Lexikon der Mathematik: Schnitt-Theorie
H. Kurke
Die Schnitt-Theorie (engl. intersection theory) ist zentraler Bestandteil der algebraischen Geometrie seit ihren Ursprüngen (z. B. Bezouts Theorem über den Durchschnitt ebener Kurven, 1720 durch MacLaurin formuliert, um 1760 durch Bezout und durch Euler bewiesen). Hilberts 15. Problem (1900) ist diesem Thema gewidmet und fordert eine rigorose Begründung von Schuberts abzählendem Kalkül (H. Schubert, Kalkül der abzählenden Geometrie, Leipzig 1879). Nach langen und z. T. kontroversen Diskussionen über eine geeignete lokale Definition für die Vielfachheit einer irreduziblen Komponente des Durchschnittes von zwei UnterVarietäten in einer Varietät X war um 1960 für quasiprojektive Varietäten eine befriedigende algebraische Theorie etabliert (A. Weil, P. Samuel, M. Nagata, W.L Chow, J.P. Serre und andere). Es wird für jede solche Varietät ein Schnittring für Äquivalenzklassen algebraischer Zyklen in zwei Schritten konstruiert:
(1) Für algebraische Zyklen
(2) (Moving Lemma). Es wird gezeigt, daß für je zwei rationale Äquivalenzklassen (algebraische Zyklen) α, α′ Vertreter z ∈ α, z′ ∈ α′ existieren, die sich eigentlich schneiden, und daß [z · z′] nur von den Klassen α, α′ abhängt, so daß deren Produkt durch α · α′ = [z · z′] definiert wird (oft auch als α ∪ α′ bezeichnet, in Analogie zum CupProdukt in der Topologie). Für komplexe algebraische Varietäten ist die Problematik im Rahmen der algebraischen Topologie bereits um 1925 durch S. Lefschetz studiert worden (L’ Analysis Situs et la Géométre Algébrique, 1924, und Topology, AMS Coll. Publ., 1930), und hat nicht unwesentlich die Entwicklung der algebraischen Topologie stimuliert (Zyklen-Abbildung). Um 1980 wurde ein völlig neuer Gesichtspunkt und ebenso neue Techniken entwickelt, konzeptionell einfacher, weitreichender und flexibler als die um 1960 entstandene Theorie (W. Fulton, R. MacPherson). Der neue Gesichtspunkt ist, Schnitt-Theorie nicht als Schnittring von Zyklenklassen, sondern als Theorie von Operatoren zwischen Gruppen von algebraischen Zyklen modulo rationaler Äquivalenz zu betrachten. Fundamental ist der pull-back- Operator längs einer regulären Einbettung sowie die Definition von Chern-Klassen als Operatoren. Als neue Technik dient eine von Verdier entwickelte Methode der „Deformation zum Normalenbündel“.
Die Grundzüge dieser Theorie werden im folgenden skizziert. Betrachtet werden algebraische Schemata über einem Körper, jedem solchen Schema X wird die Chow-Gruppe A*(X) zugeordnet. Bzgl. eigentlicher Morphismen ist X ↦ A*(X) ein Funktor, und bez. flacher Morphismen konstanter Faserdimension ein Kofunktor. Für eine abgeschlossene Einbettung i : X ⊂ Y und die komplementäre offene Einbettung j : U = X \ Y ↪ X ist die Folge
(I) Chern-Klassen in der Schnitt-Theorie. Sie als Operatoren auf A*(X) zu betrachten (unter einschränkenden Voraussetzungen über X durch Schnittprodukte mit bestimmten Klassen gegeben), ermöglicht ihre Einführung mit den wesentlichen Eigenschaften unter sehr allgemeinen Voraussetzungen und bringt Vereinfachungen mit sich. Die Endomorphismenringe End(A* (X)) sind ℤ-graduiert (graduierter Ring), mit der Graduierung \({\text{End}}^{i}({A}_{* }(X))=\mathop{\times }\limits_{k-j=i}\text{Hom(}{A}_{k}\text{(}X\text{),}\,{A}_{j}\text{(}X\text{))}\).
