Lexikon der Mathematik: Physik
Der Name „Physik“ kommt vom griechischen Begriff „physis“, der das Wachsen bezeichnet. Mit „physis“ wird alles bezeichnet, was wächst und wird. Dieser Begriff umfaßt also das Weltall in seiner Gesamtheit. Eine äquivalente Bedeutung hat das lateinische Wort „natura“. Physik bedeutete also ursprünglich die Wissenschaft von der Natur überhaupt. Die erste Einschränkung des Begriffs „physis“ kam von der Sophistik und der sokratischen Philosophie. Hier wird dem „Natürlichen“ das vom Menschen „Vereinbarte“, Ethik, Moral, gegenübergestellt. Die Wissenschaft von der Natur, die Physik, enthält nicht mehr die Wissenschaft vom Menschen.
Diese Zersplitterung der Physik setzte sich in der Folgezeit fort. Ihr liegt vermutlich die Erkenntnis zugrunde, daß die Natur nicht als Ganzes unmittelbar erkannt werden kann. Diese Ansicht ist jedenfalls der Ausgangspunkt der modernen Naturwissenschaft, die sich im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert zu entwickeln begann. Von entscheidender Bedeutung ist von nun an das Experiment. Mit ihm befragt man die Natur im Hinblick auf eine im voraus entworfene Theorie. Dabei ist es klar, daß nur noch die Erkenntnis beschränkter Bereiche der Natur angestrebt wird, die dann Steinchen für ein erhofftes Verständnis der ganzen Natur ist.
Spricht man heute davon, daß die Naturwissenschaft Physik sei, setzt man sich dem Vorwurf des Physikalismus aus. Es wird argumentiert, daß in den verschiedenen Bereichen der Natur qualitativ unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten vorherrschen und die Reduktion der gesamten Naturwissenschaft auf Physik bedeuten würde, daß man diesen qualitativen Unterschied in den Gesetzmäßigkeiten verkennen würde. Anders gesagt: Es gibt Bewegungsformen der Materie, die sich qualitativ von der physikalischen Bewegungsform der Materie unterscheiden. Diese Argumentation wäre zweifellos richtig, wenn man wüßte, was physikalische Gesetzmäßigkeiten, was physikalische Bewegungsform der Materie sind. Hierfür müßte man eine klare Definition dessen haben, was Physik sein soll. Würde man zum Beispiel eine Realdefinition versuchen, so würde man sagen: Die Physik ist ein Teil der Naturwissenschaft. In dieser Definition wäre Naturwissenschaft der Gattungsbegriff. Was aber wäre der artbildende Unterschied? Ihn genau anzugeben, dürfte äußerst schwerfallen, denn die Grenze zu den anderen, von der Physik qualitativ verschiedenen Wissenschaften (deren Existenz man von diesem Standpunkt aus annehmen muß) ist fließend, wie die Bezeichnungen gewisser Grenzgebiete (Biophysik) zeigen.
Geht man allerdings vom heutigen Zustand der Naturwissenschaft aus, so grenzt sich das, was gemeinhin Physik genannt wird, recht deutlich von anderen Gebieten der Naturwissenschaft dadurch ab, daß in diese sogenannte Physik die Mathematik in weit stärkerem Maße eingedrungen ist als in andere Gebiete. Man könnte hier eine Chance für die Definition der Physik sehen, da die Möglichkeit der Mathematisierung eine Widerspiegelung einer eine bestimmte Bewegungsform der Materie charakterisierenden Eigenschaft sein könnte. Es wäre aber wohl eine metaphysische Betrachtungsweise – „metaphysisch“ in dem philosophischen Sinne verstanden, daß etwas verabsolutiert, aus dem eigentlichen Sachzusammenhang gerissen wird –, wenn man den heutigen Stand der Mathematisierung der Naturwissenschaft als Grenze nehmen und damit versuchen würde, den Gegenstand der Physik zu umreißen. Vor allem muß betont werden, daß man wohl kaum daran denkt, die Natur mit den heute bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten erfassen zu können. Der entgegengesetzte Standpunkt wäre Physikalismus. Vielmehr scheint man zu glauben, daß die physikalische Methode, die Methode der Physik, hinreicht, die wesentlichen Seiten der Natur zu erkennen. (Auf diese Methode kommen wir unten ausführlich zurück.)
