Lexikon der Mathematik: Weierstraß, Karl Theodor Wilhelm
deutscher Mathematiker, geb. 31.10.1815 Ostenfelde (Westfalen), gest. 19.2.1897 Berlin.
Weierstraß war der Sohn des Sekretärs des Bürgermeisters von Ostenfelde. Der Vater trat 1823 in den preußischen Staatsdienst ein. Die oftmaligen Versetzungen seines Vaters führten für Weierstraß zu mehrfachen Elementarschulwechseln; seine Mutter starb bereits 1827. Trotz zeitweise bedrückender finanzieller Not ermöglichte der sehr gebildete Vater seinem Sohn ab 1829 den Besuch des Katholischen Gymnasiums in Paderborn. Mit glänzenden Zeugnissen verließ Weierstraß schon 1834 das Gymnasium und begann an der Universität Bonn Kameralistik zu studieren. Der erfolgreiche Abschluß eines Kameralistikstudiums eröffnete in Preußen die höhere Beamtenlaufbahn.
In Bonn begann Weierstraß ernsthaft über eine berufliche Tätigkeit als Mathematiker nachzudenken, vernachlässigte über die von seinen Lehrern teilweise noch geförderten mathematischen Interessen seine eigentlichen Studien und verließ 1838 die Universität ohne Abschluß. Im Jahre 1839 konnte der Vater seinen Sohn bewegen, in die Akademie in Münster einzutreten. Ziel des Studiums dort war das Lehrerexamen. In Münster hatte Weierstraß mit dem Mathematiker Ch. Gudermann (1798-1852) seinen einzigen kompetenten und verständnisvollen mathematischen Lehrer. Gudermann las in Münster, wohl als einziger neben C.G.J. Jacobi in Deutschland, über elliptische Funktionen, und lenkte seinen Schüler auf dieses Forschungsgebiet. Im Herbst 1839 ließ sich Weierstraß exmatrikulieren, um sich auf das Staatsexamen vorzubereiten. 1840 bestand er das schriftliche Staatsexamen mit einer großartigen Arbeit über elliptische Funktionen, betitelt „Über die Entwicklung der Modularfunctionen”. Teile der Arbeit wurden erstmals 1856 veröffentlicht. In seiner Berliner akademischen Antrittsrede hat Weierstraß später bemerkt: Ein verhälinismäßig noch junger Zweig der maihemaiischen Analysis, die Theorie der elliptischen Functionen ... haiie ... einemäch- iige Anziehungskraft (auf mich aus-)geübi, die auf den ganzen Gang meiner maihemaiischen Ausbildung von bestimmendem Einfluß geblieben isi.
Wohl auch in Münster 1841 entstand die „Darstellung einer analytischen Funktion, deren absoluter Betrag zwischen zwei Grenzen liegt”. Diese Arbeit, erst 53 Jahre später veröffentlicht, beweist, daß Weierstraß schon damals die Grundlagen der Theorie der analytischen Funktionen vollständig beherrschte. Es muß bemerkt werden, daß die Datierung, vor allem auch der späteren Weierstraß- schen Forschungsergebnisse, schwierig ist, da er seine Resultate sehr oft nur mündlich bekanntgab und sie erst nach Jahrzehnten oder niemals schriftlich niederlegte.
In der Münsteraner Arbeit „Über continuirliche Functionen eines reellen Arguments ... “ (veröffentlicht 1875) führte Weierstraß den Begriff des gleichmäßigen Konvergenz einer Reihe ein. Im Gegensatz zu Gudermann und zu L. Seidel bzw. G.G.Stokes, die ähnliche Ideen hatten, war sich Weierstraß der grundlegenden Bedeutung dieses Begriffs für die Analysis vollständig bewußt.
1841 bestand Weierstraß auch die mündliche Lehramtsprüfung und wurde als Lehrer probeweise am Gymnasium in Münster angestellt. In den Jahren 1842 bis 1848 war er Lehrer am Katholischen Progymnasium in Deutsch-Krone (Walcz, Westpreußen). In Deutsch-Krone entstand die Arbeit „Über die Theorie der analytischen Facul- täten” (Schulprogramm, auch in Crelles Journal 51(1856)), ohne jedoch größere Aufmerksamkeit zu erregen.
Im Jahre 1848 wurde Weierstraß an das Katholische Gymnasium in Braunsberg (Braniewo, Ostpreußen) versetzt. Wie schon in Deutsch-Krone hat er auch in Braunsberg das ganze Spektrum an Unterrichtsfächern, bis hin zum Turnen, unterrichtet. Ein verständnisvoller Direktor ermöglichte Weierstraß jedoch das wissenschaftliche Arbeiten. 1854 erschien in „Crelles Journal” die Abhandlung, die das Leben Weierstraß’ ändern sollte: „Zur Theorie der Abelschen Functionen”. Diese Weierstraßsche Veröffentlichung war eine wissenschaftliche Sensation und wird bis heute als Meilenstein der Analysis gefeiert. Hier gab er u. a. die Lösung des Jacobischen Umkehrproblems. Zusammen mit einem Bericht für die Berliner Akademie von 1857 über die allgemeine Theorie der Abelschen Integrale begründete diese Abhandlung die „Weierstraßsche Theorie”, u. a. definierte er die Begriffe Rang, algebraisches Gebilde, „Weierstraßpunkte” und das Prinzip der analytischen Fortsetzung.