Chern-Klassen eines Vektorbündels \( {\mathcal E} \) sind Operatoren
1. (Normierung): Für \(rg\text{(} {\mathcal E} \text{)}\,\text{=}\,\text{1}\) ist \({c}_{i}\text{(} {\mathcal E} \text{)}\,\text{=}\,\text{0}\) für i > 1, und \({c}_{1}\text{(} {\mathcal E} \text{)}\,\cap [V]\text{=}\,{i}_{* }[D]\) für algebraische Varietäteni : V ⊂ X und Cartier-Divisoren D auf V mit \( {\mathcal E} \text{|}V\cong {{\mathscr{O}}}_{V}(D)\). (Hier ist [D] die zugehörige Klasse von Weil-Divisoren).
2. (Projektionsformel): Ist ϕ : X′ → X eigentlich, so ist
3. (Pull-back-Formel): Ist ϕ : X′ → X flach mit konstanter Faserdimension, so ist
4. (Additivität): Mit \(c\text{(} {\mathcal E} \text{)}\,=:\,1+{c}_{1}\text{(} {\mathcal E} \text{)}+{c}_{2}\text{(} {\mathcal E} \text{)}\,\text{+}\cdots \) gilt für exakte Folgen 0 → ℰ′ → ℰ → ℰ″ → 0 die Whitney-Formel c(ℰ) = c(ℰ′)c(ℰ′).
Für Bündel vom Rang 1 ist \(c\text{(} {\mathcal E} \text{)}\) durch 1. festgelegt, und 2., 3. sind direkte Folgen dieser Definition, ebenso die Tatsache, daß die Chern-Klassen von Geradenbündeln miteinander vertauschbare Operatoren sind und c1 ein Gruppenhomomorphismus
Man definiert Operatoren \({s}_{j}( {\mathcal E} )\in {\mathrm{End}}^{j}({A}_{* }(X))\) (Segre-Klassen) durch
Es läßt sich zeigen, daß die so definierten Klassen die Bedingungen 1. bis 4. erfüllen und durch diese Eigenschaften charakterisiert sind, außerdem folgt \({c}_{i}({\mathscr{E}})=0\) für \(i\gt rg({\mathscr{E}})\), und Operatoren \({c}_{i}({\mathscr{E}})\), \({c}_{j}({\mathscr{F}})\) sind miteinander vertauschbar.
Diese Eigenschaften werden mit dem sogenannten Splittingprinzip bewiesen: Sind \({ {\mathcal E} }_{\text{1}},\ldots,{ {\mathcal E} }_{k}\) Vektorbündel auf X, so gibt es einen flachen eigentlichen Morphismus \({X}^{\prime}\mathop{\to }\limits^{f}X\) konstanter Faserdimension, für den gilt:
(a) f* : A*(X) → A*(X′) ist injektiv.
(b) Jedes Bündel \({f}^{* }{{\mathscr{E}}}_{v}\) besitzt eine Filtration mit Geradenbündeln als Subquotienten.
Eine Filtration von \({\mathscr{E}}\) mit Subquotienten \({{\mathscr{L}}}_{i}\) (lokal frei vom Rang 1) liefert eine solche von \({p}^{* }{\mathscr{E}}\otimes {{\mathscr{O}}}_{{\mathscr{E}}}(-1)\) (für \(p:P={\mathbb{P}}({\mathscr{E}})\to X\)) mit Subquotienten \({p}^{* }{{\mathscr{L}}}_{i}\otimes {{\mathscr{O}}}_{{\mathscr{E}}}(-1)\), und da eine Surjektion \({p}^{* }{\mathscr{E}}\otimes {{\mathscr{O}}}_{{\mathscr{E}}}(-1)\to {{\mathscr{O}}}_{p}\) existiert, gibt es in End(A*(P)) die Relation
Weiterhin gilt:
