Lexikon der Mathematik: Vektoranalysis
Unter Vektoranalysis verstehen Mathematiker und Anwender, z. B. Physiker, oft recht verschieden aussehende Dinge: Der Mathematiker hat die Theorie der alternierenden Differentialformen im Auge, der Anwender mehr die, klassische‘ Vektoranalysis, etwa in der Mechanik oder der Feldtheorie. Hier soll – in einem relativ einfachen Rahmen – die erste Auffassung skizziert werden. Es wird aber auch die Übersetzung in die Sprache der Anwender vorgenommen. So werden z. B. die in der Physik vorkommenden Integralformeln in der in der Physik üblichen Symbolik dargestellt, die jedoch erst durch Verwendung der vektorwertigen Differentialformen umfassende Übersicht und eine elegante Darstellung liefert und so auch den mehr theoretisch interessierten Mathematiker voll befriedigt.
Ziel ist, für n ∈ ℕ ein Analogon zum Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung auf dem ℝn zu gewinnen. Nützlich hierfür ist der Kalkül der Differentialformen. Alle im folgenden betrachteten Vektorräume seien reell.
Multilineare Abbildungen
Es seien n ∈ ℕ und \(\Re \), \({\mathfrak{S}}\) Vektorräume. Mit \({\mathfrak{L}}(\Re,{\mathfrak{S}})\) wird der Vektorraum der linearen Abbildungen von \(\Re \) in \({\mathfrak{S}}\) bezeichnet. Eine Abbildung \(f:{\Re}^{n}\to {\mathfrak{S}}\) heißt genau dann „n-linear“, wenn für jedes v ∈ {1, …,n} und \(({x}_{1},\ldots,{x}_{v-1},{x}_{v+1},\ldots,{x}_{n})\in {\Re}^{n-1}\) die Abbildung \(\Re \ni {x}_{v}\mapsto f({x}_{1},\ldots,{x}_{n})\in {\mathfrak{S}}\) linear ist. Grob gesagt, in jeder der n Variablen ist f linear. Statt 2-linear sagt man meist bilinear.
Offenbar ist
Für n ≥ 2, \(g\in {{\mathfrak{L}}}^{n}(\Re,{\mathfrak{S}})\) und \(({x}_{1},\ldots,{x}_{n})\in {\Re}^{n}\) sei
Dann ist
Elemente aus \({\mathfrak{M}}(\Re,{\mathfrak{S}})\) heißen multilineare Abbildungen. Für r, s ∈ ℕ0, \(f\in {{\mathfrak{L}}}^{r}\), \(g\in {{\mathfrak{L}}}^{s}\) und \(({h}_{1},\ldots,{h}_{r+s})\in {\Re}^{r+s}\) sei
Im Falle r = 0 oder s = 0 ist dies wieder, richtig‘ zu lesen (Multiplikation mit einer reellen Zahl). Dann ist \({p}_{r,s}:{{\mathfrak{L}}}^{r}\times {{\mathfrak{L}}}^{s}\to {{\mathfrak{L}}}^{r+s}\) bilinear.
