray}S(z)=\exp\,\left(-\frac{1+z}{1-z}\right).\end{eqnarray}

Funktionen S der Gestalt (2) besitzen keine Nullstellen in \({\mathbb{E}}\), und man nennt sie auch singuläre innere Funktionen.

Eine äußere Funktion FN ist eine Funktion der Gestalt

\begin{eqnarray}F(z):={e}^{i\gamma }\quad\exp \,\left(\frac{1}{2\pi }\displaystyle \underset{0}{\overset{2\pi }{\int }}\frac{{e}^{it}+z}{{e}^{it}-z}\mathrm{log}\psi (t)dt\right).\end{eqnarray}

Dabei ist γ ∈ ℝ, und die Funktion ψ: [0, 2π) → [0, ∞) erfüllt die Bedingung logψL1 [0, 2π). Äußere Funktionen besitzen ebenfalls keine Nullstellen in \({\mathbb{E}}\).

Ist B ein Blaschke-Produkt, S eine singuläre innere Funktion und F eine äußere Funktion in N, so ist fBSFN. Genauer gilt folgender Faktorisierungssatz.

Es sei fN und f (z) ≢ 0. Dann gilt

\begin{eqnarray}\begin{array}{cc}f(z)=B(z)\frac{{S}_{1}(z)}{{S}_{2}(z)}F(z) & (3)\end{array}\end{eqnarray}

mit einem Blaschke-Produkt B, singulären inneren FunktionenS1, S2und einer äußeren Funktion FN mitψ(t) = |f *(eit)|.

Umgekehrt gehört jede Funktion der Form (3) zu N.

Dabei besitzt das Blaschke-Produkt B dieselben Nullstellen mit denselben Nullstellenordnungen wie f. Sind also a1, a2,… die Nullstellen von fN in \({\mathbb{E}}\) \{0} (wobei jede Nullstelle so oft aufgeführt wird, wie ihre Ordnung angibt), so gilt die Blaschke-Bedingung

\begin{eqnarray}\displaystyle \sum _{n=1}^{\infty }(1-|{a}_{n}|)\lt \infty .\end{eqnarray}

Die Klasse N+ ist definiert als die Menge derjenigen Funktionen fN derart, daß in der Faktorisierung (3) S2 (z) = 1 für alle \(z\in {\mathbb{E}}\) gilt. Es gelten die echten Inklusionen HpN+N für 0 < p ≤ ∞. In gewissem Sinne kann N+ als „Grenzwert“ der Hardy-Räume Hp für p → 0 aufgefaßt werden. Eine Charakterisierung der Klasse N+ wird durch folgenden Satz geliefert.

Eine Funktion fN gehört zu N+genau dann, wenn

\begin{eqnarray}\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{r\to 1}\displaystyle \underset{0}{\overset{2\pi }{\int }}{\mathrm{log}}^{+}|f(r{e}^{it})|dt=\displaystyle \underset{0}{\overset{2\pi }{\int }}{\mathrm{log}}^{+}|{f}^{* }({e}^{it})|dt.\end{eqnarray}

Schließlich erhält man als Folgerung aus dem Faktorisierungssatz:

Es sei fN+und \({f}^{* }\in {L}^{p}({\mathbb{T}})\)für ein 0 < p ≤ ∞. Dann ist fHP.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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