Lexikon der Mathematik: Polynome
M. Schlichenmaier
Polynome in einer Variablen X über einem kommutativen Ring R (mit Eins) sind formale Summen f (auch mit f (X) bezeichnet) der Form
Der Begriff formale Summe kann in der folgenden Weise präzisiert werden. Ein Polynom f wird als finite Abbildung
Alle folgenden Konstruktionen in den formalen Summen können mit Hilfe der entsprechenden Konstruktionen für die finiten Abbildungen präzisiert werden (was hier nicht ausgeführt werden soll). Im Lichte dieser Präzisierung wird vereinbart, daß die nicht geschriebenen Terme in der formalen Summe (1) bei Bedarf durch 0 · Xi ersetzt werden können, und daß weiterhin Terme dieser Art weggelassen werden können. Desweiteren kommt es nicht auf die Reihenfolge an, in der die Potenzen Xi geschrieben werden. Statt a0X0 in (1) schreibt man meist nur a0.
Die Menge der Polynome mit Koeffizienten aus R wird mit R[X] bezeichnet. Von spezieller Bedeutung sind die Fälle, in denen die Koeffizienten ganze Zahlen (R = ℤ) bzw. Elemente von Körpern (z. B. ℚ, ℝ oder ℂ) sind. In diesem Fall spricht man auch von ganzzahligen, rationalen, reellen, bzw. komplexen Polynomen.
Die Menge der Polynome R[X] ist eine Algebra über R, d. h. sie besitzt eine Addition, eine Multiplikation mit dem Skalarenbereich R und eine Multiplikation, die gewisse Kompatibilitätsbedingungen untereinander erfüllen. Die Verknüpfungen sind wie folgt definiert. Seien \(f(X)=\displaystyle {\sum }_{i=0}^{n}{a}_{i}{X}^{i}\) und \(g(X)=\displaystyle {\sum }_{i=0}^{m}{b}_{i}{X}^{i}\) zwei Polynome und r ∈ R ein Ringelement, dann gilt
Sei f ein Polynom wie in (1) gegeben mit an ≠ 0, dann ist der Grad des Polynoms f, deg f, als n definiert. Das Element an ≠ 0 heißt höchster Koeffizient oder Leitkoeffizient des Polynoms. Dem Nullpolynom ordnet man den Grad −∞ zu. Die weiteren konstanten Polynome sind genau die Polynome vom Grad Null. Es gilt
Im folgenden sei R immer als nullteilerfreier Ring oder sogar als Körper vorausgesetzt. Ist f ein Polynom vom Grad deg f ≥ 1, und ist α ∈ R gegeben mit \(\hat{f}(\alpha )=0\), so heißt α eine Nullstelle des Polynoms f. Ist α eine Nullstelle des Polynoms f, so kann f als Produkt
- r ≡ 0 (d. h., r ist das Nullpolynom), oder
- deg r< deg g
Das Polynom q(X) heißt Quotient, r(X) heißt Rest. Ein Polynom \(f(X)=\displaystyle {\sum }_{i=0}^{n}{a}_{i}{X}^{i}\) heißt durch \(g(X)=\displaystyle {\sum }_{i=0}^{m}{b}_{i}{X}^{i}\) teilbar, wenn der Rest verschwindet. Der Quotient heißt in diesem Fall ein Teiler des Polynoms. Die Koeffizienten des Quotienten \(q(X)=\displaystyle {\sum }_{j=0}^{k}{c}_{j}{X}^{j}\) können rekursiv durch Koeffizientenvergleich gewonnen werden. Sei
Sind f und g zwei Polynome über einem Körper 𝕂, so existiert der größte gemeinsame Teiler ggT( f, g) bezüglich des Grads. Er ist ein Polynom und kann mit Hilfe des Euklidischen Algorithmus’ bestimmt werden. Hierzu wird sukzessive Division mit Rest durchgeführt. Es ist
Ein Polynom, das man nicht als Produkt von Polynomen vom Grad ≥ 1 schreiben kann, heißt irreduzibles Polynom oder auch Primpolynom. Im Polynomring über einem Körper kann man jedes Polynom als Produkt von irreduziblen Polynomen schreiben. Die Faktoren sind bis auf die Reihenfolge und die Multiplikation mit Skalaren eindeutig bestimmt. Sie heißen die Primfaktoren der Polynome. Über algebraisch abgeschlossenen Körpern (z. B. ℂ) sind die einzigen Primpolynome die linearen Polynome (X − α), α ∈ 𝕂, bzw. deren skalare Vielfache.
