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Lexikon der Mathematik: verselle Deformation

wichtiges Konzept für viele Bereiche der Mathematik, insbesondere die Singularitätentheorie.

Eine Familie, die lokal (in der Umgebung eines festen Wertes der Parameter) betrachtet wird, heißt eine „Deformation“ des Objektes zu diesem Wert der Parameter. Es kann gezeigt werden, daß das Studium aller möglichen Deformationen in vielen Fällen auf das Studium einer einzigen Deformation reduziert werden kann, in gewisser Weise der größten; alle anderen Deformationen kann man aus ihr erhalten. Solche Deformationen heißen „verseil“.

Ein erstes Beispiel: Eine Deformation in der Kategorie der analytischen Algebren ist wie folgt gegeben: Sei \( {{A}_{0}}=\mathbb{C}\left\{{{x}_{1}},...,{{x}_{n}} \right\}/{{J}_{0}} \) eine analytische Algebra. Eine Deformation von A0 mit der Basis B ist eine flache B-Algebra A so, daß \( A/{{\mathfrak{M}}_{B}}A \) zu A0 isomorph ist. Dabei ist \( {{\mathfrak{M}}_{B}} \) das Maximalideal von B, und A und B sind analytische Algebren. Geometrisch entspricht A0 ein Kern eines komplexen Raums X0, der Keim der Nullstellenmenge von J0. Entsprechend gehören zu A und B Keime von komplexen Räumen X und T und eine Abbildung π : XT so, daß die Faser in 0 ∈ T isomorph X0 ist. T ist der Basisraum der Deformation. Sei etwa \begin{eqnarray} \begin{array}{*{35}{rcl}} {{A}_{0}} & = & \mathbb{C}\left\{x,y \right\}/\left({{y}^{2}}-{{x}^{3}} \right)\,, \\ B & =& \mathbb{C}\left\{u \right\}\to A=\mathbb{C}\left\{u,x,y \right\}/{{y}^{2}}-{{x}^{3}}-u{{x}^{2}}. \\ \end{array} \end{eqnarray}

Abbildung 1 zum Lexikonartikel verseile Deformation
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017
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Deformation y2X3UX2

Die Spitze X0 wird in den Doppelpunkt deformiert, eine verseile Deformation von A0 is gegeben durch \begin{eqnarray} \mathbb{C}\left\{s,t \right\}\to \mathbb{C}\left\{s,t,x,y \right\}/\left({{y}^{2}}-{{x}^{3}}-ts-s \right). \end{eqnarray} Die obige Deformations BA von A0 kann wie folgt induziert werden: Es ist \begin{eqnarray} \begin{array}{*{35}{l}} {{y}^{2}}-{{x}^{3}}-u{{x}^{2}} & ={{y}^{2}}-{{\left(x+\frac{u}{3} \right)}^{3}} \\ {} & +\displaystyle\frac{{{u}}}{3}^{2}\left(x+\frac{u}{3} \right)-\frac{2}{27}{{u}^{3}}. \\ \end{array} \end{eqnarray} Damit wird die Deformation durch die Abbildung \begin{eqnarray}\begin{array}{l}\pi :{\mathbb{C}}\{s,t,x,y\}/({y}^{2}-{x}^{3}-tx-s)\to {\mathbb{C}}\{u,x,y\}/({y}^{2}-{x}^{3}-u{x}^{3}),\\\quad \pi (s)=-\frac{2{u}^{3}}{27},\pi (t)=\frac{{u}^{3}}{3},\\\quad \pi (x)=x+\frac{u}{3},\pi (y)=y\end{array}\end{eqnarray} induziert.

Allgemeine Situation. Das Wort „verseil“ ist aus den Wörtern „universell“ und „transversal“ gebildet worden, da eine Eindeutigkeit nicht existieren muß, und Transversalität zu einer geeigneten Teilmenge im Funktionenraum ein charakteristisches Merkmal einer verseilen Deformation ist.