Statt einer Definition geben wir hier einige Zitate an, die eine Vorstellung davon vermitteln sollen, was Physik vielleicht ist.
J.C. Maxwell schreibt: „According to the original meaning of the word, physical science would be that knowledge which is conservant with the order of nature – that is with the regular succession of events whether mechanical or vital – in so far as it has been reduced to a scientific form. The Greek word „physical“ would thus be the exact equivalent of the Latin word „natural“. In the actual development, however, of modern science and its terminology these two words have come to be restricted each to one of the two great branches into which the knowledge of nature is divided according to its subject-matter. Natural science is now understood to refer to the study of organised bodies and their development, while physical science investigates those phenomena primarily which are observed in things without life, though it does not give up its claim to persue this investigation when the same phenomena take place in the body of a living being.“
Bemerkenswert ist an diesem Zitat vor allem, daß die Möglichkeit einer Integration der Naturwissenschaft im oben verstandenen Sinne durch die Physik nicht ausgeschlossen wird.
Bei R. Carnap findet man: „Die Physik hat die Aufgabe, die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände begrifflich zu behandeln, d. h. die Wahrnehmungen systematisch zu ordnen und aus vorliegenden Wahrnehmungen Schlüsse auf zu erwartende Wahrnehmungen zu ziehen. Auch die anderen Realwissenschaften (ob alle, bleibe dahingestellt) beziehen sich letztlich auf die Wahrnehmungen. Die Physik ist dadurch ausgezeichnet, daß sie die allgemeinsten Eigenschaften des Wahrnehmbaren untersucht, während die anderen Wissenschaften eine Sonderauswahl treffen, indem sie sich etwa nur auf die Vorgänge in Organismen oder nur auf die Zusammenhänge des Menschenlebens beziehen.“
A. Einstein sagt: „Auf der Bühne unseres seelischen Erlebens erscheinen in bunter Folge Sinneserlebnisse, Erinnerungsbilder an solche, Vorstellungen, Gefühle. Im Gegensatz zur Psychologie beschäftigt sich die Physik (unmittelbar) mit den Sinneserlebnissen und dem „Begreifen“ des Zusammenhangs zwischen ihnen.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Wenn hier von „Begreiflichkeit“ die Rede ist, so ist dieser Ausdruck hier zunächst in seiner bescheidensten Bedeutung gemeint. Er bedeutet: Durch Schaffung allgemeiner Begriffe und Beziehungen zwischen diesen Begriffen, sowie durch irgendwie festgelegte Beziehungen zwischen Begriffen und Sinneserlebnissen zwischen letzteren irgendeine Ordnung herstellen.“
Schließlich zitieren wir E. Wigner: „What our science is after is, rather, an exploration of regularities which occur between phenomena, and an incorporation of these regularities – the laws of nature – into increasingly general principles and more encompassing points of view.…our science is rather a constant striving for more encompassing points of view than the provider of an explanation for one or another phenomena.“
Damit ist schon einiges zur Methode der Physik gesagt. Sie soll Gegenstand des folgenden Abschnittes sein.
Methode der Physik: (Der folgende Text lehnt sich stark an A. Einstein und die Darstellung von W. Heisenberg an.)
Das wissenschaftliche Denken ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltages. Der Wissenschaftler braucht die Sprache, die sich mit der Entwicklung des Menschen herausgebildet hat. Er muß sich aber immer bewußt sein, daß, wie v. Weizäcker betont hat, „die Natur früher ist als der Mensch, aber der Mensch früher als die Naturwissenschaft.“ Insbesondere muß er sich also über die Bildung der Begriffe der Umgangssprache im klaren sein. Sie entstehen unter anderen Bedingungen als er sie unter Umständen später anwendet. Dann ergibt sich sofort die Frage, ob unter anderen Umständen bestimmte Begriffe noch sinnvoll sind. Daß eine solche Situation überhaupt entstehen kann, liegt daran, daß wir den Dingen und Erscheinungen, die wir mit den Begriffen meinen, eine Existenz zuschreiben, die unabhängig von den durch sie ausgelösten Empfindungen ist: Gewissen, sich unter bestimmten Bedingungen wiederholenden Komplexen von Sinnesempfindungen wird ein Begriff zugeordnet. Mit der Zeit beginnt der Mensch, mit diesem Begriff zu operieren, ohne daß dieser Komplex von Sinnesempfindungen vorhanden ist. Der Mensch glaubt, daß sich hinter diesem Komplex von Empfindungen eine Erscheinung, ein Ding, verbirgt, das auch existiert, wenn er selbst nicht diesen Empfindungskomplex „spürt“. Durch das Arbeiten mit Begriffen konstruiert er dann in seiner Vorstellung neue Empfindungskomplexe, und es entsteht die Frage, ob es sie wirklich unabhängig von seiner Vorstellung gibt.