Der inverse Isomorphismus läßt sich wie folgt beschreiben: Ist \(Q={\mathbb{P}}({\mathscr{E}}\otimes {{\mathscr{O}}}_{X})\mathop{\to }\limits^{q}X\), dann ist P ⊂ Q und V = Q \ P. Ist \({\mathscr{F}}\subset {q}^{* }({\mathscr{E}}\oplus {{\mathscr{O}}}_{X})\) das universelle Unterbündel (Kern von \({q}^{* }({\mathscr{E}}\oplus {{\mathscr{O}}}_{X})\to {{\mathscr{O}}}_{E\oplus {{\mathscr{O}}}_{X}}(1)\), so ist \(\xi \cap {A}_{* }(Q)\subseteq {i}_{* }{A}_{* }(P)\) (i : P → Q Einbettung, P Nullstellenschema eines Schnittes von \({{\mathscr{O}}}_{E\oplus {{\mathscr{O}}}_{X}}(1)\)), und somit
Da \({{\mathscr{O}}}_{p}\subset {\mathscr{F}}|P\) als Unterbündel, ist \({c}_{r}({\mathscr{F}}|P)=0\), also \({c}_{r}({\mathscr{F}})\cap {i}_{* }{A}_{* }(P)=0\). Nach der Whitney-Formel ist
(II) Reguläre Einbettungen und die fundamentale Konstruktion. Reguläre Einbettungen i : Y ↪ X der Kodimension d sind abgeschlossene Einbettungen, deren Idealgarbe lokal durch eine reguläre Folge der Länge d definiert wird (für d = 1 sind dies also die effektiven Cartier-Divisoren). Die zugehörige Konormalengarbe \({{\mathscr{N}}}_{X|Y}^{* }\) (Normalenbündel) ist lokal frei vom Rang d,
Für jeden Morphismus f : Y′ → Y und X′ = f−1(X) ⊂ Y erhält man dann Homomorphismen i! : Ak(Y′) → Ak−d(X′),
Die wichtigsten Eigenschaften dieser Konstruktion sind die folgenden: Bzgl. einer Zerlegung
(a) (Push-forward): Wenn ϕeigentlich ist, so ist i! ∘ ϕ* = ψ* ∘ i!.
(b) (Pull-back): Wenn ϕ flach und von konstanter Faserdimension ist, so auch ψ und i! ∘ ϕ* = ψ* ∘ i!.
(c) (Exzeß-Schnittformel): Wenn i″ ebenfalls reguläre Einbettung ist, so ist \({{\mathscr{N}}}_{{X}^{\prime\prime}|{Y}^{\prime\prime}}\) ein Unterbündel von \({f}^{* }{{\mathscr{N}}}_{X|Y}\), also \({\mathscr{E}}={f}^{* }{{\mathscr{N}}}_{X|Y}/{{\mathscr{N}}}_{{X}^{\prime\prime}|{Y}^{\prime\prime}}\) ein Vektorbündel (Exzeß-Normalenbündel), und
(d) (Verträglichkeit mit Pull-back): Für kommutative Diagramme mit regulärer Einbettung i,
und daraus durch Basiswechsel T → S induzierte Diagramme
gilt: Wenn p, q flach mit konstanter Faserdimension sind, so auch PT, qT und \({p}_{T}^{* }={i}^{!}\circ {p}_{T}^{* }\). Wenn p glatt mit konstanter Faserdimension ist, und q ebenfalls reguläre Einbettung, so ist \({q}^{!}={i}^{!}\circ {p}_{T}^{* }\).
(e) (Vertauschbarkeit): Sind i1 : X1 → Y1i2 : X2 → Y2 reguläre Einbettungen der Kodimension d1 bzw. d2, und fv : Z → Yv Morphismen,
kommutativ.
(f) (Funktorialität): Für reguläre Einbettungen i ∘ j, \(X\mathop{\to }\limits^{i}Y\mathop{\to }\limits^{j}Z\), und Morphismen \(f:{Z}^{\prime}\mathop{\to }\limits^{f}Z\) ist (j ∘ i)! = i! ∘ j!.
Wichtige Beispiele für reguläre Einbettungen sind:
(a) Der Graph \(X\mathop{\to }\limits^{i}X\times Y\) eines Morphismus ϕ : X → Y in ein glattes k-Schema Y.
(b) Die Diagonaleinbettung \(X\mathop{\to }\limits^{{i}_{{\rm{\Delta }}}}X\times X\) eines glatten k-Schemas X.
