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Lexikon der Mathematik: Wirtinger-Kalkül

eine Methode zur übersichtlichen Darstellung der Ableitung komplexer Funktionen.

Es seien G ⊂ ℂ ein Gebiet und f = u + iv : G → ℂ eine Funktion, die im Sinne der reellen Analysis in G differenzierbar ist. Dann existieren in G die reellen partiellen Ableitungen \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}\displaystyle\frac{\partial f}{\partial x}=\frac{\partial u}{\partial x}+i\frac{\partial v}{\partial x} & \text{und} & \displaystyle\frac{\partial f}{\partial y}=\frac{\partial u}{\partial y}+i\frac{\partial v}{\partial y}\end{array}.\end{eqnarray}

Daneben führt man die komplexen partiellen Ableitungen \begin{eqnarray}\partial f=\frac{\partial f}{\partial z}:=\frac{1}{2}\left(\frac{\partial f}{\partial x}-i\frac{\partial f}{\partial y}\right)\end{eqnarray}

und \begin{eqnarray}\bar{\partial}f=\frac{\partial f}{\partial \bar{z}}:=\frac{1}{2}\left(\frac{\partial f}{\partial x}+i\frac{\partial f}{\partial y}\right)\end{eqnarray}

ein, die man auch Wirtinger-Ableitungen nennt.

Dann gelten die Gleichungen \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\displaystyle\frac{\partial f}{\partial x}=\partial f+\bar{\partial}f, & \displaystyle\frac{\partial f}{\partial y}=i(\partial f-\bar{\partial}f).\end{array}\end{eqnarray}

Es werden die grundlegenden Eigenschaften und Rechenregeln für die Differentialoperatoren ∂ und \(\bar{\partial}\) zusammengestellt.

(1) Die Operatoren ∂ und \(\bar{\partial}\) sind ℂ-linear, d. h. für a, b ∈ ℂ und reell differenzierbare Funktionen f, g : G → ℂ gilt \begin{eqnarray}\begin{array}{lll}\partial (af+bg) & = & a\partial f+b\partial g,\\ \bar{\partial}(af+bg) & = & a\bar{\partial}f+b\bar{\partial}g.\end{array}\end{eqnarray}

Ebenso gilt die Produktregel und die Quotientenregel wie für reelle partielle Ableitungen.

(2) Für jede reell differenzierbare Funktion f : G → ℂ gilt \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\bar{\partial}f=\overline{\partial \bar{f}}, & \bar{\partial}\bar{f}=\overline{\partial f}\end{array}.\end{eqnarray}

(3) Es sei f : G → ℂ eine reell differenzierbare Funktion. Dann ist f eine holomorphe Funktion in G genau dann, wenn \(\bar{\partial}f=0\). In diesem Fall gilt f′ = ∂f.

Weiter ist f eine antiholomorphe Funktion in G genau dann, wenn ∂f = 0. Dann gilt \({\bar{f}}{^{\prime}}=\overline{\bar{\partial}f}\).

Die Gleichung \(\bar{\partial}f=0\) ist gerade die Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung, also eine Kurzform der Cauchy-Riemann-Gleichungen.

Es seien f : G → ℂ und \(g:\hat{G}\to {\mathbb{C}}\) reell differenzierbare Funktionen mit \(f(G)\subset \hat{G}\). Dann ist auch h := g ° f : G → ℂ reell differenzierbar in G, und mit ζ = f(z) gelten für jedes z0G die Kettenregeln \begin{eqnarray}\frac{\partial h}{\partial z}({z}_{0})=\frac{\partial g}{\partial \zeta}(f({z}_{0}))\frac{\partial f}{\partial z}({z}_{0})+\frac{\partial g}{\partial \bar{\zeta}}(f({z}_{0}))\frac{\partial \bar{f}}{\partial z}({z}_{0})\end{eqnarray}

und \begin{eqnarray}\frac{\partial h}{\partial \bar{z}}({z}_{0})=\frac{\partial g}{\partial \zeta}(f({z}_{0}))\frac{\partial f}{\partial \bar{z}}({z}_{0})+\frac{\partial g}{\partial \bar{\zeta}}(f({z}_{0}))\frac{\partial \bar{f}}{\partial \bar{z}}({z}_{0}).\end{eqnarray}

(5) Es sei f = u + iv: G → ℂ eine reell differenzierbare Funktion. Dann gilt für die Jacobi-Determinante von f\begin{eqnarray}\begin{array}{lll}{J}_{f} & = & \det \left(\begin{array}{cc}\displaystyle\frac{\partial u}{\partial x} & \displaystyle\frac{\partial u}{\partial y}\\ \displaystyle\frac{\partial v}{\partial x} & \displaystyle\frac{\partial v}{\partial y}\end{array}\right)=\det \left(\begin{array}{cc}\partial f & \bar{\partial}f\\ \partial \bar{f} & \bar{\partial}\bar{f}\end{array}\right)\\ & = & |\partial f{|}^{2}-|\bar{\partial}f{|}^{2}.\end{array}\end{eqnarray}

Wie in der reellen Analysis kann man auch komplexe partielle Ableitungen höherer Ordnung betrachten wie z. B. \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}{\partial}^{2}f:=\partial (\partial f), & \bar{\partial}\partial f:=\bar{\partial}(\partial f),\end{array}\end{eqnarray}

sofern f hinreichend oft reell differenzierbar ist. Ist f : G → ℂ zweimal stetig reell differenzierbar und bezeichnet \begin{eqnarray}\Delta f=\frac{{\partial}^{2}f}{\partial {x}^{2}}+\frac{{\partial}^{2}f}{\partial {y}^{2}}\end{eqnarray}

den Laplace-Operator, so gilt \begin{eqnarray}\Delta f=4\partial \bar{\partial}f=4\bar{\partial}\partial f.\end{eqnarray}

Um die Nützlichkeit dieses Kalküls zu demonstrieren, wird noch eine interessante funktionentheoretische Anwendung betrachtet. Sind f und g

holomorphe Funktionen in G, so ergibt sich aus den Rechenregeln für ∂ und \(\bar{\partial}\) die Formel \begin{eqnarray}\bar{\partial}\partial (f\cdot \bar{g})={f}{^{\prime}}\cdot \overline{{g}{^{\prime}}}.\end{eqnarray}

Hiermit kann man sehr schnell folgenden Satz beweisen.

Es seien f1, f2, …, fn, n ∈ ℕ holomorphe Funktionen in G, und die Funktion\begin{eqnarray}\phi :=|{f}_{1}{|}^{2}+|{f}_{2}{|}^{2}+\cdots +|{f}_{n}{|}^{2}\end{eqnarray}

sei in G konstant. Dann sind auch die Funktionen f1, f2, …, fn in G konstant.

Es ist φ unendlich oft reell differenzierbar in G, und da φ in G konstant ist, folgt mit der obigen Formel \begin{eqnarray}0=\bar{\partial}\partial \phi =\displaystyle \sum _{k=1}^{n}\bar{\partial}\partial ({f}_{k}\overline{{f}_{k}})=\displaystyle \sum _{k=1}^{n}{{f^{\prime}_{k}}}\overline{{{f^{\prime} _{k}}}}=\displaystyle \sum _{k=1}^{n}|{{f^{\prime}_{k}}}{|}^{2}.\end{eqnarray}

Dies impliziert \({f^{\prime} _{k}}=0\) in G für k = 1, 2, …, n und daher die Behauptung.

Abschließend sei bemerkt, daß die Differentialoperatoren ∂ und \(\bar{\partial}\) auch in der Theorie der quasikonformen Abbildungen eine wichtige Rolle spielen.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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