Damit erhält man das assoziative „Tensorprodukt“
Alternierende Abbildungen, Alternante
Es sei Sn die Menge der Permutationen auf {1, …,n}, also
Dann ist (Sn, ○) Gruppe der Ordnung n!, die symmetrische Gruppe vom Grade n. Für σ ∈ Sn bezeichne i(σ) die Anzahl der Inversionen, d. h. der (i, j) ∈ {1, …,n} mit i< j und σ(i) >σ(j), und sgn(σ) ≔ (−1)i(σ). Es gilt
Für \(f\in {{\mathfrak{L}}}^{n}(\Re,{\mathfrak{S}})\), σ ∈ Sn und \(({h}_{1},\ldots,{h}_{n})\in {\Re}^{n}\) sei
Beispiele alternierender Abbildungen sind etwa Determinanten, Volumina (bei Orientierung), Vektorprodukt und skalares Tripelprodukt. Mit
Für r, s ∈ ℕ0 und \(f\in {{\mathfrak{A}}}^{r}\), \(g\in {{\mathfrak{A}}}^{s}\) sei
Damit erhält man das assoziative alternierende Produkt, auch äußeres Produkt oder GraßmannProdukt,
Endlichdimensionale Räume, Basen
Es seien noch \(k:=\dim \ \Re \in {\mathbb{N}}\), \(\ell :=\dim \ {\mathfrak{S}}\in {\mathbb{N}}\), e1, …,ek eine Basis von \(\Re \) und f1, …,fℓ eine Basis von \({\mathfrak{S}}\cdot {e}^{1},\ldots,{e}^{k}\). e1, …,ek bezeichne die duale Basis des \({\Re}^{*}\) zu e1, …,ek, also die durch eκ ev = δv,κ festgelegte.
\(\{{e}^{{i}_{1}}\wedge \cdots \wedge {e}^{{i}_{n}}\cdot {f}_{\lambda}|1\le {i}_{1}\lt \cdots \lt {i}_{n}\le k,\ \lambda \in \{1,\ldots,\ell \}\}\)ist eine Basis von \({{\mathfrak{A}}}^{n}(\Re,{\mathfrak{S}})\) (für 1 ≤ n ≤ k). Damit gilt
Speziell ist dim \({{\mathfrak{A}}}^{k}=1\); für \(B\in {\mathfrak{L}}(\Re,\ \Re)\), \(a\in {{\mathfrak{A}}}^{k}\backslash \{0\}\) und \(({h}_{1},\ldots,{h}_{k})\in {\Re}^{k}\) sei
Damit kann – unabhängig von dem speziellen a – die Determinante det B von B als eindeutiger Faktor eingeführt werden, der
Ist auch d1, …, dk eine Basis von \(\Re \), so wird mit einem a wie oben durch
Die *-Operation
Ist \(\Re \) ein Vektorraum mit der Dimension k ∈ ℕ, so gilt nach den vorangehenden Überlegungen
Gesucht ist ein kanonischer“ Isomorphismus zwischen \({{\mathfrak{A}}}^{r}(\Re)\) und \({{\mathfrak{A}}}^{k-r}(\Re)\). Dazu sei noch (· | ·) eine symmetrische nicht-ausgeartete Bilinearform auf \(\Re \), d. h. \((\cdot |\cdot):\ \Re \times \Re \to {\mathbb{R}}\) bilinear mit (a|b) = (b|a) und der Existenz eines y zu jedem x ≠ 0 mit (x|y) ≠ 0. Zudem sei noch eine Orientierung \({\mathbb{O}}\) festgelegt.
Es bezeichne τ den kanonischen Isomorphismus von \(\Re \) auf \(\Re * \), d.h. τx ≔ (x| ·), also (τx)(y) ≔ (x|y) für \(x,\ y\ \in \Re \). Mit der Gramschen Matrix
Ist \((\Re,\ (\cdot \ |\ \cdot),\ {\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Raum (der Dimension k), so existiert ein \(({e}_{1},\ldots,{e}_{k})\in {\mathbb{O}}\) mit
Hier gelten also sκ = 1, eκ = τeκ, ϵ = 1. D heißt dann „orientiertes euklidisches Volumenmaß“.
Ein weiteres wichtiges Beispiel ist der Minkowski-Raum: Hier hat man k = 4 und eine E-Basis e1, e2, e3, e4 mit
Eine solche Basis heißt Minkowski-Basis. Für \(x=\displaystyle {\sum}_{v=1}^{4}{\xi}_{v}{e}_{v}\) und \(y=\displaystyle {\sum}_{v=1}^{4}{\eta}_{v}{e}_{v}\) gilt \((x|y)=\displaystyle {\sum}_{v=1}^{3}{\xi}_{v}{\eta}_{v}-{\xi}_{4}{\eta}_{4}\).