Manchmal ist der Physiker auf diesem Weg zu weit gegangen, und die großen physikalischen Entdeckungen sind dadurch gemacht worden, daß man sich darüber klar wurde, daß die gedanklich konstruierten Empfindungskomplexe in der Realität überhaupt nicht auftreten. Anders ausgedrückt: Man sieht den Begriffen nicht ihren „Definitionsbereich“ an. Begriffe sind im allgemeinen nicht scharf definiert. Sie haben einen beschränkten Anwendungsbereich. Daß man ihn überschreitet, merkt man nur bei der Konfrontation des Denkens mit der Realität. Der Prozeß der Begriffsbildung macht uns klar, warum wir den Anwendungsbereich eines Begriffs gar nicht genau kennen können. Es handelt sich hier um einen – im Sinne der Dialektik – revolutionären Prozeß, also um einen Prozeß mit einem qualitativem Sprung.
Einstein schreibt: „Gewisse sich wiederholende Komplexe von Sinnesempfindungen (zum Teil zusammen mit Sinnesempfindungen, die als Zeichen für Sinneserlebnisse der Mitmenschen gedeutet werden) werden gedanklich aus der Fülle des Sinneserlebens willkürlich herausgehoben, und es wird ihnen ein Begriff zugeordnet …. Logisch betrachtet ist dieser Begriff nicht identisch mit der Gesamtheit jener Sinnesempfindungen, sondern er ist eine freie Schöpfung des menschlichen (oder tierischen) Geistes. Dieser Begriff verdankt aber andererseits seine Bedeutung und Berechtigung ausschließlich der Gesamtheit jener Sinnesempfindungen, denen er zugeordnet ist.“
Die Wendung „freie Schöpfung des menschlichen…Geistes“ könnte vielleicht befremden. Sie ist aber nur ein anderer Ausdruck dafür, daß an dieser Stelle ein qualitativer Sprung vorliegt. In den Begriff geht mehr ein als eine Menge von Quantitäten von Sinnesempfindungen. Er ist eine „gedankliche Widerspiegelung einer Klasse von Individuen oder von Klassen auf der Grundlage ihrer invarianten Merkmale, d. h. Eigenschaften und Beziehungen“. Und sie sind rein quantitativ, durch Emperie nicht zu erfassen. Da wir immer nur relative Wahrheiten erkennen, ist es uns auch nicht möglich, die oben erwähnten invarianten Merkmale sofort vollständig zu erfassen. Wir müssen erst durch den praktischen Gebrauch den Begriff begreifen, d. h. in diesem Fall u. a. seinen Anwendungsbereich abstecken.
Ist durch irgendwelche Erfahrungen, z. B. physikalische Experimente, die Bildung eines Systems von Begriffen induziert worden, dann setzt die eigentliche physikalische Methode ein. Sie besteht darin, den Begriffen bestimmte mathematische Objekte zuzuordnen. Den Verknüpfungen der Begriffe entspricht dann eine Verknüpfung der entsprechenden mathematischen Symbole, z. B. ein System gewisser mathematischer Gleichungen. Auf diese Weise werden mathematische Theorien zu Aussagen über die objektive Realität, und erst jetzt hat es einen Sinn, davon zu sprechen, ob sie richtig oder falsch sind. Steht eine Konsequenz einer Theorie im Widerspruch zur Realität, ist es klar, daß den einzelnen Begriffen falsche mathematische Objekte zugeordnet wurden oder eine falsche mathematische Verknüpfung gewählt wurde. Beispielsweise wird in der Newtonschen Gravitationstheorie dem Begriff „Gravitationspotential“ eine skalare Größe zugeordnet. Bekanntlich war es im Rahmen der Newtonschen Gravitationstheorie nicht möglich, die Periheldrehung des Merkurs zu erklären. Außerdem erschien die Äquivalenz von passiver schwerer Masse und träger Masse als reiner Zufall. Dies alles führte Einstein dazu, dem Gravitationspotential einen kovarianten Tensor zweiter Stufe zuzuordnen, der der metrische Fundamentaltensor eines (Pseudo-)Riemannschen Raumes ist.
