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Lexikon der Mathematik: Stieltjes-Integral

Integral der Form \begin{eqnarray}i(f)=\displaystyle \int f(x)dg(x)=\displaystyle \int fd\,g\end{eqnarray}

mit einer festen Belegungsfunktion g, das den Spezialfall g(x) := x wesentlich verallgemeinert, hier speziell für reellwertige Funktionen f und g einer reellen Variablen dargestellt.

In der ursprünglichen Form, die auf Thomas Jean Stieltjes zurückgeht, waren f und g auf einem gemeinsamen kompakten Intervall [a, b] (für a, b ∈ ℝ mit a< b) definiert, f stetig und die Belegungsfunktion g isoton vorausgesetzt. Stieltjes-Integrale fanden zunächst nur relativ wenig Beachtung. Das änderte sich entscheidend, als 1909 Frédéric Riesz sie in seinem berühmten Darstellungssatz verwandte.

Zunächst wird man das Integral für Treppenfunktionen f mit einer beschreibenden Zerlegung x0< x1< ⋯ < xn und den konstanten Werten c1, c2, ⋯, cn von f auf den offenen Teilintervallen (xν−1, xν), durch \begin{eqnarray}i(f)=\displaystyle \int f(x)dg(x):=\displaystyle \sum _{v=1}^{n}{c}_{v}(g({x}_{v})-g({x}_{v-1}))\end{eqnarray}

definieren. Statt der Länge xνxν−1 des Intervalls (xν−1, xν) tritt hier also die entsprechende Differenz unter g auf. Die Funktionswerte von f an den (eventuellen) Sprungstellen xν gehen nicht in die Definition ein. Jedoch kann eine Abänderung von g an nur einer Stelle die Integralwerte von Treppenfunktionen verändern.

Will man nun, wie beim klassischen Integral von Regelfunktionen, mit Hilfe der Supremumsnorm von Funktionen gemäß dem allgemeinen Fortsetzungsprinzip eine Integralerweiterung gewinnen, so muß man die oben definierten elementaren Integrale von Treppenfunktionen f durch deren Supremumsnorm und einen Faktor V abschätzen können, der im Spezialfall durch die Intervall-Länge gegeben ist. Dies führt zu der Forderung \begin{eqnarray}V:=\sup \{i(f):f\,\text{Treppenfunktion,}.|f|\le 1\}\lt \infty.\end{eqnarray}

Man erkennt leicht, daß V gerade das Supremum der Werte \( {\sum}_{v=1}^{n}|g({x}_{v})-g({x}_{v-1})|\) ist, wobei −∞ < x0< x1< ⋯ < xn< ∞ für ein n ∈ ℕ. Man schreibt V =: |dg| und nennt dies die Totalvariation von g, die also für diese spezielle Fortsetzung als endlich vorauszusetzen ist. Für Regelfunktionen (Regelfunktionen, Integral von) kann so \begin{eqnarray}i(f)=\displaystyle \int f(x)dg(x)=\displaystyle \int f\,dg\end{eqnarray}

erklärt werden. Diese Regelfunktionen sind genau die Funktionen, für die an jeder endlichen Stelle der rechts- und linksseitige Grenzwert existiert und die überdies für x → −∞ und für x → ∞ gegen 0 streben. Das gewonnene Integral ist eine lineare Abbildung des ℝ-Vektorraums der eben beschriebenen Regelfunktionen in ℝ, die das angegebene elementare Stieltjes-Integral von Treppenfunktionen fortsetzt. Positivität und Monotonie des Stieltjes-Integrals hat man hier genau dann, wenn diese Eigenschaften schon für die Treppenfunktionen gelten, und damit genau dann, wenn g isoton ist. Die obige Forderung an g führt zu den Funktionen von beschränkter Variation (Totalvariation).

Eine wesentliche und dazu einfache Eigenschaft der definierten Integrale und der Totalvariation ist ihre Invarianz gegenüber „Parametertransformationen“: Man betrachtet Funktionen ϕ, die ℝ (streng) isoton auf ℝ (und damit stetig) abbilden. Man erkennt dann sofort, daß einerseits mit einer Funktion f auch die Zusammensetzung f &ogr; ϕ Regelfunktion ist und andererseits mit einer Funktion g auch g &ogr; ϕ endliche Totalvariation besitzt. Dabei gelten die Gleichungen \begin{eqnarray}\begin{array}{lll}\displaystyle \int |dg| & = & \displaystyle \int |d(g\,{\unicode {x25E6}}\,\varphi)|\quad \text{und}\\ \displaystyle \int f\,dg & = & \displaystyle \int (f{\unicode {x25E6}}\varphi)d(g\,{\unicode {x25E6}}\,\varphi).\end{array}\end{eqnarray}

Diese einfache Eigenschaft ist von entscheidender Bedeutung für die Definition von ‚Kurvenintegralen‘ über Stieltjes-Integrale.

Ähnlich wie im klassischen Falle kann eine etwas zugkräftigere Integralerweiterung durchgeführt werden, die dem Riemann-Integral entspricht. Dieses kann noch zum uneigentlichen Riemann-Stieltjes-Integral erweitert werden. Für die wichtige und leistungsfähige Erweiterung im Lebesgueschen Sinne wird für die betrachtete Belegungsfunktionen g noch – zumindest einseitige – Stetigkeit erforderlich.

Wesentlich allgemeinere Stieltjes-Integrale werden in [1] betrachtet. Hier und etwa in [2] ist auch ausgeführt, daß der Zugang über den ‚Limes‘ bei Verfeinerung entsprechender Zerlegungssummen nicht den gleichen Integralbegriff liefert.

[1] Hoffmann, D.; Schäfke, F.-W.: Integrale. B.I.-Wissenschaftsverlag Mannheim Berlin, 1992.
[2] Walter, W.: Analysis 2. Springer-Verlag Berlin, 1992.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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