Lexikon der Mathematik: Riemann, Georg Friedrich Bernhard
deutscher Mathematiker, geb. 17.9.1826 Breselenz b. Danneberg (Deutschland), gest. 20.7.1866 Selasca (Italien).
Riemann war das zweite von sechs Kindern des protestantischen Pfarrers F.B.Riemann und dessen Frau Charlotte, der Tochter eines Hannoveranischen Hofrates. Nach dem ersten Unterricht durch den Vater besuchte Riemann die Gymnasien in Hannover (1840/42) und Lüneburg (1842/46), und studierte ab 1846 in Göttingen sowie zwischenzeitlich (1847 bis 1849) in Berlin, u. a. bei J. Steiner, C.G.J. Jacobi und P.G.L. Dirichlet. 1851 promovierte er bei C.F. Gauß, habilitierte sich drei Jahre später ebenfalls in Göttingen, und wurde 1859 Nachfolger von Dirichlet auf dem Gaußschen Lehrstuhl, nachdem er 1857 eine außerordentliche Professur erhalten hatte. Ab 1862 verbrachte er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes infolge einer Lungenkrankheit die meiste Zeit in Italien.
Riemann hat mit seinem Schaffen die weitere Entwicklung der Mathematik maßgeblich geprägt und einen grundlegenden Wandel eingeleitet. Beeinflußt von der Philosophie Herbarts schuf er seine Vorstellungen vom begrifflichen Denken und bemühte sich, diese Neuerung in Mathematik und Physik fruchtbar werden zu lassen. Schon in seiner Dissertation „Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Funktionen einer veränderlichen complexen Größe“ ging er vom Begriff der Funktion als Abbildung aus, schuf mit der „Riemannschen Fläche“ ein Mittel, um die Mehrdeutigkeit, insbesondere die Verzweigungspunkte, dieser Funktionen behandeln zu können, und eröffnete damit den Weg für topologische Betrachtungsweisen in der Analysis. Er gründete die Theorie auf den Begriff der Ableitung, leitete die später als Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen bekannten Gleichungen ab, und stellte auf dieser Basis die Verbindung zur Potentialtheorie und zur Theorie partieller Differentialgleichungen her. Dabei hob er auch eine auf Dirichlet zurückgehende Schlußweise, von ihm 1857 als Dirichletsches Prinzip bezeichnet, hervor, die er sehr fruchtbringend angewandt hatte, zuerst im Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes.
Ein Glanzstück beim Rückgriff auf topologische Betrachtungen und auf das Dirichletsche Prinzip war 1857 der Satz von Riemann-Roch, den G. Roch 1864, die Riemannschen Darlegungen vervollständigend, publizierte. In dieser Arbeit von 1857 über abelsche Funktionen löste Riemann u. a. das Jacobische Umkehrproblem für algebraische Funktionen. Zuvor hatte er in seiner Habilitationsschrift „Über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe“ weitere neue Begriffe in die reelle Analysis eingeführt und u. a. den Integralbegriff neu definiert. Mit der Angabe von Beispielen bzw. Gegenbeispielen verdeutlichte er bei seiner genauen Analyse der Darstellbarkeit ganz im Sinne der sich herausbildenden neuen Auffassungen von mathematischer Strenge die Reichweite einzelner Begriffe und wies damit dem Studium von Einzelfällen einen neuen Stellenwert zu.
Anläßlich seiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie verfaßte Riemann 1859 seine einzige Arbeit zur Zahlentheorie. Im Anschluß an Euler und angeregt durch Gauß und Dirichlet untersuchte er die Häufigkeit von Primzahlen und eröffnete dabei eine überraschende Verbindung von Zahlentheorie und Theorie komplexer Funktionen. Er definierte die ζ-Funktion ζ(s) für die komplexe Veränderliche s = σ + it, σ > 1, durch
Als außerordentlich einflußreich erwies sich Riemanns erst 1868 posthum publizierter Habilitationsvortrag „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“. Riemann entwickelte darin eine neue Raumauffassung und definierte den Raum in Sinne eines topologischen Raumes in n Dimensionen, dessen Metrik durch eine positiv definite quadratische Form bestimmt wird. Zugleich wies er darauf hin, daß auch noch allgemeinere Maßbestimmungen möglich sind. Er wandte sich dann dem Studium der Krümmung (Schnittkrümmung) zu, formte grundlegende Ideen der modernen Differentialgeometrie und gab das Bogenelement in Räumen mit konstanter Krümmung an. Damit hatte er ein neues Prinzip zur Unterscheidung der einzelnen Geometrien erhalten, insbesondere von euklidischen und nichteuklidischen. Die nichteuklidischen Geometrien von Bolyai und Lobatschewski erwähnte er, wohl aus Unkenntnis, nicht.
Die neue Raumauffassung einschließlich ihrer philosophischen Aspekte wurde sehr bald von Helmholtz, Lie, und anderen aufgegriffen, und führte zu einer umfassenden Diskussion des Raumproblems. Gleichzeitig wurden die Riemannschen Ideen algorithmisch durchgebildet und erfuhren dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts als mathematische Grundlage der Einsteinschen Relativitätstheorie eine erste umfassende Anwendung. Riemanns Vorstellungen, mit seinem Raumbegriff ein hinreichend flexibles Mittel zu Behandlung der vielfältigen physikalischen Probleme geschaffen zu haben, wurde eindrucksvoll bestätigt.
Teilweise angeregt durch seinen Freund und Kollegen W. Weber hat sich Riemann mehrfach mit physikalischen Problemen beschäftigt und besonders um die Ausarbeitung der mathematischen Methoden bemüht. Seine von K.Hattendorf (1834–1882) herausgegebenen Vorlesungen „Partielle Differentialgleichungen und deren Anwendung auf physikalische Fragen“ sind ein Standardwerk der klassischen mathematischen Physik. Entgegen der vorherrschenden Meinung vertrat er eine Nahwirkungstheorie. Er förderte feldtheoretische Ansätze und versuchte, einen Zusammenhang zwischen Licht, Elektrizität, Magnetismus und Gravitation zu finden. Von den Einzelergebnissen sei die Arbeit über Schallwellen endlicher Schwingungsweite (1860) erwähnt, in der er eine neue Integrationsmethode zur Lösung hyperbolischer Differentialgleichungen vorstellte und eine Theorie der Stoßwellen formulierte, deren Auftreten er erstmals erklären konnte.
Riemann hat sich ebenfalls eingehend mit philosophischen Fragen beschäftigt. Die Ausarbeitung seiner allgemeinen Ideen blieb jedoch auf einige Ansätze beschränkt, sie wurden aber in mehreren seiner Arbeiten spürbar.
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