Lexikon der Neurowissenschaft: neuronale Korrelate des Bewußtseins
neuronale Korrelate des Bewußtseins, neurale Korrelate des Bewußtseins, Eneural correlates of consciousness (Abk. NCC), neuronale Aktivitäten, Zustände oder Teilsysteme, die direkt mit Bewußtsein einhergehen. Der Begriff wurde von Francis Crick eingeführt und hat sich ab Mitte der 1990er Jahre rasch verbreitet. Da die Definition von Bewußtsein ( siehe Zusatzinfo 1 ) und dessen physiologische und funktionelle Grundlagen noch nicht eindeutig sind, müssen auch die NCC momentan eher als Oberbegriff für ein Forschungsprogramm bzw. für einzelne Hypothesen verstanden werden, und trotz zahlreicher Kandidaten ( siehe Zusatzinfo 2 ) steht noch nicht definitiv fest, welche neuronalen Zustände und Prozesse als NCC gelten können. Es ergeben sich folgende Fragen: 1) Was meinen wir mit dem Begriff Bewußtsein? 2) Was soll der Begriff neuronales Korrelat des Bewußtseins genau bedeuten? 3) Wie kann ein NCC nachgewiesen werden? 4) Was wird ein NCC erklären? 5) Ist Bewußtsein auf seine neuronalen Korrelate reduzierbar (Leib-Seele-Problem)? – Korrelation ist hier im statistischen Sinne ein regelmäßiges, gemeinsames Vorliegen zweier Zustände oder Ereignisse, die zunächst als voneinander unabhängig bestehend angenommen werden und sich mittels Korrelationskoeffizienten quantitativ bestimmen lassen. Doch was impliziert eine Korrelation? Ist ein NCC notwendig oder hinreichend oder notwendig und hinreichend für Bewußtsein? Muß das NCC für alle Fälle gelten oder nur für eine typische Menge? Wie läßt sich eine Korrelation überhaupt feststellen? usw.
Arbeitsdefinition ( siehe Zusatzinfo 3 ): Ein NCC ist ein minimales neuronales System N dergestalt, daß N unter bestimmten Bedingungen C hinreichend für den korrelierten Bewußtseinszustand ist. N ist ein bestimmter neuronaler Zustand (spezifische neuronale Aktivitäten in einem Nervengewebe mit einer bestimmten Struktur), C steht für zu spezifizierende Randbedingungen, zu denen normale Gehirne in normalen und ungewöhnlichen Umgebungen, d.h. mit normalen und artifiziellen Inputs oder begrenzten Stimulationen zählen, aber keine schwerwiegenden Läsionen, die die neuronale Architektur signifikant verändert haben. Diese Definition ist eng genug, um in der empirischen Forschung angewandt werden zu können, aber flexibel genug, um an den Erkenntnisfortschritt angepaßt werden zu können, insbesondere durch genauere Spezifikation der Bedingungen C.
Methodologische und empirische Konsequenzen: 1) Um die NCC von spezifischen Bewußtseinszuständen zu finden, ist es erforderlich, sowohl den repräsentationalen und/oder phänomenalen Gehalt dieser Bewußtseinszustände als auch die Informationen, die in bestimmten Hirnregionen und einzelnen Nervenzellen repräsentiert werden (z.B. die Aktivitäten von Neuronen bestimmter rezeptiver Felder) möglichst zuverlässig und genau zu erfassen. Einzelzellableitungen sind hierfür wesentlich zuverlässiger und spezifischer als z.B. bildgebende Verfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) oder großräumige Aktivitätsableitungen wie ein Elektroencephalogramm (EEG). Eine nichtinvasive Methode zur Messung der Aktivität einzelner Neurone im menschlichen Cortex hätte einen Paradigmenwechsel in der Suche nach den NCC zur Folge. 2) Die Charakterisierung von Bewußtseinszuständen muß weiter präzisiert und ständig kritisch reflektiert werden. Die Hauptschwierigkeit ist die Privatheit des Bewußtseins und das philosophische Problem des Fremdpsychischen (s.u.; Emotionen). 3) Gibt es ein NCC für spezifische Bewußtseinszustände in allen Fällen normal funktionierender Gehirne, in jeder Umgebung und selbst mit ungewöhnlichen Inputs oder eingeschränkten Hirnstimulationen bzw. soll es dafür definiert werden? In der Praxis beschränkt sich die Forschung meist auf nur wenige Individuen mit eng begrenzten Inputs oder verschiedenen Läsionen. Das erlaubt es zwar schon recht erfolgreich, negative Hypothesen zu bilden, d.h. festzustellen, welche neuronalen Systeme kein NCC für bestimmte Bewußtseinszustände sind. Doch positive Hypothesen darüber, welches System ein NCC ist, sind gegenwärtig nur schwer zu untermauern. Insofern sind die meisten Hypothesen zu den NCC zur Zeit noch weitgehend spekulativ. 4) Läsionsstudien sind methodologisch problematisch, weil sie die Architektur des neuronalen Systems signifikant ändern könnten. 5) Die Unterscheidung zwischen generellen und spezifischen Bewußtseinszuständen geht einher mit verschiedenen Forschungsperspektiven und -methoden. So ist es sehr wahrscheinlich, daß die NCC der generellen Bewußtseinszustände unspezifischer und weiträumiger sind und neben der Großhirnrinde auch andere Gehirnregionen umfassen (insbesondere den Thalamus), während die spezifischen Bewußtseinszustände wohl eher in spezifischen Cortex-Arealen lokalisiert sind. 6) Ausgehend davon, daß ein NCC ein minimales neuronales System ist, sollte sich die Forschung von der heuristischen Annahme leiten lassen, ein Korrelat zu finden, das so klein wie möglich ist (nicht notwendig im räumlichen Sinn, sondern auch in der Anzahl der beteiligten Neurone oder Aktivitätsmuster oder Rezeptor-Typen usw.). Diese Strategie verspricht mehr Erfolg als z.B. die Annahme, daß das ganze Gehirn das Kern-NCC darstellt. Außerdem läßt sich die Arbeitshypothese, daß nur eine kleine Gruppe von Neuronen für spezifische Bewußtseinsgehalte hinreicht, leichter falsifizieren. (Francis Crick und Christof Koch schätzen, daß die Zahl eher in der Größenordnung von 100 bis 10000 liegt als in der Größenordnung 100000 bis 10 Millionen.) 