Lexikon der Neurowissenschaft: Befindlichkeitsstörungen
Befindlichkeitsstörungen, unspezifische subjektive Beschwerdesyndrome (meist Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit, Leistungsschwäche, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder wandernde Schmerzen), die bei bestimmten Berufsgruppen oder unter bestimmten sozialen Voraussetzungen auftreten, aber mit keinen (eindeutigen) körperlich-neurologischen Befunden einhergehen. Sie sind oft durch starke Selbstbeobachtung und eine Eingrenzung des Erlebens auf die Symptome und deren unterstellte Ursachen gekennzeichnet, treten häufig als soziale "Modeerscheinungen" auf und sind fast ausschließlich in wohlhabenden Industrienationen mit großzügigen Sozialversicherungssystemen dokumentiert. Die Störungen sind dort relativ weit verbreitet und von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung. Über psychische Ursachen herrscht Unklarheit, der Einfluß von Medien und Interessengruppen ist nicht zu unterschätzen ( siehe Zusatzinfo ). Befindlichkeitsstörungen werden versicherungsrechtlich und juristisch anerkannt, obwohl medizinische Fachgesellschaften sie überwiegend nicht als Krankheiten akzeptieren. Trotz solcher Zweifel an ihrer "Echtheit" können Befindlichkeitstörungen die Lebensqualität stark beeinträchtigen und bis zur Berufsunfähigkeit (aus körperlichen oder psychischen Gründen) führen. chronisches Halswirbelsäulen-Schleudertrauma, chronisches Müdigkeitssyndrom, chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp, Fibromyalgiesyndrom, idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeit, Sick-Building-Syndrom.
Befindlichkeitsstörungen
Es wird diskutiert, daß Befindlichkeitsstörungen massenpsychologische Phänomene sind, die zivilisationsbedingte Ängste ausdrücken. Zu ihrer Ausbreitung könnte medizinische Aufklärung ebenso beitragen wie die publikumswirksame Verbreitung unbewiesener Annahmen in den Medien. Fehlende Objektivierbarkeit spricht allerdings noch nicht gegen eine reale Grundlage für diese Gruppe von Beschwerden, wohl aber ihr wellenförmiges Auftreten und die geographisch unterschiedliche Inzidenz unter gleichen Arbeitsbedingungen, die mit sozialmedizinischen Gegebenheiten einschließlich Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen und Entschädigungen korreliert. Auch früher gab es Befindlichkeitsstörungen, z.B. Railway spine, ein auf Erschütterungen zurückgehendes Phänomen der Wirbelsäulen-Beeinträchtigung, als die Eisenbahn eingeführt wurde. Vermutlich waren die Erschütterungen in den Pferdekutschen aber wesentlich stärker. Railway spine geriet bald wieder in Vergessenheit. Ebenso verschwand die Eisenbahnerhand in Australien, nachdem diese "Diagnose" in den 1920er Jahren nicht mehr als Krankheit anerkannt wurde – zuvor hatte sie den Bau von Bahnlinien fast epidemieartig lahmgelegt. Auch heute tauchen Handbeschwerden bei einseitiger körperlicher Tätigkeit wieder auf, z.B. als Mausarm oder Keyboardhand.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.