Beispiel (a) liefert eine Pull-back-Abbildung ϕ! für beliebige Morphismen ϕ : X → Y in glatte Schemata Y durch \({\varphi }^{!}(\alpha )={i}_{\varphi }^{!}([X]\times \alpha )\), α ∈ A* (Y) mit der Eigenschaft: Für
Beispiel (b) liefert ein Schnittprodukt \(\alpha \cdot \beta ={i}_{{\rm{\Delta }}}^{!}(\alpha \times \beta )\). Mit der Graduierung A*(X) durch die Kodimension (® algebraische Zyklen) wird X ↦ A*(X) ein Kofunktor auf der Kategorie glatter k-Schemata in die Kategorie der kommutativen assoziativen graduierten Ringe, das Einselement ist 1 = [X], und die Chern-Klassen sind durch \({c}_{i}({\mathscr{E}})\cap [X]\in {A}^{i}(X)\) bestimmt. (Der zugehörige Operator ist die Multiplikation mit diesem Element).
Die fundamentale Konstruktion liefert auch die lokale Schnittmultiplizität für Komponenten C von V ∩ W, in denen sich V, W eigentlich schneiden:
(III) Spezialisierung zum Normalenkegel. Zu einer abgeschlossenen Einbettung X ⊂ Y erscheint die Einbettung X ⊂ CX|Y in den Normalenkegel als Grenzfall in folgendem Sinne: Sei T = ℙ1 ⊃ T0 = ℙ1 \ {∞} und \(\sigma :\tilde{M}\to Y\times T\) die Aufblasung in X × {∞}. Da X × {∞} Cartier-Divisor in X × T ist, läßt sich die Einbettung X × T ⊂ Y × T zu einer Einbettung \(X\times T\subset \tilde{M}\) liften, so daß über T0 die konstante Einbettung X × T0 ⊂ Y × T0 induziert wird. Über ∞ ist \({\tilde{f}}^{-1}(\infty )=\tilde{Y}\cup E\), \(\tilde{Y}\to Y\) Aufblasung in X, und E der exzeptionelle Divisor der Aufblasung.
Ist \(M=\tilde{M}\backslash \tilde{Y}\), \(f=\tilde{f}|M\), so ist f−1(∞) = CX|Y der Normalenkegel. Also erhält man eine flache Familie von Einbettungen
die über T0 = T \ {∞} die gegebene Einbettung, und über ∞ die Einbettung X ⊂ C = CX|Y ist. C = f−1(∞)) ist ein Cartier-Divisor auf M, und \({{\mathscr{O}}}_{M}(C)\simeq {f}^{* }{{\mathscr{O}}}_{T}(1)\). Das ermöglicht die Definition von Spezialisierungshomomorphismen σ : A* (Y) → A*(C) mit der Eigenschaft
Für die Einbettung i : C ⊂ M ist nämlich \({{\mathscr{O}}}_{M}(C)\otimes {{\mathscr{O}}}_{C}\simeq {{\mathscr{O}}}_{C}\), also ist i! auf i*A* (C) ⊂ A* (M) trivial, und
(IV) Bivariate Schnitt-Theorie. Chern-Klassen (I) und die fundamentale Konstruktion (II) sind Spezialfälle einer bivariaten Schnitt-Theorie A*(X → S) für Morphismen X → S. Für jedes S-Schema T → S in der betrachteten Kategorie algebraischer k-Schemata sei XT = X ×ST. Die Elemente von Ap(X → S) sind Familien von Operatoren
Beispiele: (1) Chern-Klassen \({c}_{p}( {\mathcal E} )\) sind aus \({A}^{p}(X\mathop{\to }\limits^{id}X)\).
(2) Für reguläre Einbettungen \(X\mathop{\hookrightarrow }\limits^{i}Y\) ist \({i}^{!}\in {A}^{d}(X\mathop{\hookrightarrow }\limits^{i}Y)\) (d = Kodimension).
(3) A−k(X → pt) = Ak(x).
Wenn X → S′ → S eine Zerlegung von X → S ist, gibt es ein offensichtliches Produkt
Für Morphismen g : S1 → S und X1 = X ×SS1 erhält man einen Pull-back Homomorphismus
Auf diese Weise wird
Für glatte X liefert A*(X) → A*(X)c ↦ c([X]) einen Isomorphis, so daß das Produkt dem Schnittprodukt entspricht.
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