Lexikon der Mathematik: Vereinheitlichte Theorien spezieller Funktionen
betrachten spezielle Funktionen von einem höheren Standpunkt aus und verwenden andere Zweige der Mathematik, wie z. B. die Theorie der Lie-Gruppen, um zu Aussagen etwa über Additionstheoreme und Rekursionsformeln spezieller Funktionen zu gelangen. Viele spezielle Funktionen lassen sich so als Matrixelemente der Darstellung einer gewissen (lokalen) Lie-Gruppe auf analytischen Funktionen verstehen. Additionstheoreme und Rekursionsformeln ergeben sich dann auf natürliche Weise aus der Gruppenstruktur der Lie-Gruppe.
Genauer: Sei G eine lokale, n-dimensionale komplexe Lie-Gruppe, d. h. eine Abbildung φ : V × V → ℂn, definiert auf einer Umgebung V des Ursprungs e := 0 von ℂn mit den Eigenschaften
- Die Abbildung φ ist analytisch in beiden Argumenten.
- Sind g, h und k in V und auch φ(g, h) ∈ V und φ(h, k) ∈ V, so gilt φ(φ(g, h), k) = φ(g, φ(h, k)).
- Für alle g ∈ V gilt φ(e, g) = φ(g, e) = e.
Der Tangentialraum TeG an G in e, beispielsweise realisiert durch Tangentialvektoren von Kurven γ : [a, b] → G durch γ(0) = e, ist damit auch im Falle einer lokalen Lie-Algebra wohldefiniert, und man erhält auf kanonische Weise die Lie-Algebra \({\mathfrak{G}}\) der (lokalen) Lie-Gruppe G. Die Lie-Klammer von \({\mathfrak{G}}\) soll wie üblich mit [·, ·] notiert werden. Die Gruppenstruktur von G ausnutzend, kann man nun ein Element g in G auch mit einem Isomorphismus von \({T}_{e}G={\mathfrak{G}}\) nach TgG identifizieren, indem man die einen Tangentialvektor X = γ′(0) definierende Kurve γ(t) auf γ(t)g abbildet. Da diese Kurve zur „Zeit“ t = 0 durch den Punkt g geht, definiert ihr Tangentialvektor an diesem Punkt also einen Vektor im Tangentialraum TgG.
Auf diese Weise definiert man die Exponentialabbildung von \({\mathfrak{G}}\) in eine Umgebung von e in G durch die eindeutige Lösung des Anfangswertproblems
Man stelle nun die Lie-Algebra \({\mathfrak{G}}\) als Differentialoperation erster Ordnung auf den analytischen Funktionenkeimen \({{\mathcal{A}}}_{{z}_{0}}\) an einem Punkt z0 ∈ ℂm dar, d. h., jedes \({\mathfrak{G}}\) in der Lie-Algebra wird durch einen Differentialoperator DX dargestellt, der auf in einer Umgebung W ⊂ ℂm um z0 definierte analytischen Funktionen \(f\in {\mathcal{A}}(W,{\mathbb{C}})\) wirkt, wobei weiterhin
Ebenso wie die Lie-Ableitung LX zu einer Darstellung von G als Diffeomorphismen von W führt, erzeugen die „verallgemeinerten Lie-Ableitungen“ DX eine „Multiplikatordarstellung“ der lokalen Lie-Gruppe auf den analytischen Funktionskeimen. Definiert man nämlich Operatoren \(\text{T}:G\times {{\mathcal{A}}}_{{z}_{0}}\to {{\mathcal{A}}}_{{z}_{0}}\) durch
Berechnet man nun die Wirkung von T auf einem fest gewählten, unter der Wirkung von T abgeschlossenen Unterraum \({\mathcal{V}}\) von \({{\mathcal{A}}}_{{z}_{0}}\), und stellt τ als Matrixelemente bezüglich einer Basis von \({\mathcal{V}}\) dar, so erweisen sich besagte Matrixelemente bei richtig gewählter Gruppe und Basis als spezielle Funktionen. Ist also {vk}k∈ℕ eine Basis von analytischen Funktionen von \({\mathcal{V}}\), so schreiben wir, vorerst formal,
Dadurch, daß T eine Darstellung der lokalen Lie-Gruppe G bildet, entstehen auf natürliche Weise Additionstheoreme für die speziellen Funktionen \({T}_{k}^{l}\), nämlich
Sei nun \({\mathcal{V}}\subset {{\mathcal{A}}}_{1}\) der Abschluß des Raumes aller Potenzfunktionen vl(z;) = zl, l ∈ ℤ, unter Linearkombinationen und der Wirkung von T. Die Funktionen vl bilden hierbei bereits eine analytische Basis von \({\mathcal{V}}\), da jede Funktion in \({\mathcal{V}}\) analytisch bis auf den Punkt z = 0 ist und sich demnach für z ≠ 0 eindeutig in eine Laurent-Reihe \(f(z)=\sum_{n=-\infty}^{{\infty}}\,{{a}_{n}}{{z}^{n}}\) entwickeln läßt, die bis auf den Punkt z = 0 auch konvergent ist. Definieren wir nun die Matrixelemente \({T}_{k}^{l}(\text{g})\) analog zu oben durch
[1] Miller, W.: Lie Theory and Special Functions. Academic Press, 1968.
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