Ein „einfacher“ Algorithmus zur Bestimmung der Nullstellen eines Polynoms über einem Körper ausgehend von den (beliebigen) Koeffizienten des Polynoms existiert nur für Polynome des Grads 1, 2, 3 oder 4; siehe hierzu quadratische Gleichung, Cardanische Lösungsformeln, casus irreducibilis, und kubische Resolvente. Der Satz von Abel (Abel, Satz von) besagt nämlich, daß für Polynome vom Grad ≥ 5 kein Algorithmus zur Null-stellenbestimmung existiert, der durch Addition, Multiplikation und sukzessives Wurzelziehen ausgehend von den Koeffizienten ausgeführt werden kann. Der Beweis verwendet die Galois-Theorie.
Polynome in mehreren Variablen werden in analoger Weise definiert. Polynome in n Variablen X1, X2, …, Xn über einem Ring R sind formale Summen der Form
Der homogene Anteil fl(X) vom Grad l eines Polynoms (4) ist definiert als
Polynomringe haben wichtige algebraische Eigenschaften. So sind etwa Polynomringe in n Variablen über einem Körper Noethersche Ringe. Allgemeiner gilt: Polynomringe über einem Noetherschen Ring sind selbst wieder Noethersch (Hilbertscher Basissatz). Polynomringe über ℤ sind also auch Noethersch.
Gegeben sei ein Polynom (4) über einem Körper 𝕂. Ist α = (α1, …, αn) ∈ 𝕂n ein Punkt des n-dimensionalen affinen Raums, dann ist
Das Studium von Nullstellen von einen oder mehreren Polynomen in mehreren Variablen taucht typischerweise bei geometrischen Fragestellungen auf. Die Menge gemeinsamer Nullstellen einer Menge von Polynomen ist eine (nicht notwendig irreduzible) Varietät. Varietäten werden in der algebraischen Geometrie untersucht (algebraische Menge). Wichtige geometrische Objekte können als Nullstellengebilde von Polynomen gegeben werden. So ist die Sphäre S2 im ℝ3 die Nullstellenmenge des Polynoms
Weitere Verallgemeinerungen sind möglich:
(a) Polynome in unendlich vielen Variablen werden als direkter Limes durch sukzessives „Hinzufügen“ von Variablen Xi, i = 1, 2, … zum Polynomring in i − 1 Variablen erhalten. Ein Polynom in unendlich vielen Variablen kann als endliche Summe von Monomen gegeben werden, wobei in jedem Monom nur endlich viele der Variablen vorkommen. Insbesondere hängt jedes Polynom nur von endlich vielen Variablen ab.
(b) Läßt man die Endlichkeitsbedingung in den Polynomen für eine Variable fallen, so erhält man alle Abbildungen ℕ0 → R. Dies kann in formaler Weise auch als
(c) Beim Polynomring in n Variablen kommt es laut Definition nicht auf die Reihenfolge der Variablen an. So bestimmen sowohl X1X2 als auch X2X1 dasselbe Monom. Im nichtkommutativen Polynomring sind beide Monome verschieden. Nichtkommutative Monome in n Variablen erzeugt man durch sukzessives Hinzumultiplizieren von Variablen Xi, i = 1, …, n, an ein neutrales Startelement e. Vertauschungen sind nicht erlaubt. Der Vektorraum über den derart erzeugten nichtkommutativen Monomen ist die nichtkommutative Polynomalgebra. Die Ringmultiplikation ist auf der Ebene der Monome einfach das Verketten der Monome. Durch die Faktorisierung nach zweiseitigen Idealen erhält man Algebren, in denen noch zusätzliche Vertauschungseigenschaften gelten. Solche Algebren sind von Bedeutung in der nichtkommutativen Geometrie. Die komplexe Quantenebene 𝔸q(2) zum Parameter q ∈ ℂ erhält man ausgehend vom nichtkommutativen Polynomring über ℂ in den Variablen X und Y durch Faktorisierung nach dem zweiseitigen Ideal
Im analytischen Kontext nennt man Polynome auch ganzrationale Funktionen; man vergleiche dort für weitere Informationen.
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