Zu \(f\in {{\mathfrak{A}}}^{k}\) und \(g\in {{\mathfrak{A}}}^{k}\backslash \{0\}\) existiert eindeutig ein q = q(f, g) ∈ ℝ mit f = q(f, g) g. Für r ∈ {0, …,k} und \(g\in {{\mathfrak{A}}}^{k}\backslash \{0\}\) bezeichne mit \({h}_{1},\ \ldots,{h}_{k-r}\in \Re \)
\(\ast :{{\mathfrak{A}}}^{r}\to {{\mathfrak{A}}}^{k-r}\) ist Isomorphismus.
Mit 〈a | b〉 ≔ ϵ *(a ∧ *b) für \(a,\ b\in {{\mathfrak{A}}}^{r}\) wird
Endlichdimensionale orientierte euklidische Vektorräume
Es sei \((\Re,\ (\cdot \ |\ \cdot),\ {\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Raum mit \(k:=\dim \ \Re \in {\mathbb{N}}\). | | bezeichne die zugehörige Norm. Für r ∈ {1, …,k} ist hier 〈 · | ·〉 ein Skalarprodukt. Für \(a\in {{\mathfrak{A}}}^{r}\) seien:
Für \({h}_{1},\ldots,{h}_{k}\in \Re \) hat man
Im Falle k ≥ 2 sei das Vektorprodukt definiert durch:
Es hat die Eigenschaften:
P ist orthogonal zu h1, …, hk−1.
Für linear unabhängige h1, …, hk−1 ist das k-Tupel (h1, …, hk−1, P) in \({\mathbb{O}}\), P liefert also eine ausgezeichnete Basisergänzung.
Bei Vorgabe einer orientierten Orthonormalbasis e1, …,ek in \(\Re \) liefert |D(h1, …,hk)| gerade das Volumen (Lebesgue-Maß) des Urbildes des von h1, …,hk aufgespannten Parallelotops
Multilineare Analysis
Es seien n ∈ ℕ und \(\Re \), \({\mathfrak{S}}\) von {0} verschiedene normierte Vektorräume. Mit
Felder alternierender Abbildungen; Cartan-Ableitung
Mit einer nicht-leeren offenen Teilmenge O von \(\Re \) und r, s ∈ ℕ0 betrachten wir die Vektorräume
Für \(f\in {{\mathfrak{F}}}_{r}^{(1)}\), x ∈ O und \(({h}_{0},\ldots {h}_{r})\in {\Re}^{r+1}\) sei
Einfache Regeln zur Cartan-Ableitung sind:
\(d:{{\mathfrak{A}}}_{r}^{(s+1)}\to {{\mathfrak{A}}}_{r+1}^{(s)}\) ist linear,
Für \(f\in {{\mathfrak{A}}}_{r}^{(2)}\) ist dr+1(dr(f)) = 0.
Die letzte der aufgelisteten Aussagen wird gelegentlich auch als Regel von Poincaré bezeichnet und kurz dd = 0 notiert.
Im endlichdimensionalen Fall kann die Cartan-Ableitung über Koordinatendarstellung gewonnen werden:
Koordinatendarstellung der Cartan-Ableitung
Es seien hier \(\Re \) ein Vektorraum der Dimension k ∈ ℕ, O eine nicht-leere offene Teilmenge von \(\Re \), (e1, …,ek) eine orientierte Basis von \(\Re \) und (e1, …, ek) die zugehörige duale Basis (von \(\Re * \)). (\({\mathfrak{S}}\) werde als ℝ gewählt.)