Endlichdimensionaler Fall. Sei G eine Lie-Gruppe, die auf einer Mannigfaltigkeit M operiert, und ƒ ∈ M. Eine Deformation von IST ein glatter Abbildungskeim F von einer Mannigfaltigkeit Λ (genannt die Basis der Deformation) nach M an einer Stelle 0 von Λ so, daß F(0) = f ist. Man betrachtet zwei Deformationen F und F′ von ƒ mit derselben Basis Λ. Diese beiden Deformationen heißen äquivalent, wenn die eine durch die Operation eines Elementes g(λ) ∈ G glatt (in Abhängigkeit von λ ∈ Λ) in die andere überführt werden kann, d. h., wenn \begin{eqnarray} {F}^{\prime}(\lambda)=g(\lambda)F(\lambda), \end{eqnarray} wobei g eine Deformation des Einselementes von G ist.

Sei \( \varphi :({\Lambda}^{\prime},0)\to (\Lambda, 0) \) eine glatte Abbildung. Die mit φ durch F induzierte Deformation ist die Deformation φ*F von ƒ mit Basis Λ′, die durch die folgende Formel definiert ist: \begin{eqnarray} \left({{\varphi}^{*}}F \right)\left({{\lambda}^{\prime}} \right)=F(\varphi (\lambda)). \end{eqnarray} Eine Deformation F von f heißt verseil, wenn jede Deformation von f äquivalent zu einer von F induzierten Deformation ist. Eine verseile Deformation heißt miniversell, wenn die Dimension der Basis den kleinstmöglichen Wert hat. Es gilt der folgende Satz:

Eine minimale Transversale an der Stelle f zum Orbit Gf von f in M ist eine miniverselle Deformation von f.

Diese Konstruktionen sollen auf den Fall übertragen werden, in dem M ein Funktionenraum glatter Abbildungen und G eine unendlichdimensionale Transformationsgruppe ist.

Beispiel: Rechtsäquivalenz von Funktionen.

Sei \( f:({{\mathbb{R}}^{m}},0)\to \mathbb{R} \) ein glatter Abbildungskeim. Eine Deformation von f mit Basis \( \Lambda ={{\mathbb{R}}^{l}} \) ist der Keim an der Stelle 0 eines glatten Abbildungskeimes \( F:({{\mathbb{R}}^{m}}\times {{\mathbb{R}}^{l}},0)\to \mathbb{R} \), für den gilt \( F\left(x,0 \right)\equiv f(x) \). Eine Deformation F′ ist (rechts)äquivalent zu F, wenn gilt \begin{eqnarray} {F}^{\prime}(x,\lambda)\equiv F(g(x,\lambda),\lambda), \end{eqnarray} wobei \( g:({{\mathbb{R}}^{m}}\times {{\mathbb{R}}^{l}},0)\to ({{\mathbb{R}}^{m}},0) \) ein glatter Keim mit g(x, 0) ≡ x ist. Die Deformation F′ wird von F induziert, wenn \begin{eqnarray} {F}^{\prime}(x,{\lambda}^{\prime})\equiv F(x,\varphi ({\lambda}^{\prime})), \end{eqnarray} wobei \( \varphi :({{\mathbb{R}}^{{{l}^{\prime}}}},0)\to ({{\mathbb{R}}^{l}},0) \) ein glatter Keim ist. Daher ist die Deformation F von f (rechts- oder R-) verseil, wenn jede beliebige Deformation F′ dieses Keimes darstellbar ist in der Form \begin{eqnarray} \begin{array}{*{35}{rcl}} {F}^{\prime}(x,{\lambda}^{\prime}) & \equiv & F(g(x,{\lambda}^{\prime}),\varphi ({\lambda}^{\prime})), & {} \\ g(x,0) & \equiv & x,\varphi (0)=0.\\ \end{array} \end{eqnarray} Beispielsweise ist die Deformation x2 + λ des Keimes x2 an der Stelle 0 R-versell.