7) Was die Lokalisation des NCC betrifft, könnte es sich herausstellen, daß es nur einen kleinen corticalen Bereich gibt, der hinreichend für Bewußtsein ist, eine Art "Bewußtseinsmodul", das je nach spezifischem Gehalt ein spezifisches Aktivitätsmuster aufweist. Es könnte sich aber auch herausstellen, und dies ist nach dem bisherigen Erkenntnisstand wahrscheinlicher, daß die an einem NCC beteiligten Neurone weit verteilt im Gehirn liegen und je nach Bewußtseinsgehalt variieren. 8) Es mag viele NCC geben, weil ein NCC nur hinreichend ist. Zum einen kann es verschiedene NCC für verschiedene Bewußtseinszustände geben, z.B. für verschiedene Wahrnehmungsmodalitäten (Sehen, Hören usw.) und Wahrnehmungsgehalte. Das ist bei einer entsprechend feinkörnigen Betrachtung sogar zu erwarten. Zum anderen läßt sich nicht ausschließen, daß derselbe Bewußtseinszustand (oder zwei sehr ähnliche Bewußtseinszustände) von recht verschiedenen NCC realisiert werden können. 9) Sind NCC einmal valide etabliert, können sie im Umkehrschluß ihrerseits zur Identifikation von Bewußtseinsprozessen verwendet werden. Das ist ansatzweise mit EEG-Messungen und evozierten Potentialen bereits möglich, etwa bei der Feststellung des Hirntods oder bei Hirnwellenmuster-Analysen, die als Lügendetektoren eingesetzt werden sollen. Auch ließe sich z.B. feststellen, ob ein anästhetisierter Patient, ein Mensch im Koma oder ein Patient mit Locked-in-Syndrom noch Bewußtsein hat oder nicht. Vielleicht lassen sich bei genauerer Kenntnis der NCC sogar bessere Aussagen darüber machen, welche Tiere welche Bewußtseinszustände besitzen.
Wissenschaftliche Untersuchung von Bewußtsein und NCC: Eine generelle Methode zur Suche nach den NCC kann folgendermaßen aussehen: Voraussetzung ist eine möglichst zuverlässige Bestimmung der spezifischen Bewußtseinsgehalte über behaviorale Kriterien (einschließlich sprachlicher Berichte) und/oder introspektiver Zugangsweisen (Phänomenologie der ersten Person) sowie eine möglichst genaue Feststellung der neuronalen Zustände und insbesondere deren repräsentationaler Gehalte. Um Bewußtseinszustände und neuronale Zustände überhaupt miteinander korrelieren zu können, sind Brückenprinzipien notwendig, die eine Verbindung zwischen den Korrelationsvariablen herstellen. Diese sind in der Regel nicht selbst experimentell untermauert, sondern Vorannahmen, d.h. Voraussetzungen für Experimente, die sich nicht durch unabhängige Variablen überprüfen oder verfeinern lassen (außer vielleicht über "Experimente" mit der eigenen Introspektion). Diese Brückenprinzipien werden häufig nicht expliziert oder kritisch reflektiert. – Es müssen zwei prinzipiell verschiedene Zugangsweisen zu Bewußtsein unterschieden werden: 1) Ansätze der ersten Person sind subjektive Erlebnisformen des eigenen Bewußtseins mittels Introspektion. Diese Zugangsweise gilt in populären philosophischen und psychologischen Traditionen als direkt, unmittelbar, infallibel und gewiß; dies ist allerdings umstritten, da z.B. Täuschungen über die eigene Befindlichkeit sehr wohl möglich sind (z.B. Anosognosien, Konfabulationen, Halluzinationen); außerdem dürfte die Unmittelbarkeit entgegen unserer Intuition selbst vermittelt sein, nämlich ontogenetisch über Zuschreibungen von außen. 2) Ansätze der dritten Person sind intersubjektive Schlußfolgerungen auf das Bewußtsein anderer Individuen (einschließlich Tiere) über indirekte Indizien. Diese Indizien basieren auf Verhalten und gewissen Analogieschlüssen. Verbalverhalten, d.h. Sprache, ist bei der Erforschung des menschlichen Bewußtseins das am häufigsten verwendete, verläßlichste und genaueste Kriterium; bei Tieren wird z.B. das durch Konditionierung gelernte Drücken von Tasten ausgenützt. Das grundlegende Prinzip der Ansätze der dritten Person ist, daß die bewußte Information direkt für die globale Kontrolle eines kognitiven Systems verfügbar ist, also in verschiedenen motorischen Modalitäten zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Hauptschwierigkeit bei den Ansätzen der dritten Person ist die Privatheit des Bewußtseins und das philosophische Problem des Fremdpsychischen: Man kann nie mit Sicherheit wissen, was genau eine andere Person gerade denkt oder fühlt. Um den Bewußtseinszustand anderer Individuen festzustellen, sind indirekte Kriterien nötig. Alle Kriterien für die Zuschreibung von Bewußtsein sind allerdings letztlich nicht experimentell überprüfbar, denn jede Überprüfung würde selbst wieder auf Kriterien basieren, die schon auf bestimmten Voraussetzungen beruhen müssen. In gewisser Hinsicht basiert also dieser Zweig der Neurowissenschaft methodisch teilweise auf einem Ansatz der ersten Person, d.h. auf subjektiven Erlebnissen der Forscher. Trotz der Differenzen zwischen den Perspektiven der ersten und dritten Person, d.h. trotz der vermeintlich fundamentalen Unterschiede zwischen unseren subjektiven, bewußten Erlebnissen und dem objektiven (oder intersubjektiven) Verfahren der Wissenschaft, können aber NCC Eigenschaften von Bewußtsein thematisieren und sogar erklären ( siehe Zusatzinfo 4 ).