Für die „Theorie der Abelschen Functionen” verlieh ihm die Universität Königsberg die Ehrendoktorwürde, er wurde zum Oberlehrer befördert und erhielt für das Schuljahr 1855/56 Urlaub, um seine Studien in Berlin fortzusetzen. A.L. Crelle und J.P.G. Dirichlet waren die treibenden Kräfte, die für Weierstraß diese Forschungszeit ermöglichten. 1855 bewarb sich Weierstraß erfolglos um die Nachfolge E. Kummers in Breslau. Als man in Österreich erwog, Weierstraß in das Alpenland zu berufen, setzte A. von Humboldt durch, daß Weierstraß die „erste mathematische Lehrstelle” (Professur) am Berliner Gewerbeinstitut erhielt (1856). Vor allem auf Betreiben Kummers wurde Weierstraß im gleichen Jahr a.o. Professor der Berliner Universität und ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1862/63 las Weierstraß wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr am Gewerbeinstitut, 1864 wurde er ordentlicher Professor an der Universität.
Durch diese Berufung entstand an der Berliner Universität eine unvergleichbar glückliche Situation für das Studium der Mathematik und die mathematische Forschung. Das Zusammenwirken von Kummer, Weierstraß und Kronecker ermöglichte es nun, nach einem umfassenden ... Plan ... den maihemaiischen Unierrichi in der Weise zu organisieren, daß den Studierenden Gelegenheit gegeben ist, in einem zweijährigen Cursus eine beträchtliche Reihe von Vorträgen über die wichtigsten mathematischen Disciplinen in angemessener Aufeinanderfolge zu hören, darunter nicht wenige, die an anderen Universitäten gar nicht oder doch nicht regelmäßig gelesen werden (Weierstraß). Dieser Plan, in den das gesamte mathematische Personal der Universität einbezogen wurde, führte dazu, daß aus vielen Ländern die Studenten nach Berlin strebten, um dort Mathematik zu hören. Weierstraß selbst baute in seinen Vorlesungen das Gebäude seiner Mathematik lückenlos auf, ohne etwas vorauszusetzen, was er nicht selbst bewiesen hatte (C. Runge, 1926). Er gab gewöhnlich erst eine Übersicht über den Aufbau der Zahlenbereiche, dann die Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, behandelte elliptische Funktionen, die Anwendung der elliptischen Funktionen auf Probleme der Geometrie und Mechanik, die Theorie der Abelschen Funktionen und ihre Anwendung, und Variationsrechnung. Daneben hat er „gelegentlich” auch noch über synthetische Geometrie, mathematische Physik, analytische Dioptrik, trigonometrische Reihen und bestimmte Integrale gelesen. Die Weierstraßschen Vorlesungen waren höchst ungewöhnlich. Neben dem üblichen Vorlesungsstoff trug er seine neuesten, oft erst vor wenigen Stunden gewonnenen Forschungsergebnisse vor oder improvisierte sogar. Für Studenten waren diese Vorträge nur fruchtbar, wenn sie sich die Mühe machten, den Vorlesungsstoff auszuarbeiten. Unterstützt wurde das Studium durch das 1864 gegründete „Mathematische Seminar”, dessen Einrichtung Kummer und Weierstraß seit 1860 betrieben hatten. Zu den WeierstraßSchülern gehörten u. a. H. Bruns, G. Cantor, L. Fuchs, G. Frobenius, S. Kowalewskaja, G. Mittag- Leffler, C. Runge, F. Schottky, H.A. Schwarz und W. Thomé.
In den Jahren 1873/74 war Weierstraß Rektor der Berliner Universität.
Weierstraß hat die Analysis „reformiert”. Bereits 1841 besaß er die „Theorie der wesentlich sin- gulären Punkte”. 1860/79 gab er den „Vorbereitungssatz”. In einer Vorlesung von 1861 führte er die ϵ-δ-Symbolik ein und definierte die modernen Begriffe „Stetigkeit”, „Grenzwert” und „unendlich kleine Größe”, stellte 1865/66 seine Theorie der reellen Zahlen vor, und definierte den Begriff „Häufungspunkt”. 1872 konstruierte er als erster nach Bolzano das Beispiel einer auf \({\mathbb{R}}\) stetigen Funktion, die in keinem Punkt von \({\mathbb{R}}\)differenzierbar ist. Bereits 1840 hatte er die „Weierstraßschen Funktionen” eingeführt und später ihre Eigenschaften ausgearbeitet. Er untersuchte hyperkomplexe Zahlensysteme (1863/84) und führte 1868 die „Elementarteilertheorie” ein. 1882 trug er den berühmten Lindemannschen Beweis für die Transzendenz von π in der Berliner Akademie vor und ergänzte ihn, wie schon früher J. Steiners Beweis (1836) für die Minimaleigenschaften des Kreises, an wesentlichen Stellen.
Der bedeutsamste Beitrag von Weierstraß zur Mathematik war, trotz aller großartigen „Einzelergebnisse”, die „Weierstraßsche Strenge”: Die Arithme- tisierung und Entmystifizierung der Analysis und ihrer Grundlagen. Wenn heute in Verfolgung der Schlußweisen, die auf dem Begriff der Irrationalzahl und überhaupt des Limes beruhen, in der Analysis volle Übereinstimmung und Sicherheit herrscht, und in den verwickelsten Fragen, die die Theorie der Differential- und Integralgleichungen betreffen, trotz der kühnsten und mannigfaltigsten Kombinationen unter Anwendung von Über-, Neben- und Durcheinander-Häufung der Limites doch Einhelligkeit aller Ergebnisse statthat, so ist dies wesentlich ein Verdienst der wissenschaftlichen Tätigkeit von Weierstraß (D. Hilbert, 1926).
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