In neuerer Zeit ist diskutiert worden, ob vielleicht das Gravitationsfeld der Sonne einen Einfluß auf das Gravitationsfeld der Erde hat. Würde dieser Effekt existieren, wäre vermutlich erwiesen, daß das Gravitationspotential nicht allein durch den metrischen Fundamentaltensor eines Riemannschen Raumes beschrieben werden kann. Eine Möglichkeit, diesen Effekt aus einer Theorie zu folgern, besteht darin, dem Gravitationspotential vier orthogonale Vektorfelder zuzuordnen, die dann durch ein System von Gleichungen festgelegt werden.
Als Beispiel dafür, daß auch die Verknüpfung mathematischer Objekte falsch sein kann, erinnern wir daran, daß viele physikalische Theorien, d. h., ihre Grundgleichungen, aus einem Variationsprinzip ableitbar sind. Die zu diesem Variationsprinzip gehörende Lagrange-Funktion ist aber im allgemeinen nicht eindeutig festgelegt; dann hat man die Möglichkeit, eine andere Lagrange-Funktion zu wählen, die zu anderen Grundgleichungen führt, wenn die sich aus der ersten Lagrange-Funktion ergebenden Konsequenzen nicht mit der Realität übereinstimmen.
Dadurch, daß den Begriffen mathematische Objekte und den Beziehungen zwischen den Begriffen Beziehungen zwischen den mathematischen Objekten zugeordnet werden, wird vermieden, daß innerhalb der Theorie Widersprüche auftreten.
Es scheint, daß es mathematische Objekte ganz verschiedener Qualität gibt, die wir den Begriffen zuordnen können (wenngleich es schwer ist, den qualitativen Unterschied zu fassen). Beispielsweise stehen uns Skalare, Vektoren oder allgemein Tensoren bestimmter Stufen, Spinoren, Operatoren im Hilbert-Raum, Erzeugende von Gruppen u. a. zur Verfügung.
Für die einzelnen Bewegungsformen der Materie sind nun bestimmte Gesetzmäßigkeiten spezifisch. Sie werden mit den Begriffen, die für die einzelnen Bewegungsformen von ganz unterschiedlicher Qualität sind, formuliert. Da uns aber eine Fülle von mathematischen Objekten für die Zuordnung zu den Begriffen zur Verfügung steht, ist es auch klar, daß die physikalische Methode in der oben beschriebenen Weise in die Erforschung von Bewegungsformen der Materie eindringen wird, die von unterschiedlichster Qualität sein werden (unterschiedlich in dem Sinne wie mathematische Objekte qualitativ unterschiedlich sind). Sieht man in der Anwendbarkeit einer Methode eine Widerspiegelung bestimmter Eigenschaften der Materie, dann könnte man folgende Definition der Physik versuchen:
Die Physik ist die Wissenschaft von Erscheinungen und ihren Zusammenhängen, die man mit der physikalischen Methode begreifen kann.