Zu r ∈ {1, …,k}, \(f\in {{\mathfrak{A}}}_{r}^{(0)}\)und allen (i1, …,ir) ∈ {1, …,k} mit i1< … < ir existieren eindeutig \({\varphi}_{{i}_{1},\ldots,{i}_{r}}\in {{\mathfrak{F}}}_{0}^{(0)}\)mit
Für \(\varphi \in {{\mathfrak{A}}}_{0}^{(1)}\), also ϕ: O → ℝ differenzierbar, hat man \((d\varphi)(y)=\displaystyle {\sum}_{\kappa =1}^{k}{\varphi}_{\kappa}(y){e}^{\kappa}\), wobei \((d\varphi)(y){e}_{\kappa}=\varphi \text{'}(y){e}_{\kappa}=:({\partial}_{\kappa}\varphi)(y)=:\ \frac{\partial \varphi}{\partial {e}_{\kappa}}(y)\) (Richtungsableitung von ϕ in y nach eκ). Häufig notiert man auch \(\frac{\partial \varphi}{\partial {x}^{\kappa}}\) statt \(\frac{\partial \varphi}{\partial {e}_{\kappa}}\) bzw. ∂κϕ, was nicht gerade verständnisfördernd wirkt. Betrachtet man xκ als die Abbildung, die jedem y ∈ O die κ-te Koordinate in der Darstellung bezüglich (e1, …, ek) zuordnet (κ-te Projektion), so gilt:
So hat man zusammen
Für das obige f gilt mit diesen Bezeichnungen
Co-Differentiation
rot, div, grad, Δϕ, Δf
Zusätzlich zu den Annahmen des vorangehenden Abschnitts seien noch 〈 ·|·〉 ein Skalarprodukt auf R und die orientierte Basis e1, …,ek orthonormiert. Für r ∈ {0, …,k} und \(f\in {{\mathfrak{A}}}_{r}^{(1)}\) wird mit
δ hängt nicht von der Orientierung ab, da der *-Operator in der Definition zweimal vorkommt.
Für r ∈ {1, …, k} und \(f\in {{\mathfrak{A}}}_{r}^{(1)}\) mit der obigen Darstellung gilt dann
(Dabei soll das, Dach‘ markieren, daß der entsprechende Term wegzulassen ist.)
Man definiert für \(f:\ O\to \Re \) und ϕ: O → ℝ :
Es ergeben sich für differenzierbare ϕ, ϕκ : O → ℝ (κ = 1, …,k) und \(f:\ =\displaystyle {\sum}_{\kappa =1}^{k}{\varphi}^{\kappa}{e}_{\kappa}\) leicht die folgenden Koordinatendarstellungen:
Bei zweimaliger Differenzierbarkeit von ϕ und ϕκ:
Lemma von Poincare
Es seien \(\Re \) ein normierter Vektorraum und \({\mathfrak{S}}\) ein Banachraum, beide ungleich {0}. Mit einer nichtleeren offenen Teilmenge O von \(\Re \) und und r ∈ ℕ0 sei \(\omega \in {{\mathfrak{A}}}_{r+1}^{(0)}\), d. h.
Unter dem Stichwort Wegunabhängigkeit des Kurvenintegrals ist ausgeführt, daß die Existenz von Stammfunktionen äquivalent zur Wegunabhängigkeit von Integralen ist.
Vorüberlegungen: Wenn \(\alpha :O\to {{\mathfrak{A}}}_{r}(\Re,{\mathfrak{S}})\) zweimal differenzierbar mit dα = ω existiert, dann ist dω = 0 (nach Regel von Poincaré).
Auch für \(\omega :O\to {{\mathfrak{A}}}_{r+1}(\Re,{\mathfrak{S}})\) beliebig oft differenzierbar mit dω = 0 folgt – für beliebiges O – nicht die Existenz einer Stammfunktion.
Für \(a,b\in \Re \) bezeichne \(\overline{ab}:=\{(1-t)a+tb|t\in [0,1]\}\) die Verbindungsstrecke von a nach b. Eine Teilmenge \({\mathfrak{M}}\) von \(\Re \) heißt genau dann sternförmig, wenn ein \({x}_{0}\in {\mathfrak{M}}\) so existiert, daß \(\overline{{x}_{0}x}\subset {\mathfrak{M}}\) für alle \(x\in {\mathfrak{M}}\) gilt. (Man kann von x0 aus alle Punkte von \({\mathfrak{M}}\), sehen‘.)
