Lexikon der Neurowissenschaft: Kognitive Neurowissenschaft
Essay
Werner X. Schneider und Wolfgang Prinz
Kognitive Neurowissenschaft
Definition und Geschichte
Experimentelle Psychologie und Neurowissenschaft teilen einen Gegenstandsbereich, nämlich die Untersuchung elementarer psychischer Leistungen. Dazu gehören Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lernen, Motorik, Denken und Problemlösen, Sprache sowie Emotionen und Motivation. Trotz dieses gemeinsamen Gegenstandsbereichs wurde in Psychologie und Neurowissenschaft bis in die 1980er Jahre hinein weitgehend getrennt und mit wenig Querbezug geforscht. Die experimentelle Psychologie/Psychophysik beschäftigte sich bis dahin primär mit der Erhebung von Daten auf Verhaltensebene, während sich die Neurowissenschaft vorrangig mit der Ebene des Zentralnervensystems befaßte. Im Bereich der Theoriebildung ließ sich ebenfalls eine Parallelentwicklung konstatieren: Neurowissenschaftliche Theorien zu elementaren psychischen Leistungen wurden zumeist in einer substratbezogenen Weise formuliert, wohingegen in der experimentellen Psychologie/Psychophysik die Beschreibungsebene der Informationsverarbeitung gewählt wurde, die vom Substrat abstrahiert. Philosophisch gerechtfertigt wurde diese parallele und unabhängige Entwicklung von Psychologie und Neurowissenschaft durch die Annahme, daß der menschliche Geist mit Computerprogrammen zu vergleichen sei, die sich unabhängig von der Kenntnis der spezifischen Hardware beschreiben und verstehen ließen (Computermetapher, Funktionalismus). Anfang bis Mitte der 1980er Jahre zeichnete sich jedoch ein Wechsel der Forschungseinstellung ab, der beide Disziplinen zusammenführte. Es entstand ein neues, gemeinsames Fach unter dem Namen "kognitive Neurowissenschaft" (E cognitive neuroscience), das psychologische und neurowissenschaftliche Herangehensweisen in gleichberechtigter Weise zu vereinen versucht. Kognitive Neurowissenschaft war ursprünglich auf die klassischen Gegenstandsbereiche der kognitiven Psychologie (Wahrnehmung, Gedächtnis usw.) beschränkt, ist aber inzwischen auch auf andere allgemeinpsychologische Themen wie Motivation und Emotion sowie die Störungen elementarer psychischer Leistungen erweitert worden. Sie unterscheidet sich von den vorherigen, intradisziplinären Herangehensweisen darin, daß erstens eine neue Klasse von Theorien kreiert wurde, zweitens neue Untersuchungsmethoden entwickelt wurden und drittens eine neue "Sprache" zur Theorieformulierung eingeführt wurde.
Kernmerkmale
Das erste Kernmerkmal kognitiver Neurowissenschaft bezieht sich auf neuro-kognitive Informationsverarbeitungstheorien. Informationsverarbeitung impliziert, daß elementare psychische Leistungen in Teilleistungen bzw. Teilfunktionen und damit verbundene Verarbeitungssysteme zerlegt werden. Beispielsweise wird im Rahmen dieses Ansatzes Gedächtnis in die Teilsysteme Kurzzeit- (Arbeits-) und Langzeitgedächtnis zerlegt, und Langzeitgedächtnis wiederum in die Teilsysteme explizites (deklaratives) und implizites (non-deklaratives) Gedächtnis (explizites Gedächtnis, implizites Gedächtnis). Entscheidend für den Ansatz der kognitiven Neurowissenschaft ist, daß die im Rahmen der funktionalen Zerlegung postulierten Teilsysteme der Informationsverarbeitung bestimmten Anteilen ihres materiellen Substrats, des Gehirns, zugeordnet werden. Für die Leistung der visuellen Wahrnehmung ist die funktionale Zerlegung in Teilsysteme sowie deren Lokalisation in bestimmten Hirnregionen bzw. Gruppen von Nervenzellen bisher am weitesten fortgeschritten. Des weiteren ist es für die kognitive Neurowissenschaft charakteristisch, daß die funktionale Zerlegung abhängig vom Wissen um den Aufbau des materiellen Substrats geleistet wird. Welche Teilsysteme es gibt und wie diese charakterisiert sind, kann nicht allein durch psychologische Befunde entschieden werden, sondern bedarf des Rückgriffs auf neurowissenschaftliche Daten zur Physiologie und Anatomie des Systems. Darin unterscheidet sich kognitive Neurowissenschaft von Kognitionswissenschaft, die eine funktionale Zerlegung unabhängig von Erkenntnissen über das materielle Substrat vorschlägt.