Nach Heisenberg spiegelt sich unsere wachsende Kenntnis von der Natur in der Entwicklung bestimmter „geschlossener“ Begriffssysteme wider. Im Anfangsstadium eines sich entwickelnden Gebietes der Physik wird mit einer großen Zahl von Begriffen operiert, die mit Komplexen von Empfindungen mehr oder weniger unmittelbar gekoppelt sind. Einstein nennt sie primäre Begriffe. Wird der betreffende Bereich überschaubarer, bildet sich ein sekundäres Begriffssystem heraus. Diese sekundären Begriffe hängen nicht mehr unmittelbar mit Komplexen von Empfindungen zusammen – nur noch mittelbar über die primären Begriffe. Die sekundären Begriffe werden durch die primären definiert und ähnlich wie diese durch Sätze gekoppelt. Wegen ihrer mittelbaren Verbindung zu den Empfindungskomplexen sind diese Sätze Aussagen über die Realität, und sie können zutreffen oder falsch sein. Entsprechend entwickeln sich tertiäre und weitere Begriffssysteme, die die Eigenschaften haben, daß ihre Verbindung zu den Sinneskomplexen immer mittelbarer wird, nichtsdestoweniger aber trotzdem besteht. Formuliert man auf einer hohen Schicht der Begriffssysteme einen Satz, der einzelne Begriffe dieser Schicht verbindet, dann ist das mittelbar eine Aussage über die Realität. Oft aber ist es schwer, den Weg von diesem Satz zu den Sinneskomplexen zurückzulegen, um zu sehen, was er wirklich über die Realität aussagt. Man ist nun bestrebt, aus einer bestimmten Zahl von Begriffen einer bestimmten Schicht und mit diesen Begriffen formulierten Sätzen (Axiomen) die Sätze der tieferen Schichten (insbesondere der primären Schicht) zu deduzieren, sowohl die bekannten, wie auch die noch möglicherweise unbekannten.
Das erste Begriffssystem, das sich in der Physik entwickelte, ist das der Newtonschen Mechanik im weitesten Sinn. Darunter wollen wir auch die Kopplung der eigentlichen Newtonschen Mechanik mit der Wahrscheinlichkeitstheorie, die eine Behandlung der Wärmephänomene möglich machte, und auch ihre Anwendung auf elektrische und magnetische Erscheinungen verstehen, wo das möglich ist. Die durch die Newtonsche Mechanik gegebene Verknüpfung von Begriffen ist so eng, daß man nirgends eine kleine Änderung in dieser Verknüpfung vornehmen kann, ohne das gesamte Begriffsgebäude zu zerstören. Diese Eigenschaft des Newtonschen Begriffssystems ist nach Heisenberg dafür verantwortlich zu machen, daß das Newtonsche System lange Zeit als endgültig betrachtet worden ist und man glaubte, diese Newtonsche Mechanik nur auf immer weitere Erfahrungsbereiche anwenden zu brauchen.
In der Herausbildung solcher geschlossener Begriffssysteme können wir eine Widerspiegelung des Gesetzes der Dialektik vom Umschlag der Quantität in Qualität, jetzt als Strukturgesetz betrachtet, sehen. Für die einzelnen Bewegungsformen der Materie sind bestimmte Gesetzmäßigkeiten charakteristisch. Für verschiedene Bewegungsformen besteht zwischen den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten ein qualitativer Unterschied. Man kann diesen qualitativen Unterschied nicht dadurch erfassen, daß man bestimmte Begriffsverknüpfungen, die für den einen Bereich von Gesetzmäßigkeiten charakteristisch sind, „ein wenig“ abändert. Für die andere Bewegungsform der Materie, d. h. für die Widerspiegelung ihrer Gesetzmäßigkeiten, braucht man ein anderes, vom ersten qualitativ verschiedenes, geschlossenes Begriffssystem.
Die einzelnen geschlossenen Systeme können in ein anderes geschlossenes System übergehen, wenn man mit bestimmten Parametern des einen geschlossenen Systems gegen den Wert Null geht. Genauer muß man hier sagen, daß sich bei diesem Grenzübergang die beobachtbaren Konsequenzen des einen Systems auf die des anderen reduzieren. Dennoch bleibt der „qualitative“ Unterschied zwischen beiden Systemen bestehen. Beispielsweise wird das Gravitationspotential der Einsteinschen Theorie auch dann noch durch ein kovariantes Tensorfeld zweiter Stufe beschrieben, wenn der Kehrwert der Vakuumlichtgeschwindigkeit gegen Null geht und Geschwindigkeiten der Teilchen, die eine von Null verschiedene Ruhmasse haben, gegen die Lichtgeschwindigkeit vernachlässigbar sind, auch wenn die beobachtbaren Aussagen dann mit denen der Newtonschen Theorie zusammenfallen. Diese Beziehung zwischen einzelnen geschlossenen Systemen zeigt an, in welchen Grenzen die Begriffe des einen geschlossenen Systems eine richtige Widerspiegelung der Realität liefern.
Heisenberg gibt vier geschlossene Systeme an, die bis heute ihre endgültige Form angenommen haben. Nach der Newtonschen Mechanik sind das die Thermodynamik, die Elektrodynamik und die Quantentheorie.
