Lexikon der Neurowissenschaft: Bewußtseinsstörungen
Bewußtseinsstörungen, Bewußtseinstrübungen, Bewußtseinsveränderungen, Edisturbances of consciousness, quantitative und/oder qualitative Störungen oder andere Veränderungen des als Bewußtsein bezeichneten Zustands der Wachheit oder Vigilanz. Verringertes Bewußtsein umfaßt reduzierte Bewußtheit ("Dösen"), Somnolenz (Benommenheit), Stupor (Antriebslosigkeit) und Bewußtlosigkeit (Koma). Ein Koma kann durch ein Schädel-Hirn-Trauma (z.B. infolge eines Verkehrsunfalls) ausgelöst werden. Ursachen eines posttraumatischen Komas sind meist Schädigungen der Formatio reticularis des Mesencephalons bzw. der zur Großhirnrinde aufsteigenden reticulären Bahnen, seltener der thalamischen Umschaltkerne (intralaminäre Kerne) oder der Großhirnrinde selbst (Bewußtsein). Weitere mögliche Ursachen für Bewußtlosigkeit sind Durchblutungsstörungen, Sauerstoff- und Vitaminmangel, Intoxikationen durch Alkohol, Narkotika, Sedativa, psychotrope Drogen (Psychopharmaka), Erkrankungen peripherer Organe, Entzündungen des Zentralnervensystems und Epilepsie. Auch hier wird als unmittelbarer Grund vornehmlich eine Beeinträchtigung der reticulären Formation des Mittelhirns angenommen. Verschiedene Bewußtseinsstufen und -trübungen zeigen sich im Elektroencephalogramm. So kommt es z.B. bei fast allen Komazuständen zu einer Abnahme der Frequenz vom Alpha-Rhythmus des Wachzustands (8-13 Hz) zum charakteristischen Delta-Rhythmus des Komas (1-3 Hz). Neben der Beeinträchtigung des allgemeinen Bewußtseinszustandes gibt es spezifischere Bewußtseinstrübungen und -veränderungen, die in aller Regel mit Schädigungen von Teilen der Großhirnrinde auftreten und sensorische, kognitive, emotionale und motorische Zustände und Leistungen betreffen ( siehe Zusatzinfo ). Bewußtseinsveränderungen treten ferner auch im Zusammenhang mit Schizophrenie auf. Hierzu gehören desorganisiertes Denken und Sprechen, z.B. in Form von gelockerten Assoziationen oder Zerfahrenheit, Neologismen, Perseveration, Alliteration und Witzelsucht. Ebenso gibt es gesteigerte Wahrnehmungen und Halluzinationen im auditorischen Bereich ("Stimmenhören") sowie taktile, visuelle, gustatorische und olfaktorische Halluzinationen. Besonders tiefgreifende Bewußtseinsveränderungen stellen psychotische Wahnvorstellungen, z.B. in Form von Verfolgungswahn, Beziehungswahn und Größenwahn dar.
Bewußtseinsstörungen
spezifische Bewußtseinstrübungen und ihre Ursachen:
Im Bereich des Sehens gibt es visuelle Agnosien, zu denen Blindsehen (der Verlust bewußten Sehens, vor allem nach Läsionen im Bereich des primären visuellen Cortex), apperzeptive Agnosie (Verlust jeglicher Objekterkennung bei Erhalt visueller Grundfunktionen nach großflächigen Schädigungen des lateralen Occipitallappens), Prosopagnosie (Verlust der Gesichtererkennung nach Läsionen im Grenzbereich zwischen unterem Occipital- und Temporallappen), Alexie (Beeinträchtigung des Lesens nach Läsion des Gyrus fusiformis und lingualis im temporo-occipitalen Cortex), visuell-räumliche Agnosie (Unfähigkeit, sich in vertrauter Umgebung zurechtzufinden, nach Verletzung vor allem der rechten occipito-temporalen Region) sowie der Verlust visueller Vorstellungen (nach Läsionen der parieto-occipitalen linken Hemisphäre). Weitere Einschränkungen bewußten Erlebens sind taktile Agnosie (Störung der Objektwahrnehmung mit Hilfe des Tastsinns, oberer posteriorer Parietallappen [PP]), Agraphie (Störungen der Schreibfähigkeit, unterer PP), Akalkulie (unterer linker PP), Apraxie (Verlust feingesteuerter Bewegungen, unterer hinterer linker PP), konstruktive Apraxie (Unfähigkeit, Objekte zusammenzusetzen, aufzubauen oder etwas zu zeichnen, beidseitige oder einseitige Parietallappen-Läsionen), gestörtes Körperbild (Läsion im Feld PE des Parietallappens). Eine besonders auffallende Bewußtseins- und Aufmerksamkeitsstörung ist ein Neglect, meist einseitig als Hemineglect, d.h. das Nichtbeachten von Geschehnissen in einer Hälfte der Erlebniswelt, z.T. einschließlich einer Hälfte des eigenen Körpers (nach Läsionen des – meist rechten – Parietallappens). Verwandt hiermit ist die Anosognosie, d.h. das Leugnen oder Nichtgewahrwerden von Erkrankungen oder Defekten des eigenen Körpers; auch hier wird eine Schädigung des Parietallappens angenommen. Zerstörung des inferotemporalen und medial-temporalen Cortex einschließlich der Hippocampusformation führen zu anterograder und retrograder Amnesie, d.h. zu zurückreichender und voranschreitender Beeinträchtigung des deklarativen Lernens und Gedächtnisses. Fehlende Kategoriebildung tritt nach Zerstörung des linken unteren Temporallappens auf, affektive Persönlichkeitsveränderungen vornehmlich nach Zerstörung des rechten unteren Temporallappens. Läsionen des präfrontalen Cortex im Bereich von A44 führen zur Broca-Aphasie, d.h. der Beeinträchtigung von Grammatik und Syntax. Läsionen im dorsolateralen präfrontalen Cortex (A9, A46) führen zum Verlust des divergenten Denkens, der umweltgesteuerten Verhaltenskontrolle, des assoziativen Lernens und des Arbeitsgedächtnisses. Spontaneität des Verhaltens sowie soziales, ethisch-moralisches Verhalten und das Abschätzen der Risiken eigenen Verhaltens sind nach Läsionen des medialen und orbitofrontalen präfrontalen Cortex beeinträchtigt.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.