Lemma von Poincare
Ist O sternförmig und
Für Anwendungen – z. B. in der Elektrodynamik – wesentlich sind die Folgerungen im Falle eines 3-dimensionalen orientierten euklidischen Vektorraums \(\Re \) für sternförmiges O und stetig differenzierbare Abbildungen
(1) Es existiert ϕ: O → ℝ stetig differenzierbar mit f = grad ϕ genau dann, wenn rot f = 0.
(2) Es existiert \(g:O\to \Re \)stetig differenzierbar mit f = rotg genau dann, wenn divf = 0.
(3) Es existiert \(h:O\to \Re \)stetig differenzierbar mit div h = ψ.
Singuläre Quader, Ketten, Integrale Orientierte singuläre C1-Quader
Es seien n ∈ ℕ und \(\Re \ne \{0\}\) ein normierter Vektorraum. Für \(h,k:{[0,1]}^{n}\to \Re \) gelte h ∼ k genau dann, wenn eine bijektive stetig differenzierbare Abbildung \(\varphi :{[0,1]}^{n}\to {[0,1]}^{n}\) so existiert, daß det φ′(x) > 0 für alle x ∈ [0, l]n gilt, und φ−1 stetig differenzierbar ist mit k = h ○ φ.
∼ ist eine Äquivalenzrelation. Für eine stetig differenzierbare Abbildung \(h:{[0,1]}^{n}\to \Re \) heißt eine zugehörige Äquivalenzklasse Qn„orientierter singulärer n-dimensionaler C1-Quader in \(\Re \)“ und h eine Parameterdarstellung von Qn. Mit (Qn) := h([0, 1]n) notiert man den ‚Träger‘ von Qn. Entsprechend – mit det φ(x) < 0 – wird −Qn definiert. Qn heißt „orientierter singulärer n-dimensionaler C2-Quader in \(\Re \)“, wenn eine zweimal stetig differenzierbare Parameterdarstellung existiert.
Ergänzend setzt man noch für n = 0 : Für \(x\in \Re \) und η ∈ {−1, 1} heißt \({Q}^{0}:=(x,\eta)\) „orientierter 0-dimensionaler Quader in \(\Re \)“ mit \(-{Q}^{0}:=(x,-\eta)\) und \(({Q}^{0}):=\{x\}\).
Integrale von Feldern über C1-Quadern
Es seien wieder \(\Re \) ein normierter Vektorraum und \({\mathfrak{S}}\) ein Banaehraum, beide ungleich {0}, dazu mit n ∈ ℕ ein orientierter singulärer n-dimensionaler C1-Quader Qn in \(\Re \) mit Parameterdarstellung \(h,\,({{Q}^{n}})\subset \mathfrak{D}\subset \Re, \, f:\mathfrak{D}\to {{\mathfrak{A}}_{n}}(\Re, \mathfrak{S})\) stetig und e1, …, en die kanonische Einheitsbasis des ℝn: Man definiert
Ergänzend setzt man noch für n = 0 und Q0 := (x, η) mit \(x\in \Re, \eta \in \{-1,1\}\) für \(x\in {\mathfrak{D}}\subset \Re \) und stetiges \(f:{\mathfrak{D}}\to {{\mathfrak{A}}}_{0}(\Re, {\mathfrak{S}})(={\mathfrak{S}})\):
Ketten, Integrale über Ketten
Neben \(\Re, {\mathfrak{S}},O\) und n wie in vorangehenden Abschnitten seien v ∈ {1, 2} und \(f:O\to {{\mathfrak{A}}}_{n}(\Re, {\mathfrak{S}})\) stetig.