Das zweite Kernmerkmal kognitiver Neurowissenschaft betrifft die Entwicklung neuer Untersuchungsmethoden. Als wichtigste methodische Neuerung ist die Kombination physiologischer Messungen mit experimentalpsychologischen Paradigmen zur Untersuchung bestimmter psychischer Teilleistungen zu nennen. Ein experimentalpsychologisches Paradigma erlaubt es, eine bestimmte elementare psychische Teilleistung zu variieren und die Effekte dieser Variation zu messen. So können beispielsweise mit der Variation der Zahl der Störelemente in einer visuellen Suchaufgabe visuelle Aufmerksamkeitsprozesse (Aufmerksamkeit) gemessen werden. Diese Messung wiederum erfolgt im Rahmen der kognitiven Neurowissenschaft nicht nur auf Verhaltensebene, sondern auch auf physiologischer Ebene. Die physiologische Ebene kann sich auf einzelne Nervenzellen (single unit recording) sowie auf die Messung der Aktivität von Nervenzellverbänden beziehen. In Bezug auf die Aktivität von Zellverbänden ist wieder die Messung der zeitlichen Aspekte mit Hilfe der Elektroencephalographie (Elektroencephalogramm, EEG) und Magnetencephalographie (MEG) zu unterscheiden von der Lokalisation der neuronalen Aktivierung mit Hilfe von bildgebenden Verfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) und funktionelle Kernspinresonanztomographie (fMRT). Durch die Messung von physiologischer Aktivität in experimentellen Paradigmen, die nur ganz bestimmte kognitive Teilleistungen variieren, ist es in den letzten Jahren zunehmend gelungen, Grundoperationen der Informationsverarbeitung, die psychischen Teilleistungen unterliegen, bestimmten Hirnregionen bzw. Nervenzellen zuzuordnen. Für die visuelle Wahrnehmung ließ sich beispielsweise sowohl auf der Ebene der Aktivität ganzer Hirnareale als auch der Ebene einzelner Nervenzellen zeigen, daß elementare Merkmale wie Bewegung, Farbe oder Form simultan in anatomisch weitgehend getrennten Strukturen berechnet werden. Eine weitere wichtige Datenquelle stellt die experimentelle Untersuchung von Patienten mit umgrenzten Hirnschäden dar. Der innovative Beitrag der kognitiven Neurowissenschaft besteht auch hier darin, die Messung spezifischer kognitiver Teilleistungen anhand bestimmter experimenteller Paradigmen in den Vordergrund zu rücken. Eine besonders wichtige Rolle bei der Zuordnung von Hirnregion und Teilleistung spielt dabei das Aufzeigen von doppelten Dissoziationen des Verlusts kognitiver Teilleistungen sowie der Schädigung von bestimmten Gehirnregionen. So konnte beispielsweise gezeigt werden, daß beim Menschen Schädigungen im oberen Scheitellappen Störungen in den räumlichen Aspekten der Bewegungsausführung nach sich ziehen, aber die Objekterkennung intakt lassen. Wenn der Hirnschaden dagegen den unteren Schläfenlappen betrifft, so zeigt sich das umgekehrte Muster, d.h. gestörte Objekterkennung und intakte Ausführung der räumlichen Aspekte einer Bewegung. Des weiteren liefern neuroanatomische sowie weitere physiologische Untersuchungsmethoden entscheidende Daten für das Verständnis der neuro-kognitiven Informationsverarbeitungsarchitektur, sei es hinsichtlich der subzellulären Mechanismen der Informationsübertragung oder der anatomischen Verbindungen einzelner Cortexareale, die bestimmte Teilfunktionen berechnen. Schließlich werden evolutionsbiologische Analysen (Evolution) zunehmend als Methode eingesetzt, um Fragen nach der Definition elementarer psychischer Leistungen und ihrer funktionalen Zerlegung zu beantworten.