Probleme und Grenzen: NCC werfen Probleme auf und haben Grenzen, die mit philosophischen Fragestellungen zusammenhängen; dies ist eine Aufgabe für die Neurophilosophie: 1) Korrelationen implizieren weder Kausalität noch Identität, denn sie können zufällig bestehen oder auf einer gemeinsamen, verborgenen Ursache beruhen. 2) Es gibt Grenzen empirischer Zugänge aufgrund der Probleme der Subjektivität, des Fremdpsychischen und der Selbsttäuschungen. 3) Interindividuelle Unterschiede neuronaler Strukturen und Prozesse, intraindividuelle Unterschiede im Lauf der Zeit (Lernen, Synapsenbildung, Plastizität im Nervensystem), die empfindliche Abhängigkeit des Systems von geringsten Veränderungen der Randbedingungen (Nichtlinearität und chaotische Dynamik) und die Komplexität des Gehirns, die sich schon in neuronalen Netzen zeigen, begrenzen NCC-Entdeckungen. 4) NCC können von der Neurowissenschaft allein gar nicht erfaßt werden und sind für ein intersubjektives Verständnis des Bewußtseins nicht hinreichend, denn eine Berücksichtigung der Umgebung ist für die Individuierung mentaler Zustände unerläßlich (Externalismus): Selbst identische Gehirnzustände können mit verschiedenen mentalen Zuständen einhergehen, wenn die Umwelt unterschiedlich ist. 5) NCC sind auch nicht notwendig für eine naturalistische Theorie des Geistes, denn es ist möglich, daß es Bewußtsein auch auf einer anderen Basis geben könnte (künstliche und außerirdische Intelligenzen). 6) Obwohl aufgrund dieser zumindest nicht ausgeschlossenen multiplen Realisierbarkeit mentaler Zustände NCC nicht notwendig für Bewußtseinszustände allgemein sein müssen, offenbaren sie Merkmale, die für menschliches (bzw. Primaten- oder Säugetier- oder Wirbeltier-)Bewußtsein notwendig sind.
NCC und das Leib-Seele-Problem: NCC sind mit vielen verschiedenen Lösungsvorschlägen zum Gehirn-Geist- oder Leib-Seele-Problem kompatibel. Denn sie implizieren weder eine Identität des Psychischen mit dem Physischen noch eine kausale Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen. Die Existenz von NCC vermag also nicht zu beweisen, daß z.B. eine Version der Gehirn-Geist-Identitätstheorie wahr ist, obwohl NCC sich damit bestens vereinbaren lassen. Daraus folgt aber nicht, daß die vielen Lösungsvorschläge des Leib-Seele-Problems (Substanzdualismus, Epiphänomenalismus, Parallelismus, Idealismus, neutraler Monismus usw.) gleichermaßen plausibel sind. Die NCC können nur für sich genommen keine dieser Positionen beweisen oder widerlegen. Deshalb sind weiterführende philosophische Argumente nötig, und dies ist ein Grund für die Wichtigkeit der Neurophilosophie. Allerdings legen NCC und die Folgen von Läsionen (Neuropsychologie), Koma, Stupor, Anästhesie sowie reversible Zusammenbrüche der NCC bei epileptischen Anfällen, durch transcranielle Magnetstimulationen oder einfach während des traumlosen Tiefschlafs nahe, daß menschliches Bewußtsein eine Eigenschaft oder ein Produkt des Zentralnervensystems ist.
R.V.
