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Lexikon der Mathematik: Thermodynamik

Die Thermodynamik ist die Lehre von den Erscheinungen in makroskopischen Systemen (einschließlich Strahlung), für die Wärmeübertragung oder Temperaturänderungen wesentlich sind. Da die makroskopischen physikalischen Systeme aus einer großen Zahl von Teilchen bestehen (in einem Mol eines Stoffes befinden sich etwa 1023 Teilchen), kann der Zustand des Systems schon aus rechentechnischen Gründen nicht nach der klassischen oder Quantentheorie bestimmt werden. Es kommt daher auf die Bestimmung von Mittelwerten für die physikalischen Größen wie z. B. die Energie, und die möglichen Schwankungen um solche Mittelwerte an. Anwendung findet die Thermodynamik in der Technik z. B. beim Bau von Wärmekraftmaschinen und in der Thermochemie, die sich mit dem Ablauf chemischer Reaktionen unter dem Aspekt der Wärmeentwicklung beschäftigt.

In der phänomenologischen Thermodynamik wird kein Rückgriff auf die mikroskopische Struktur der Materie gemacht. Sie ist zunächst einmal die Theorie der Übergänge aus einem Gleichgewichtszustand in einen anderen solchen Zustand. Die Übergänge wiederum können reversibel oder irreversibel erfolgen (thermodynamischer Prozeß, reversibler Prozeß). Die phänomenologische Thermodynamik kann axiomatisch aus den Hauptsätzen der Thermodynamik aufgebaut werden.

In Abhängigkeit von den unabhängigen Größen, die den Gleichgewichtszustand des Systems bestimmen, gibt es thermodynamische Potentiale (Fundamentalgleichungen der Thermodynamik), aus denen alle anderen, das System charakterisierenden Größen abgeleitet werden können.

Die zunächst für Gleichgewichtszustände definierte Entropie (Entropie, physikalische) wird dadurch für das Nicht-Gleichgewicht definiert, daß man eine Folge von Gleichgewichtszuständen sucht, die in das Nicht-Gleichgewicht führen. Für die Gleichgewichtszustände ist dann die Entropie definiert, und sie wird für den Nicht-Gleichgewichtszustand durch den Wert geliefert, den die Entropie im Gleichgewichtszustand hat, der mit dem Nicht-Gleicgewichtszustand zusammenfällt. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik sagt dann aus, daß alle Prozesse in adiabatisch abgeschlossenen Systemen so ablaufen, daß die Entropie nicht abnimmt. Ähnlich wird die freie Energie F = UTS für einen Nicht-Gleichgewichtszustand definiert. Es gilt dann, daß ein Prozeß isotherm und ohne Arbeitsleitung nur so abläuft, daß die freie Energie nicht wächst.

Auch irreversible Prozesse versucht man im Rahmen der phänomenologischen Thermodynamik zu behandeln. Beispielsweise werden Ausgleichsvorgänge in inhomogenen und anisotropen Medien beschrieben. Dabei wird vorausgesetzt, daß thermodynamisches Gleichgewicht wenigstens noch lokal besteht. Damit kann noch lokal eine Temperatur definiert werden, global hat man es mit einem Temperaturfeld zu tun. Aus dem Beobachtungsmaterial schließt man auf eine lineare Beziehung etwa zwischen dem Wärmestrom und dem Temperaturgradienten (im allgemeineren Fall sind es die Beziehungen von Onsager und Casimir). Diese Beziehung wird dann nach dem geschilderten Verfahren in die allgemeinen Beziehungen der phänomenologischen Thermodynamik eingeführt.