Man betrachtet mit \({{\mathfrak{O}}}_{\nu}^{n}(O)\) die Menge der orientierten singulären n-dimensionalen Cv-Quader Qn in \(\Re \) mit (Qn) ⊂ O und definiert damit „singuläre n-dimensionale Cv-Ketten in O“ als endliche Summen solcher Quader, genauer:
\({{\mathbb{K}}}_{\nu}^{n}(O)\) bezeichne die Gesamtheit der Abbildungen \({\mathfrak{K}}\) von \({{\mathfrak{O}}}_{\nu}^{n}(O)\) in \({\mathbb{Z}}\), für die gilt
Mit punktweise definierter Addition + ist \(({{\mathbb{K}}}_{\nu}^{n}(O),+)\) abelsche Gruppe. Für \({{\mathfrak{K}}}_{1},{{\mathfrak{K}}}_{2}\in {{\mathbb{K}}}_{l}^{n}(O)\) hat man:
Der Randoperator ∂
Es seien \(n\in {\mathbb{N}},\Re \) ein nicht-trivialer normierter Vektorraum und \(\varnothing \ne O\) offen \(\subset \Re \). Für einen orientierten singulären n-dimensionalen C1-Quader Qn in \(\Re \) mit einer Parameterdarstellung h sei
\({\partial}_{n}:{{\mathbb{K}}}_{1}^{n}(O)\to {{\mathbb{K}}}_{1}^{n-1}(O)\)isi linear und \({\partial}_{n}{\partial}_{n+1}=0\).
Integralsatz von Stokes (allgemeine Version)
In \({\mathbb{R}}\) lautet eine Folgerung aus dem Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung für stetig differenzierbares f:
Der nachfolgende – in einer einfachen Form auf George Gabriel Stokes zurückgehende – Satz liefert ein Analogon für wesentlich allgemeinere Situationen.
Es seien \(\Re \)ein normierter Vektorraum und \({\mathfrak{S}}\)ein Banachraum, beide nicht-trivial. Mit n ∈ ℕ und einer nicht-leeren offenen Teilmenge O von \(\Re \)sei
Die Beweisidee ist nicht besonders tiefliegend. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, den erforderlichen umfangreichen ‚Apparat‘ für eine saubere Formulierung und einen strengen Beweis bereitzustellen.
Spezialfälle: Glatte Quader
Es seien \(\{0\}\ne \Re \) normierter Vektorraum, n ∈ ℕ und \({Q}^{n}\in {{\mathfrak{O}}}_{1}^{n}(\Re)\). Qn heißt genau dann „glatt“, wenn eine injektive Parameterdarstellung h existiert, für die h′(x) für alle x ∈ [0, 1]n injektiv ist. Ist Qn glatt, so ist jede Parameterdarstellung k injektiv und k′(x) stets injektiv.
Für Teilmengen \({\mathfrak{M}}\) von (Qn) eines glatten Quaders können Meßbarkeit durch die Lebesgue-Meßbarkeit (im ℝn) der Urbilder h−1 (\({\mathfrak{M}}\)) erklärt werden. Das resultierende System \({{\mathbb{M}}}_{\omega}({Q}^{n})\) ist σ-Algebra über (Qn). Mittels der kanonischen Basis e1, …, en des ℝn kann auf diesen Mengen durch
Volumen in euklidischen Räumen
Es seien \((\Re, (\cdot |\cdot),{\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Vektorraum mit ℕ ∋ dim \(\Re =:n+1\) und \(({f}_{1},\ldots, {f}_{n+1})\) orientierte Orthonormalbasis. Mit dem kanonischen Isomorphismus \(\Phi :{{\mathbb{R}}}^{n+1}\to \Re \), definiert durch
Es seien \({Q}^{n+1}\in {{\mathfrak{O}}}_{1}^{n+1}(\Re)\)glatt mit einer Parameterdarstellung h, die \(({h}^{\prime}(x){e}_{1},\ldots,{h}^{\prime}(x){e}_{n+1})\in {\mathbb{O}}\)für alle \(x\in {[0,1]}^{n+1}\)erfüllt. Für eine stetig differenzierbare Abbildung \(f:({Q}^{n+1})\to \Re \)gilt dann:
Zirkulation
Es seien wieder \((\Re, (\cdot |\cdot),{\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Vektorraum mit ℕ ∋ dim \(\Re =:n+1\) und dazu \({Q}^{1}\in {{\mathfrak{O}}}_{1}^{1}(\Re)\) glatt.