Lit.:Crick, F., Koch, C.: Consciousness and neuroscience. Cerebral Cortex 8 (1998), S. 97-107. Metzinger, T. (Hrsg.): Neural Correlates of Consciousness. Cambridge, London 2000. Vaas, R.: Why Neural Correlates Of Consciousness Are Fine, But Not Enough. Anthropology & Philosophy 3 (1999), S. 121-141.
neuronale Korrelate des Bewußtseins
1 Merkmale von Bewußtsein:
Für Theorie und Praxis relevant und nützlich ist die Unterscheidung von: 1) Bewußtsein allgemein(E creature consciousness): bewußt als Eigenschaft im Gegensatz zu nichtbewußt; 2) Bewußtsein als genereller Zustand (E background state of consciousness), d.h. eine Kategorie mit unterschiedlichen Ausprägungen, z.B. Wachbewußtsein, Traumbewußtsein, hypnotisiertes Bewußtsein, veränderte Bewußtseinszustände (E altered states of consciousness) aufgrund von Drogenkonsum, Meditation, Nahtodeserfahrungen usw.; 3) Bewußtsein als spezifischer Zustand (E specific state of consciousness), d.h. ein "feinkörniger", nur näherungsweise beschreibbarer Zustand subjektiven Erlebens, in dem sich ein bestimmtes Individuum zu einer bestimmten Zeit befindet. Bewußtsein hat einen repräsentationalen und einen phänomenalen Gehalt. Die wichtigsten Merkmale sind:
- Intentionalität: Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas, hat also einen Gehalt
- phänomenaler Gehalt: subjektiver, qualitativer Erlebnischarakter (Qualia)
- Transparenz und Introspizierbarkeit: direkte Gegebenheit, einzigartiger unmittelbarer Zugriff
- Inkorrigibilität: scheinbare Gewißheit, Unfehlbarkeit und Unhintergehbarkeit
- epistemische Irreduzierbarkeit: subjektive Zustände lassen sich in bestimmter Hinsicht nicht auf objektive zurückführen, selbst wenn sie vollständig darauf beruhen
- Homogenität: Erfahrung der Ganzheitlichkeit und Kohärenz mentaler Zustände, keine feinkörnigere Beschreibbarkeit, keine Erfahrung der Zerlegbarkeit
- Präsenz: Gegenwärtigkeit des Erlebens, auch der Erinnerungen oder Pläne
- Perspektivität und Subjektivität: Meinigkeit, Zentrierung, präreflexive Selbstvertrautheit, de se-Attribution (z.B.: Richard weiß, daß er selbst musikalisch ist)
- Privatheit: Unzugänglichkeit für andere
- Reflexivität: Bewußtsein kann auf bewußte Zustände Bezug nehmen; Metarepräsentation
- Unausgedehntheit: Nicht-Räumlichkeit bzw. -Lokalisierbarkeit (umstritten)
- Selbst- und Ichbewußtsein lassen sich als besondere Bewußtseinszustände auffassen, die für Bewußtsein nicht notwendig sind, sondern nur in hochentwickelten Lebewesen mit komplexen Sozialsystemen explizit werden, insbesondere Menschenaffen und Menschen (Persönlichkeit und Personalität)
neuronale Korrelate des Bewußtseins
2 Der Zoo der NCC:
Worin ein NCC besteht, ist noch umstritten. Dabei mangelt es nicht an Vorschlägen. In Analogie zum Zustand der Teilchenphysik vor dem sogenannten Standardmodell der Materie, als über 200 Elementarteilchen bekannt waren und man deshalb scherzhaft von einem "Teilchenzoo" sprach, ist inzwischen sogar schon von einem "neural correlate zoo" die Rede. Viele der nachfolgend angeführten Hypothesen schließen sich nicht notwendig gegenseitig aus, sondern können sich ergänzen. Denn sie sind häufig nicht auf derselben Beschreibungsebene angesiedelt, und manche Hypothesen zielen auf für Bewußtsein notwendige oder hinreichende anatomische Strukturen, während sich andere vorwiegend auf neurophysiologische Mechanismen oder Aktivitätsmuster beziehen. Ein Standardmodell der NCC, das diesen Zoo vereinheitlichen könnte, ohne die einzelnen Befunde zu eliminieren, gibt es jedoch noch nicht. Insofern haben viele Ansätze etwas Eklektizistisches.
Bewußtsein allgemein und als genereller Zustand:
- erweitertes reticulär-thalamisches Aktivierungssystem
- Nucleus reticularis
- intralaminarer Nucleus im Thalamus
- reziprok gekoppelte Schleifen in thalamo-corticalen Systemen
- 40-Hertz-Rhythmen in thalamo-corticalen Systemen
- Konzentration und globale Verteilung bestimmter Neurotransmitter
spezifische Bewußtseinzustände (teilweise auch eine Bedingung für Bewußtsein allgemein):
- 40 Hz-Oszillationen in der Großhirnrinde
- neuronale Assemblies, zusammengeschaltet via NMDA-Rezeptoren
- spezifische Aktivitäten im Arbeitsgedächtnis des präfrontalen Cortex
- globaler Arbeitsraum
- neuronale Aktivität in der Cortex-Region MT
- bestimmte Neurone der Regionen IT und STS im Schläfenlappen
- Neurone in extrastriaten visuellen Arealen, die zum präfrontalen Cortex projizieren
- Rückprojektionen zu tieferen corticalen Schichten
- anteriorer Gyrus cinguli und verbundene Areale
- Outputs des Hippocampus
- neuronale Gestaltmuster
- Aktivierung semantischer Gedächtnisinhalte
- Repräsentationen hoher Qualität
- selektierte Inputs in Handlungssysteme
- zeitlich ausgedehnte neuronale Aktivitäten
neuronale Korrelate des Bewußtseins
3 Auf dem Weg zu einer Arbeitshypothese der NCC:
Sind NCC notwendig und/oder hinreichend für Bewußtsein?