Im Fall der links-rechts-(RL-)Äquivalenz wird (1) ersetzt durch \begin{eqnarray} \begin{array}{*{35}{rcl}} {F}^{\prime}(x,{\lambda}^{\prime}) & \equiv & kF(g(x,{\lambda}^{\prime}),\varphi ({\lambda}^{\prime}),{\lambda}^{\prime}), & {} \\ g(x,0) & \equiv & x,k(y,0)\equiv y,\varphi (0)=0.\\ \end{array} \end{eqnarray} Eine Deformation F von f ist V-versell (V von „Varietät“), wenn jede Deformation dieses Keimes darstellbar ist in der Form \begin{eqnarray} {F}^{\prime}(x,{\lambda}^{\prime})\equiv M(x,{\lambda}^{\prime})F(g(x,{\lambda}^{\prime}),\varphi ({\lambda}^{\prime})), \end{eqnarray} wobei M(0, 0) nicht-degeneriert ist, und g(x, 0) ≡ x, φ (0) = 0.

Infinitesimale Versalität. Sei F eine Deformation von ƒ mit Basis Λ, und seien λ1, λ2,…,λl Koordinaten auf Λ mit λ (0) = 0. Die Anfangsgeschwindigkeiten von F sind die Keime \begin{eqnarray} {{\left. {{{\dot{F}}}_{i}}=\frac{\partial F(x,{{\lambda}_{1}},\ldots, {{\lambda}_{l}})}{\partial {{\lambda}_{i}}} \right|}_{\lambda =0}},i=1,\ldots, l. \end{eqnarray} Eine Deformation F eines Keimes f heißt inifinite- simal verseil, wenn ihre Anfangsgeschwindigkeiten zusammen mit dem Tangentialraum an den Orbit von f den gesamten linearen Raum der Variationen von f erzeugen. Es gilt:

Die Bedingungenfür die infinitesimale Versalität einer Deformation F von \( f:\left({{\mathbb{R}}^{m}},0 \right)\to \left({{\mathbb{R}}^{n}},0 \right) \)für R-, RL- und V-Äquivalenz bestehen darin, daß für jede Variation a von f eine Darstellung der folgenden Form existiert:\begin{eqnarray} \begin{array}{*{35}{l}} \alpha (x)\equiv \sum\limits_{i=1}^{m}{\frac{\partial f}{\partial {{x}_{i}}}}{{h}_{i}}(x)+\sum\limits_{i=1}^{l}{{{c}_{i}}{{{\dot{F}}}_{i}}(x)} & (R\text{-}Versalit\ddot{a}t) \\ \alpha (x)\equiv \sum\limits_{i=1}^{m}{\frac{\partial f}{\partial {{x}_{i}}}}{{h}_{i}}(x)+k(f(x))+\sum\limits_{i=1}^{l}{{{c}_{i}}{{{\dot{F}}}_{i}}(x)} & (RE\text{-V}ersalit\ddot{a}t) \\ \alpha (x)\equiv \sum\limits_{i=1}^{m}{\frac{\partial f}{\partial {{x}_{i}}}}{{h}_{i}}(x)+\sum\limits_{j=1}^{n}{{{f}_{j}}(x)}{{k}_{j}}(x)+\sum\limits_{i=1}^{l}{{{c}_{i}}{{{\dot{F}}}_{i}}(x)} & (V\text{-V}ersalit\ddot{a}t) \\ \end{array} \end{eqnarray} .Diese Darstellungen zeigen, daß eine verseile Deformation infinitesimal verseil ist.

Beispielsweise ist die Deformation x3 + λx des Keimes x3 an der Stelle 0 infinitesimal RL-versell, aber weder R- noch V-infinitesimal verseil. Für alle drei Fälle (R-, RL-, V-Versalität) gilt das folgende Versalitäts-Theorem:

Eine infinitesimale verseile Deformation ist verseil.

[1] Arnold, V. I., Gusein-Zade, S. M., Varchenko, A. N.: Singularities of Differentiable Maps. Birkhäuser-Verlag Boston Basel Stuttgart, 1985.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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