Für y ∈ (Q1), h ∈ Q1 und X ∈ [0, 1] mit h(x) = y kann – unabhängig von dem speziellen h – der „Tangenteneinheitsvektor“
Für \(f:({Q}^{1})\to \Re \)stetig:
ω mißt die Kurvenlänge (Bogenlänge), die oft mit notiert wird. Die rechte Seite dieser Formel wird als „Zirkulation von f längs Q1“ bezeichnet.
Fluß
Es seien \((\Re, (\cdot |\cdot),{\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Vektorraum mit \({\mathbb{N}}\backslash \{1\}\ni \dim \Re =:n+1\), \({{Q}^{n}}\in \mathfrak{O}_{1}^{n}(\Re)\) glatt und (e1…, en) die kanonische Basis des ℝn.
Für y ∈ (Qn), h ∈ Qn und x ∈ [0, 1]n mit h(x) = y kann – unabhängig von dem speziellen h – der „Tangenteneinheitsvektor“
Für \(f:({Q}^{n})\to \Re \)stetig ist
Die rechte Seite der Integralbeziehung wird als „Fluß von f durch Q“ bezeichnet.
Divergenzsatz (Ostrogradski, Gauß)
Es seien \((\Re, (\cdot |\cdot),{\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Vektorraum mit \(\Re =:n+1,{Q}^{n+1}\in {{\mathfrak{O}}}_{2}^{n+1}(\Re)\) glatt, \({Q}^{n+1}\ni h\) zweimal stetig differenzierbar. Mit der kanonischen Basis \(({e}_{1},\ldots, {e}_{n+1})\) des \({{\mathbb{R}}}^{n+1}\) gelte \(({h}^{\prime}(x){e}_{1},\ldots,{h}^{\prime}(x){e}_{n+1})\in {\mathbb{O}}\) für alle \(x\in {[0,1]}^{n+1}\).
Für stetig differenzierbares \(f:({Q}^{n+1})\to \Re \)gilt:
Hieraus erhält man für ‚schöne‘ \({\mathfrak{K}}\in {{\mathbb{K}}}_{2}^{n+1}({\Re})\) (Summe von endlich vielen \({Q}^{n+1}\) wie oben)
Spezieller Satz von Stokes
Es seien abschließend \((\Re, (\cdot |\cdot),{\mathbb{O}})\) ein orientierter euklidischer Vektorraum der Dimension 3, \({Q}^{2}\in {{\mathfrak{O}}}_{2}^{2}(\Re)\) glatt und \(f:({Q}^{2})\to \Re \) stetig differenzierbar. Dann folgt
Abschließende Bemerkungen
Die hier skizzierte Darstellung der Vektoranalysis gibt den Blick ‚von oben‘ – koordinatenfrei und damit invariant. Erst anschließenä wird jeweils der auf Koordinaten bezogene Ausdruck hergeleitet. So ist auch die Anwendbarkeit ungemindert gegeben.
Literatur
[1] Barner, M.; Flohr F.: Analysis II. Walter de Gruyter Berlin, 1983.
[2] Cartan, H.: Differentialformen. Bibliogr. Inst. Mannheim, 1974.
[3] Holmann, H.; Rummler, H.: Alternierende Differentialformen. B.I.-Wissenschaftsverlag Mannheim, 1972.
[4] Jänich, K.: Vektoranalysis. Springer Berlin, 1993.
[5] Kaballo, W.: Einführung in die Analysis III. Spektrum Akademischer Verlag, 1999.
[6] Kellog, O.D.: Foundations of Potential Theory. Springer Berlin, 1967.
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