Die stärkste These ist, daß ein NCC sowohl eine notwendige als auch hinreichende Bedingung für einen bestimmten Bewußtseinsgehalt ist. Diese These ist aber zu stark, wenn Typen von Bewußtseinszuständen betrachtet werden. Typen sind Verallgemeinerungen, z.B. die Wahrnehmung eines roten Quadrats, im Gegensatz zu Einzelvorkommnissen (Token) wie die Wahrnehmung des roten Quadrats Q durch das Individuum I zum Zeitpunkt T; freilich ist dieser Unterschied fließend, denn im Extremfall wären Token singuläre Vorkommnisse, die für wissenschaftliche Untersuchungen aufgrund ihrer Unwiederholbarkeit nicht nur unzugänglich, sondern auch irrelevant wären. Insofern eine naturwissenschaftliche Untersuchung des Bewußtseins Regularitäten oder Gesetze aufspüren will, hat sie es notwendig mit Typen zu tun, aber der Grad der Allgemeinheit kann differieren. Die These von NCC als notwendige und hinreichende Bedingung für Bewußtsein ist zu stark, weil sie nicht erlaubt, daß derselbe Bewußtseinszustand mit unterschiedlichen neuronalen Zuständen korreliert sein kann. Es ist z.B. unwahrscheinlich, daß die Wahrnehmung eines roten Quadrats bei zwei Individuen (oder sogar bei demselben Individuum zu unterschiedlichen Zeiten) jeweils auf exakt denselben relevanten neuronalen Aktivitäten basiert. Insofern ist ein bestimmter Bewußtseinszustand zumindest in einem engen Sinn multipel realisierbar: Er kann mit unterschiedlichen neuronalen Aktivitäten korreliert bzw. von diesen verursacht oder mit ihnen identisch sein. Wenn es aber mehrere NCC für denselben Typ von Bewußtseinszustand gibt, ist eines dieser NCC allein dafür nicht notwendig. – Ist ein NCC also bereits hinreichend für den damit korrelierten Bewußtseinszustand? Auch diese Auffassung führt zu Problemen: a) Einerseits setzt sie voraus, daß das Korrelat mit bestimmten ontologischen und begrifflichen Prämissen verbunden ist: Bewußtsein müßte sich auf neuronale Aktivität reduzieren lassen. Dies heißt, Bewußtsein wäre naturalistisch erklärbar bzw. fundiert und müßte sich außerdem internalistisch individuieren lassen, d.h. im Prinzip von der Umgebung getrennt zu betrachten oder in seinem Gehalt von der Umgebung unabhängig sein. Diese Prämissen sind naturwissenschaftlich nicht beweisbar, sondern müssen philosophisch plausibel gemacht werden. b) Andererseits ist das NCC, als hinreichende Bedingung gefaßt, zu unspezifisch. Denn wenn bestimmte neuronale Aktivitäten Nx ein NCC für einen bestimmten Bewußtseinszustand sind, dann sind alle Aktivitäten des Gehirns, von denen Nx eine Teilmenge ist, ebenfalls hinreichend. Daher ließe sich z.B. sagen, daß ein intaktes menschliches Gehirn eine hinreichende Bedingung für Schmerzerleben oder die visuelle Wahrnehmung eines roten Quadrats ist. Das ist aber für die Erforschung der spezifischen Bewußtseinszustände viel zu grob. Also ist mehr erforderlich als eine hinreichende Bedingung. – Daher wurde vorgeschlagen, daß ein NCC eine minimale hinreichende Bedingung ist. Demzufolge ist N ein NCC, wenn N hinreichend für einen korrelierten Bewußtseinszustand ist und keine Teilmenge Nx von N hinreichend für diesen Bewußtseinszustand ist (denn sonst wäre Nx und nicht N minimal hinreichend). Dadurch werden überflüssige neuronale Aktivitäten per definitionem aus dem NCC ausgeschieden. Dies impliziert aber nicht, daß es nur ein NCC für einen bestimmten Bewußtseinszustand gibt. Ob jeweils ein oder mehrere NCC existieren, läßt sich nur empirisch herausfinden. Außerdem könnte es Redundanzen in den neuronalen Aktivitäten geben. Ob diese jeweils für sich als NCC gelten sollen, ist eine Definitionsfrage.
Für welche Fälle sollen NCC definiert werden?