Die Zentralbegriffe der Thermodynamik sind Entropie und Energie. Da aber auch jedes andere der angegebenen geschlossenen Systeme den Energiebegriff enthält, kann man die Thermodynamik mit jedem anderen geschlossenen System verbinden. Für die aufgeführten geschlossenen Systeme ist es charakteristisch, daß Begriffe wie Energie, Impuls, Drehimpuls sinnvoll sind, und daß diese Größen für abgeschlossene physikalische Systeme erhalten bleiben. Das liegt daran, daß diese geschlossenen Systeme eine ebene Raum-Zeit zugrunde legen, die die entsprechenden Symmetrieeigenschaften hat.
Unter dem dritten geschlossenen System, das wir kurz Elektrodynamik genannt haben, fassen wir außer der eigentlichen Elektrodynamik die spezielle Relativitätstheorie, Optik, Magnetismus und die de Broglische Theorie der Materiewellen nach Heisenberg zusammen.
Für das vierte geschlossene System, die Quantentheorie, ist die Wahrscheinlichkeitsfunktion der zentrale Begriff. Dieses System umfaßt Quanten- und Wellenmechanik, die Theorie der Atomspektren, die Chemie und die Theorie anderer Eigenschaften der Materie, wie z. B. Leitfähigkeit, Ferromagnetismus usw.
Zwischen diesen vier geschlossenen Systemen bestehen folgende Beziehungen: Das erste ist im dritten als Grenzfall enthalten, wenn die Lichtgeschwindigkeit als unendlich groß betrachtet werden kann. Es ist im vierten geschlossenen System als der Grenzfall enthalten, in dem das Plancksche Wirkungsquantum als unendlich klein gelten kann. Das Enthaltensein ist im Sinne obigen Einschubs zu verstehen.
Das erste und dritte gehören zum vierten geschlossenen System als Grundlage für die Beschreibung der Experimente. Diese Betrachtungsweise legt natürlich die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik zugrunde. Das zweite kann mit jedem geschlossenen System verbunden werden. Die unabhängige Existenz des dritten und vierten legt die Existenz eines fünften geschlossenen Systems nahe, in dem das erste, dritte und vierte als Grenzfälle enthalten sind. Dieses fünfte System sollte sich nach Heisenberg im Zusammenhang mit der Theorie der Elementarteilchen entwickeln.
1958 wird von Heisenberg die allgemeine Relativitätstheorie noch nicht als geschlossenes System aufgeführt, da sie nach seiner Meinung noch nicht ihre endgültige Form gefunden hat. Heute ist die Situation kaum anders. Ein wichtiger Grund dafür scheint zu sein, daß eigentlich nicht geklärt ist, welche Phänomene durch die Einsteinschen Gleichungen beschrieben werden sollen. Das hängt damit zusammen, daß diese Gleichungen wesentlich nichtlinear sind, und nicht zu erwarten ist, daß sie in der Struktur unverändert bleiben, wenn man über Materieverteilungen gemittelte Gravitationsfelder im Auge hat. Von einem geschlossenen System von Begriffen erwartet man jedoch, daß die Begriffe nur zusammen mit den Gleichungen, die sie verknüpfen, Sinn machen.
Sicher ist, daß sich das mit der allgemeinen Relativitätstheorie verbundene geschlossene System grundlegend von den anderen unterscheiden wird. Das liegt schon allein daran, daß die Raum-Zeit für dieses System nicht mehr eben ist. Damit fehlen dann im allgemeinen die Symmetrieeigenschaften, die zu den Erhaltungssätzen von Energie, Impuls, Schwerpunkt und Drehimpuls führen.
Literatur
[1] Carnap, R.: Physikalische Begriffsbildung. G. Braun Karsruhe, 1926.
[2] Einstein, A.: in: Journal of the Franklin Institute. 221, 1936.
[3] Heisenberg, W.: Physik und Philosopie. Verlag Ullstein Frankfurt/M.–Berlin, 1959.
[4] Maxwell, J. C.: in: Encyclopedia Britanica, 9. Ausgabe. Black Edingurgh, 1885.
[5] Wigner, E.: in: Foundations of Physics. Bd. 1, S. 35, 1979.
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