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Lexikon der Mathematik: stochastische Integration

Integration stochastischer Prozesse, Verallgemeinerung der klassischen Integrationstheorie, welche sogenannte stochastische Integrale betrachtet, bei denen ein bestimmter stochastischer Prozeß bezüglich eines gewissen anderen oder auch desselben stochastischen Prozesses integriert wird.

Es seien (Ω, 𝔄, P) ein vollständiger Wahrscheinlichkeitsraum und (𝔄t)t≥0 eine Standardfiltration in 𝔄. Ist X = (Xt)t≥0 ein an (𝔄t)t≥0 adaptierter stetiger stochastischer Prozeß und M = (Mt)t≥0 ein rechtsstetiges lokales L2-Martingal (d. h. für alle t ≥ 0 gilt \(\int {M}_{t}^{2}dP\lt \infty)\) bezüglich (𝔄t)t≥0 mit Pfaden von lokal beschränkter Variation, so ist das stochastische Integral \begin{eqnarray}\displaystyle \mathop{\int}\limits_{[0,t]}{X}_{s}(\omega)d{M}_{s}(\omega)\end{eqnarray}

für jedes ω ∈ Ω als Riemann-Stieltjes-Integral (Stieltjes-Integral) wohldefiniert.

Im allgemeinen ist eine derartige pfadweise Definition des stochastischen Integrals nicht möglich, da die Pfade jedes nicht konstanten stetigen lokalen Martingals M nicht von lokal beschränkter Variation sind. Im folgenden wird eine von mehreren möglichen Konstruktionen des stochastischen Integrals [0,t]XdM beschrieben, die für ein an (𝔄t)t≥0 adaptiertes rechtsstetiges L2-Martingal M = (Mt)t≥0 und bestimmte Prozesse (Xt)t≥0 anwendbar ist. Der Prozeß (∫[0,t]XdM)t≥0 ist dann ein rechtsstetiges L2-Martingal. Im Falle, daß M eine eindimensionale Brownsche Bewegung ist, wird das so konstruierte stochastische Integral als Itô-Integral bezeichnet. Die dargestellte Konstruktion kann für rechtsstetige lokale L2-Martingale verallgemeinert werden. Es sei M ein rechtsstetiges L2-Martingal. Die Definition des stochastischen Integrals erfolgt in mehreren Schritten, wobei der Prozeß (Xt)t≥0 als Abbildung von der Menge \({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\times \Omega \) nach ℝ mit (t, ω) → Xt(ω) aufgefaßt wird. Für die Indikatorfunktionen sogenannter vorhersagbarer Rechtecke (s, t] × A mit s< t aus \({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) und A ∈ 𝔄s bzw. {0}×A0 mit A0 in 𝔄0 definiert man \begin{eqnarray}\displaystyle \int {1}_{(s,t)\times A}dM:={1}_{A}({M}_{t}-{M}_{s})\end{eqnarray}

bzw. \(\displaystyle \int {1}_{\{0\}\times {A}_{0}}dM:=0\). Es sei \({\mathcal{E}}\) die Menge aller endlichen Linearkombinationen solcher Indikatorfunktionen. Für ein Element \begin{eqnarray}X=\displaystyle \sum _{j=1}^{n}{c}_{j}{1}_{({s}_{j,}{t}_{j})\times {A}_{j}}+\displaystyle \sum _{k=1}^{m}{d}_{k}{1}_{\{0\}\times {A}_{0k}}\end{eqnarray}

aus \({\mathcal{E}}\) mit cj ∈ ℝ, Aj ∈ 𝔄j, sj< tj, j = 1, …, n und dk ∈ ℝ, A0k ∈ 𝔄0, k = 1, …, m, wobei die vorhersagbaren Rechtecke o. B. d. A. als disjunkt angenommen werden können, wird das Integral linear fortgesetzt, d. h. man definiert \begin{eqnarray}\displaystyle \int XdM:=\displaystyle \sum _{j=1}^{n}{c}_{j}{1}_{{A}_{j}}({M}_{{t}_{j}}-{M}_{{s}_{j}}).\end{eqnarray}

Der Wert des Integrals hängt dabei nicht von der gewählten Darstellung von X ab. Da M als rechtsstetiges L2-Martingal vorausgesetzt wurde, existiert auf der von den vorhersagbaren Rechtecken erzeugten sogenannten σ-Algebra der vorhersagbaren Ereignisse 𝔓 ein eindeutig bestimmtes Maß μM mit der Eigenschaft \begin{eqnarray}{\mu}_{M}((s,t]\times A)=E({1}_{A}{({M}_{t}-{M}_{s})}^{2})\end{eqnarray}

für alle s< t und A ∈ 𝔄s, das als Doléans-Maß bezeichnet wird. Die Abbildung XXdM von der im Hilbertraum L2(\({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) × Ω, 𝔓, μM) dichten Menge \({\mathcal{E}}\) in den Hilbertraum L2(Ω, 𝔄, P) ist eine lineare Isometrie, welche eindeutig zu einer linearen Isometrie von L2(\({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) × Ω, 𝔓, μM) in L2(Ω, 𝔄, P) fortgesetzt werden kann. Für beliebiges XL2(\({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) × Ω, 𝔓, μM) wird das Integral XdM als das Bild von X unter dieser Isometrie definiert. Für jeden stochastischen Prozeß (Xt)t≥0 mit der Eigenschaft, daß die Abbildung (t, ω) → Xt(ω) 𝔓-meßbar ist, und für den darüber hinaus die durch (s, ω) → 1[0,t](s)X(s, ω) definierte Abbildung 1[0,t]X von \({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) × Ω nach ℝ für jedes t ≥ 0 zu L2(\({{\mathbb{R}}}_{0}^{+}\) × Ω, 𝔓, μM) gehört, ist das Integral 1[0,t]XdM somit wohldefiniert. Für Elemente X ∈ \({\mathcal{E}}\) mit der angegebenen Darstellung gilt speziell \begin{eqnarray}\displaystyle \int {1}_{[0,t]}XdM=\displaystyle \sum _{j=1}^{n}{c}_{j}{1}_{{A}_{j}}({M}_{{t}_{j}\wedge t}-{M}_{{s}_{j}\wedge t}),\end{eqnarray}

wobei tjt bzw. sjt jeweils das Minimum der beiden Zahlen bezeichnet. Der Prozeß (1[0,t]XdM)t≥0 ist ein L2-Martingal und besitzt eine Version mit ausschließlich rechtsstetigen Pfaden. Sind alle Pfade von M stetig, so existiert eine Version von (1[0,t]XdM)t≥0, deren Pfade sämtlich stetig sind. Die genannte Erweiterung des Integralbegriffs für den Fall, daß M ein rechtsstetiges lokales L2-Martingal ist und allgemeinere Integranden (Xt)t≥0 wird unter Verwendung bestimmter monoton wachsender Folgen von Stoppzeiten durchgeführt.

[1] Chung K. L.; Williams, R. J.: Introduction to Stochastic Integration (2nd ed.). Birkhäuser Boston, 1990.
[2] Karatzas, I.; Shreve, S. E.: Brownian motion and stochastic calculus (2nd ed.). Springer New York, 1991.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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