Sieht man ein NCC als minimales neuronales System N an, so daß N hinreichend für den korrelierten Bewußtseinszustand ist, stellt sich noch immer die Frage, für welche Fälle diese Korrelation gelten muß. 1) Für den Einzelfall? Diese Antwort wäre viel zu restriktiv. Zum einen strebt Naturwissenschaft Verallgemeinerung an, und deshalb sind Einzelfälle zu wenig. Zum anderen gibt es gar keine Einzelfall-Korrelation, denn Korrelationen sind statistisch definiert für eine Vielzahl von Fällen. 2) Für jeden möglichen Fall? Wenn N ein NCC ist, sollte es folglich unmöglich sein, im Zustand N zu sein, ohne den damit korrelierten Bewußtseinszustand zu haben. So rigide wird der Begriff NCC in der Praxis aber nicht verwendet. Denn das würde bedeuten, daß man, wenn z.B. eine bestimmte Aktivität im inferioren Schläfenlappen mit der bewußten Wahrnehmung eines Gesichts einhergeht, den inferioren Schläfenlappen vom Rest des Gehirns trennen und in ein Nährmedium legen könnte, und wenn dann das Gewebe im Zustand N wäre, hätte es Bewußtsein. Dies ist zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, aber extrem unplausibel. Folglich muß es möglich sein, daß ein bestimmtes NCC nicht mit dem korrelierten Bewußtseinszustand einhergeht, wenn bestimmte Randbedingungen fehlen, wenn z.B. radikale Läsionen erfolgt sind. Also kann ein NCC nicht für jeden möglichen Fall gelten. – Freilich läßt sich einwenden, daß ein echtes NCC per definitionem mit Bewußtsein einhergeht. Dann müßte es allerdings große Bereiche des Gehirns umfassen. Daher mag es nützlich sein, zwischen einem totalen und einem Kern-NCC zu unterscheiden. Das totale NCC umfaßt alle neuronalen Prozesse, die für einen bewußten Zustand erforderlich sind, ist also eine hinreichende Bedingung für Bewußtsein. Das Kern-NCC enthält nur die spezifischen neuronalen Zustände und Prozesse, während die übrigen neuronalen Aktivitäten des totalen NCC als eine Art Hintergrund- oder Randbedingung für das Kern-NCC zu betrachten wären. Das wirft die Frage auf, worin der Unterschied zwischen dem totalen und dem Kern-NCC besteht, denn das Kern-NCC ist im eigentlichen Fokus der neurowissenschaftlichen Forschung. 3) Für gewöhnliche Gehirne in gewöhnlichen Umgebungen? Der Fall von radikalen Läsionen legt nahe, daß ein NCC nur für gewöhnliche Bedingungen definiert werden sollte, also unversehrte Nervensysteme in einer normalen Umwelt mit ökologisch validen Inputs, wie sie im gewöhnlichen Leben vorkommen. Dieser Ansatz schränkt den NCC-Begriff aber zu stark ein und wäre hinderlich für die neurowissenschaftliche Forschung. Denn Experimente bestehen ja gerade in Variationen, Manipulationen und Defiziten der Inputs aus der Umgebung und/oder in Manipulationen des Nervensystems. Wäre ein NCC für solche Prozeduren nicht definierbar, wären die neuronalen Grundlagen von Bewußtsein experimentell gar nicht erforschbar. – Ein über Normalbedingungen definiertes NCC würde z.B. nahelegen, daß das NCC für visuelles Bewußtsein auf allen Stufen der neuronalen visuellen Verarbeitung vorläge, auch im primären visuellen Cortex (V1) und sogar in der Netzhaut. Denn unter Normalbedingungen korrelieren Aktivitäten in allen diesen Regionen mit Bewußtsein: das ist die gewöhnliche Kausalkette der visuellen Informationsverarbeitung. Doch das NCC scheint gerade nicht in der Retina und auch nicht in V1 angesiedelt zu sein. Folglich ist ein verfeinertes Kriterium nötig, das es erlaubt, das Kern-NCC von Prozessen zu unterscheiden, die im Normalfall direkt (kausal) mit ihm verbunden sind. Also müssen auch ungewöhnliche Umstände mit einer NCC-Definition vereinbar sein. 4) Für gewöhnliche Gehirne mit ungewöhnlichen Inputs? Werden ungewöhnliche Inputs, z.B. ökologisch invalide Stimulationen, für eine Definition des NCC zugelassen, können auch hochartifizielle experimentelle Situationen berücksichtigt werden, etwa die Untersuchungen mit Hilfe der binokularen Rivalität (binokularer Wettstreit). Diese Experimente ermöglichen es, dem Kern-NCC näher zu kommen, indem begleitende neuronale Aktivitäten identifiziert und ausgeschlossen werden können. Dadurch läßt sich z.B. vermuten, daß bestimmte Aktivitäten im inferioren Schläfenlappen, nicht aber solche in V1 ein NCC bestimmter visueller Bewußtseinsgehalte darstellen. Doch wahrscheinlich reichen ungewöhnliche Inputs für eine Identifikation vieler Kern-NCC nicht aus. 5) Für gewöhnliche, artifiziell stimulierte Gehirne? Eine andere experimentelle Methode ist, nicht nur mit ungewöhnlichen Inputs zu arbeiten, sondern bestimmte Hirnregionen oder sogar einzelne Nervenzellen direkt zu reizen. Diesem Ansatz zufolge korrelieren NCC mit Bewußtseinszuständen nicht nur bei normalen und ungewöhnlichen Inputs, sondern auch bei direkter Stimulation. Würde ein potentielles NCC nicht mit Bewußtsein korrelieren, wenn es durch eine Stimulation erzeugt wäre, wäre es also kein echtes NCC. Dieser Ansatz paßt zu Experimenten, bei denen mit Hilfe von extra- oder intrazellulär angebrachten Elektroden oder der transcraniellen Magnetstimulation sensorische Eindrücke, Halluzinationen, Emotionen oder Erinnerungen ausgelöst wurden. Künftige Experimente können auf diese Weise vielleicht klären, auf welcher Verarbeitungsstufe bestimmte NCC (z.B. für visuelles Bewußtsein) angesiedelt sind: Man könnte die vorgeschalteten Verarbeitungsstufen gleichsam überspringen. Problematisch dabei ist die Rolle für Feedback- und Feedforward-Verbindungen, wie sie fast überall in der Großhirnrinde vorliegen; außerdem kann es mehrere NCC auf verschiedenen Verarbeitungsstufen geben. Eine andere Schwierigkeit könnte sich durch Überstimulation ergeben, die zwar spezifische Kern-NCC erzeugt, aber aufgrund einer Beeinträchtigung der Hintergrund- und Randbedingungen das totale NCC ausschaltet, d.h., die Kern-NCC korrelieren aufgrund der Überstimulation nicht mit Bewußtsein. Dies ist aber weniger ein Definitionsproblem des NCC als eine methodische Einschränkung seiner Erforschung. 