Die phänomenologische Thermodynamik wird über die statistische Thermodynamik (statistische Physik) begründet, indem von einer Theorie ausgegangen wird, die die mikroskopische Struktur der Materie berücksichtigt. Die Aussagen der phänomenologischen Thermodynamik werden durch Bildung von Mittelwerten über statistische Gesamtheiten gewonnen. Von Interesse sind zeitliche Mittelwerte. Sie sollen über die Bildung von Scharmitteln erhalten werden, weil die Bestimmung von zeitlichen Mittelwerten ja die Lösung des Bewegungsproblems für große Systeme voraussetzt (Ergodenhypothese, Quasi-Ergoden-hypothese). Die statistische Thermodynamik gestattet die Berechnung von Materaleigenschaften und Zustandsgleichungen, die in der phänomenologischen Thermodynamik vorgegeben werden müssen. In der statistischen Thermodynamik für Gleichgewichtszustände hat sich eine Methode von Gibbs (Gibbsscher Formalismus) besonders bewährt, weil sie die Einbeziehung von Systemen ermöglicht, deren Bestandteile in nicht zu vernachlässigender Wechselwirkung stehen: Es werden „virtuelle“ Gesamtheiten dadurch gebildet, daß ihre Elemente Kopien eines real existierenden Systems sind. Für Systeme im thermodynamischen Gleichgewicht ist die Kenntnis der Zustandssumme wichtig. Sie gestattet die Berechnung der thermodynamischen Größen.

Die Theorie, mit der die mikroskopische Struktur der Materie beschrieben wird, kann die klassische Physik, aber auch der Quantentheorie sein (quantenmechanische Gesamtheiten, Quantenstatistik). Für hinreichend hohe Temperaturen folgen die Resultate, die auf der Basis der klassischen Physik erhalten wurden, aus der Quantenstatistik. Die Berechnung von Verteilungsfunktionen ist die wesentliche Aufgabe der statistischen Thermodynamik bei der Behandlung von irreversiblen Prozessen (kinetische Gastheorie, Boltzmann-Gleichung).

Bisher wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß sich das thermodynamische Gleichgewichtssystem als ganzes in dem Bezugssystem K0 in Ruhe befindet. Wird es jedoch von einem Bezugssystem K beobachtet, das sich gegenüber K0 mit der konstanten Geschwindigkeit v bewegt, dann sind für die thermodynamischen Größen speziell-relativistische Transformationsgesetze anzugeben. Um sie zu finden, setzt man erst einmal voraus, daß etwa der erste und zweite Hauptsatz in beiden Bezugssystemen die gleiche Form haben. Dann ergibt sich z. B. für die Temperatur T in K das von Ott angegebene Transformationsgesetz \begin{eqnarray}T=\frac{{T}_{0}}{\sqrt{1-{v}^{2}/{c}^{2}}},\end{eqnarray} wobei T0 die Temperatur in K0 und c die Vakuumlichtgeschwindigkeit sind. Dieser Ausdruck korrigierte in den sechziger Jahren nach über 50 Jahren die von Planck angegebene Beziehung.

Berücksichtigt man schließlich auch noch, daß das System selbst ein Gravitationsfeld erzeugt, dann folgt nach der allgemeinen Relativitätstheorie, daß die Temperatur T0, die ein Beobachter mißt, der momentan in bezug auf das sich im Gleichgewichtbefindende System in Ruhe ist, eine Funktion des Raum-Zeit-Punkts ist. Erzeugt das System ein statisches Gravitationsfeld, dann ist das Produkt aus T0 und der Quadratwurzel \(\sqrt{{g}_{00}}\) der Zeit-Zeit-Komponente des (pseudo-)metrischen Fundamentaltensors eine Konstante.

Die Thermodynamik findet auch Anwendung in der Kosmologie der Einsteinschen Gravitationstheorie. Für homogene isotrope Weltmodelle kann man zeigen, daß elektromagnetische Strahlung bei der Expansion im Gleichgewicht bleibt, wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem Zustand war. Lediglich die Temperatur der Strahlung sinkt. Auf diese Weise kann man die Kälte der kosmischen Hintergrundstrahlung verstehen.

Literatur

[1] Becker, R.: Theorie der Wärme. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York, 1966.

[2] Landau, L.D.; Lifschitz, E.M.: Lehrbuch der theoretischen Physik, Bände V und X. Akademie-Verlag Berlin, 1979.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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