Das dritte Kernmerkmal kognitiver Neurowissenschaft ist eine neue "Sprache" der Theoriebildung, die es erlaubt, neuro-kognitive Informationsverarbeitungsmodelle in einer gehirnnahen Weise in Form von neuronalen und konnektionistischen Netzwerken (Konnektionismus) zu formulieren. Grundbestandteil derartiger Modelle sind nervenzellähnliche Elemente ("units"), die erregende und hemmende Aktivierung empfangen, verrechnen und an andere Elemente weitergeben. Aktivierung soll die Feuerrate von einzelnen Nervenzellen oder von Gruppen von Nervenzellen abbilden. Welche Art von Transformationen von neuronalen Mustern ein Netzwerk durchführt, hängt von der Verbindungsstruktur zwischen den Elementen ab, was in realen Gehirnen der Art und Stärke synaptischer Verbindungen (Synapsen) zwischen Nervenzellen entspricht. Besonders für das Feld der visuellen Wahrnehmung gibt es inzwischen detaillierte Netzwerk-Modelle bestimmter Teilleistungen, die sowohl plausible Annahmen zur neuro-kognitiven Informationsverarbeitungsarchitektur enthalten, als auch die vorhandenen experimentalpsychologischen und neurophysiologischen Befunde quantitativ zu erklären (d.h. zu simulieren) vermögen.
Betrachtung mehrerer Ebenen
Einer der wesentlichen Vorzüge des Ansatzes der kognitiven Neurowissenschaft ist, daß zum gleichen Gegenstandsbereich experimentelle Daten erhoben werden können, die sich auf unterschiedliche Ebenen des Systems beziehen. Es kann das Verhalten des Systems als Ganzes bei einer bestimmten Teilleistung (z.B. Bewegungswahrnehmung) gemessen werden, es kann die Aktivität von Hirnarealen registriert werden, die dieser Teilleistung unterliegen könnten, und es kann die Aktivierung einzelner Nervenzellen abgeleitet werden, die selektiv auf die Variation der interessierenden Teilleistung reagieren. Der Vorteil solcher Multi-Ebenen-Messung liegt darin, daß nicht nur das Input-Output-Verhalten des informationsverarbeitenden Systems als Ganzes (z.B. offenes Verhalten bei Bewegungswahrnehmung) erfaßt und zum Gütekriterium erhoben wird, sondern auch Annahmen über die Grundbestandteile der Informationsverarbeitungsarchitektur (z.B. Aktivität bestimmter Nervenzellen und Hirnregionen) einer empirischen Überprüfung unterzogen werden. Damit wird die Zahl der möglichen Theorien elementarer psychischer Leistungen entscheidend eingeschränkt.
Offene Fragen und Probleme
Trotz des Fortschritts, den die kognitive Neurowissenschaft in die empirische Untersuchung elementarer psychischer Leistungen eingebracht hat, ist die Zuordnung von neuronaler Aktivität zu Informationsverarbeitungsprozessen, die den elementaren psychischen Leistungen zugrundeliegen, noch mit grundlegenden offenen Fragen behaftet. Beispielsweise ist unklar, ob die Feuerraten einzelner Zellen das wesentliche Codierungsschema für mentale Zustände und Prozesse liefern; alternativ könnte auch das zeitliche Muster der Aktivierung einer relativ großen Zahl von Neuronen die relevante Größe sein (Bindungsproblem). Diese Überlegung kann zur Zeit nur unzureichend getestet werden, da die Feuerraten einer großen Zahl von interessierenden Neuronen bislang nicht unabhängig und simultan gemessen werden können. Des weiteren kann die Aktivierung von Hirnarealen nicht gleichzeitig räumlich präzise mit Verfahren wie fMRT sowie zeitlich präzise mit Verfahren wie MEG erfaßt werden.
Ein weiteres Problem ist, daß häufig kein theoretischer Konsens darüber besteht, wie bestimmte psychische Grundfunktionen (z.B. visuelle Aufmerksamkeit) in Teilfunktionen und zugehörige Verarbeitungssysteme zerlegt werden sollen. Deshalb dürfte eine Weiterentwicklung der Disziplin, die sich alleine auf die Meßmethoden bezieht, keinen entscheidenden Fortschritt bringen, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, angemessene Theorien mit plausiblen funktionalen Zerlegungen in Teilleistungen und Verarbeitungssysteme zu formulieren sowie entsprechende experimentelle Paradigmen für ihre Überprüfung zu entwickeln. Unsere gegenwärtigen Konzeptionen von psychischen Elementarleistungen wie Wahrnehmung oder Gedächtnis haben aufgrund der Datenlage inzwischen eine Komplexität erreicht, die eine hochtechnologische Messung (fMRT, MEG) dann als wenig sinnvoll erscheinen läßt, wenn diese Messung nur auf alltagspsychologische Konzepte solcher psychischen Leistungen zurückgreift und die bisherigen, empirisch validierten funktionalen Zerlegungen in Teilsysteme ignoriert. Deshalb ist es für das Gelingen des Unternehmens "kognitive Neurowissenschaft" unerläßlich, neben der Meßtechnik auch die Theorie in Verbund mit der experimentellen Methodik voranzutreiben.
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