6) Für ungewöhnliche Gehirne? Eine gängige Forschungsmethode ist es, auch Gehirne außerhalb der (nur vage definierten) Norm zu berücksichtigen, z.B. solche, die durch Verletzungen oder gezielte experimentelle Läsionen beeinträchtigt sind. In der klinischen Neuropsychologie hat man vieles über normale Gehirnfunktionen durch das Studium ihrer Ausfälle gelernt. Die naheliegende Interpretation, daß der Verlust bestimmter bewußter Zustände (z.B. Farbwahrnehmung), der mit bestimmten Läsionen korreliert ist (z.B. Schädigungen in der Region V4), darauf hindeutet, daß die beeinträchtigen Orte oder Funktionen am entsprechenden NCC teilhaben, ist allerdings nicht zwingend. Die Läsionen könnten z.B. lediglich Unterbrechungen der notwendigen Kausalkette darstellen, so daß die NCC mangels Input nicht entstehen. Auch der Schluß, daß bestimmte neuronale Prozesse, die ausgefallen sind, kein NCC für bestimmte Bewußtseinszustände sein können, die trotz des Ausfalls noch vorliegen, ist nicht zwingend. Denn durch die Läsionen könnte die Architektur des Gehirns verändert worden sein. Es besteht aber kein Grund zur Annahme, daß NCC unabhängig von der neuronalen Architektur des Gehirns sind. Daraus resultieren zwei Möglichkeiten: a) Entweder man schränkt die NCC-Definition auf bestimmte Läsionen ein, während für andere Läsionen kein NCC besteht. Z.B. könnte man Aussagen über Läsionen vorgeschalteter oder paralleler Regionen für eine NCC-Definition zulassen, nicht aber solche bei nachgeschalteten Regionen. Es ist allerdings nicht ohne weiteres einsichtig, ob sich solche Unterscheidungen strikt durchhalten lassen. b) Oder man verwirft die Annahme, daß die NCC in stark beeinträchtigten Gehirnen denen in normalen Gehirnen ähnlich sind und schließt die beeinträchtigten Gehirne aus der Definition für normale NCC aus. Dann könnten klinische Fälle jedoch über die Korrelate von Bewußtseinszuständen wenig oder gar nichts aussagen. Das hieße aber, potentiell wertvolle Informationen von vornherein auszublenden. Außerdem haben sich Läsionen in der Praxis (im Tierversuch) bereits als nützliche Methode bewährt, um die Grundlagen vieler Hirnleistungen zu identifizieren. Wahrscheinlich ist es beim bisherigen Erkenntnisstand zu früh, sich mit allzu rigiden Definitionen festzulegen. Möglicherweise müssen verschiedene Einzelfälle separat geprüft und beurteilt werden. Nicht übersehen werden darf allerdings, daß Läsionsstudien methodische Schwierigkeiten bergen. Für eine Arbeitsdefinition mag es deshalb ausreichen, abnormale Gehirne zunächst bei einer NCC-Definition unberücksichtigt zu lassen, ohne die Lehren, die aus ihrem Studium gezogen werden können, zu verwerfen. Selbst wenn Korrelationen oder deren Fehlen bei ungewöhnlichen Gehirnen nicht implizieren, daß ein bestimmter Zustand ein NCC ist, können diese abnormalen Fälle doch ein guter Hinweis darauf sein.
neuronale Korrelate des Bewußtseins
4 Neuronale und phänomenale Merkmale des Bewußtseins:
NCC können Eigenschaften von Bewußtsein thematisieren und sogar erklären. Drei Beispiele für solche Erfolge:
1) Träume: NCC treffen auf die Phänomenologie. NCC können dazu beitragen, phänomenale Merkmale des Bewußtseins zu erklären. Ein Beispiel ist der REM-Traumschlaf, dessen neuronale Grundlagen oder Korrelate bereits teilweise verstanden sind (Träume). Diese Befunde ermöglichen ein tieferes Verständnis einiger gut vertrauter phänomenaler Merkmale des Träumens. Dies geschieht durch eine Zusammenführung von bereits bekannten NCC des wachen Gehirns mit den erst kürzlich erkannten NCC des Traumschlafs: Ausgangspunkt ist, daß bestimmte Bewußtseinszustände wacher Personen mit spezifischen Gehirnaktivitäten einhergehen. Bekannt sind außerdem phänomenale Merkmale des bewußten Erlebens während des Träumens: aus der eigenen Erfahrung und aus Berichten von anderen Menschen. Daher ist es möglich, Eigenschaften der NCC des Traumschlafs vorherzusagen (unter der Annahme, daß sie denselben Gesetzen unterliegen wie im Wachzustand). Wenn die Voraussagen zutreffen, besteht Grund zur Annahme, daß die Gehirnprozesse die phänomenalen Merkmale des REM-Traumschlafs auf irgendeine Weise bedingen bzw. daß es zumindest einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen spezifischen Bewußtseinszuständen und neuronalen Zuständen gibt. Die PET-Studien und neuropsychologischen Befunde zum Traumschlaf ergaben tatsächlich ein stimmiges Bild. So sind Träume besonders emotionsgeladen, und tatsächlich sind die für Emotionen zuständigen limbischen Areale überdurchschnittlich aktiv. Außerdem sind Träume oft bizarr und unlogisch und werden später nur schlecht erinnert, und tatsächlich sind die im Wachzustand mit kritischer Prüfung, Regelbefolgung und Gedächtnisbildung beschäftigten Bereiche des Frontallappens im Traumschlaf weitgehend gehemmt.
2) Zeiterleben: NCC übertreffen die Phänomenologie. NCC können phänomenal nicht oder nur schwer zugängliche Merkmale des Bewußtseins enthüllen. Ein Beispiel ist die zeitliche Dimension des Erlebens (Zeit und Gehirn): Die phänomenale Kontinuität und Homogenität des Bewußtseins ist wegen der ihm zugrunde liegenden Abfolge einzelner "Zeitfenster" eine Illusion. Außerdem werden Sinneswahrnehmungen umdatiert oder maskiert, und unbewußte Hirnprozesse laufen schon ab, bevor bewußte Entscheidungen getroffen werden. Diese Resultate werden teilweise noch kontrovers diskutiert. Aber sie legen nahe, daß die objektiv bestimmbare Zeitordnung des Vorher-Nachher nicht notwendig und eineindeutig mit der subjektiven Erfahrung übereinstimmt. Vielmehr ist die subjektive Zeitordnung ein Konstrukt der neuronalen Aktivitäten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tatsache, daß wir unsere Hand von der heißen Herdplatte zurückziehen, bevor uns der Hitze-Schmerz bewußt wird. Gut trainierte Sportler scheinen Tennisbälle auch zu parieren, bevor sie diese bewußt wahrnehmen, oder sie beginnen bereits zu laufen, bevor der Startschuß in ihr Bewußtsein dringt. Diese Verhaltensweisen werden subcortical gesteuert (über den Thalamus); der Cortex wird erst etwas später informiert. Von denselben Bahnen machen Schreckreaktionen Gebrauch, bei denen die Furcht erst bewußt wird, wenn man z.B. vor einer Schlange schon zurückgewichen ist (Angst).
3) Sehen: NCC betreffen die Phänomenologie. NCC enthüllen auch Merkmale des Bewußtseins, die durch Introspektion und psychologische Experimente allein nicht entdeckt werden könnten. Aufschlußreich sind z.B. Läsionen der Sehbahn, die wichtige Aufschlüsse über die neuronale Organisation geben können, die dem visuellen Bewußtsein zugrunde liegt. a) Die Achromatopsie ist ein corticaler Defekt, der zur Beeinträchtigung oder zum Verlust des Farbsehens führt. Ursache sind beidseitige Läsionen in der Region V4 des visuellen Cortex im Gyrus fusiformis. Im Gegensatz zur Farbenblindheit geht mit der Achromatopsie häufig auch der Verlust einher, sich die Farben vorzustellen, sich an sie zu erinnern und sie zu träumen. Teile von V4 sind somit offenbar eine notwendige Bedingung für ein Bewußtsein von Farben. b) Eine bilaterale Schädigung des parieto-occipitalen Cortex ("Wo-System") führt zur Unfähigkeit, visuelle Stimuli im Raum zu lokalisieren und den Ort bekannter Objekte oder Landschaftsmerkmale aus der Erinnerung zu beschreiben. Eine bilaterale Schädigung des inferior-temporalen Lappens ("Was-System") führt dagegen zur Unfähigkeit, Objekte anhand der visuellen Wahrnehmung zu identifizieren oder ihr Aussehen aus der Erinnerung zu beschreiben. c) Manche Patienten mit Läsionen in der primären Sehrinde (V1), aber intakten subcorticalen Bahnen (Corpus geniculatum laterale und Pulvinar thalami; letzteres erhält Inputs von der Netzhaut über die Colliculi superiores im Mesencephalon), sind in der Lage, Bewegungen in ihren ansonsten erblindeten Gesichtsfeldern wahrzunehmen, aber sie sehen keine stationären Objekte. Im Gegensatz zum Blindsehen, bei dem visuelle Stimuli, die nicht bewußt wahrgenommen werden, durch Raten unterschieden werden können, sind sich die Patienten der Bewegungen bewußt. Sie beschreiben ihr Erlebnis als "vage und schattenhaft", ähnlich wie gesunde Personen, die mit geschlossenen Augen zum Fenster schauen und ihre Hand schnell vor sich hin- und herbewegen. Manche Patienten können nur rasche Stimuli erkennen, andere dagegen nur solche, die sich sehr langsam bewegen. Diese Beispiele legen nahe, daß es viele mehr oder weniger voneinander getrennte Bewußtseine für verschiedene Attribute geben könnte, zumindest für den Sehsinn, die auf Aktivitäten in verschiedenen visuellen Arealen des Gehirns basieren. Folglich ist zumindest dieser Sinn in einer bestimmten Hinsicht modular aufgebaut (modulare Systeme) und hängt weder ausschließlich von einer einzelnen corticalen Region ab (oder mehreren eng miteinander verschalteten corticalen Regionen) noch von der ungestörten Funktionsweise des gesamten Systems. Entgegen des phänomenalen Eindrucks und der cartesianischen Definition der res cogitans, wonach Bewußtsein ein untrennbares und vielleicht sogar nichträumliches Ganzes ist, zeigen die Läsionen, daß es möglich ist, Bewußtsein nicht nur vollständig zu verlieren (wie im Koma), sondern auch in einzelnen Teilen. (Eine wenigstens teilweise erfolgende Teilung des Bewußtseins offenbaren auch Experimente mit Split-Brain-Patienten.)
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