Lexikon der Neurowissenschaft: Organismus-Umwelt-Beziehungen
Organismus-Umwelt-Beziehungen [von griech. organon = Werkzeug]. Alle Lebewesen sind selbstorganisierende Systeme, die sich durch ständigen Energieverbrauch weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt entwickeln und erhalten. Einmal entstanden, müssen sie sich zur Erhaltung ihrer Existenz aktiv in ihrer Umwelt durchsetzen und durch Energiezufuhr (Nahrung) ihr genetisches Potential erhalten. Dabei erfahren viele Organismen im Laufe der Evolution durch die Entstehung immer komplizierterer, hierarchisch organisierter funktioneller Systeme eine ständige Zunahme ihres Komplexitätsgrades. Die bislang wohl höchste Komplexität hat der Mensch erreicht, und er wird in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner biotischen und sozialen Umwelt ständig weiterentwickelt (wobei natürlich eine Quantifizierung von Komplexität schwierig ist sowie umstritten ist, inwiefern die Evolution "Fortschritt" und Richtung aufweist – diese Begriffe wurden als teleologische, anthropomorphe Projektionen kritisiert; Teleologie). Die im genetischen Programm jedes Lebewesens (g; siehe Abb. ) vorhandenen angeborenen Ordnungsprinzipien haben sich im Laufe der Evolution in Anpassung an die speziellen Umweltbedingungen ausgebildet. Sie schreiben keine bis in alle Einzelheiten vorherbestimmte Entwicklung des Organismus vor, sondern nur die Grundprinzipien, nach denen das genetische Potential unter den weitgehend zufälligen epigenetischen Umweltbedingungen wirksam wird (epigenetische Faktoren; e). Die wirksame artgerechte Entfaltung des genetischen Programms bedarf somit der artgerechten Umweltbedingungen, unter denen sich dieses Lebewesen bis zu diesem Zeitpunkt in der Evolution entwickelt hat. Dies gilt auch für die Entwicklung der funktionellen Systeme des Menschen. Bei ihm ist das genetische Programm so angelegt, daß sich auch soziale selbstorganisierende funktionelle Systeme entwickeln, die durch die jeweiligen sozialen Umweltbedingungen mit geprägt werden. Die aktiven Einwirkungen des Organismus auf die Umwelt dienen der Selbsterhaltung durch die Abwehr schädlicher physikalischer und chemischer Einwirkungen sowie von Fremdsubstanzen (N-Se), die vom körpereigenen Immunsystem (Se) unschädlich gemacht werden. Andererseits sichern sie durch den "Kampf im sozialen Feld" die Existenz und die Wirkungsmöglichkeiten des Organismus durch die Beschaffung und Zufuhr von Nahrung und durch die adäquate Verarbeitung und Beantwortung der über die multisensorischen Rezeptoren aufgenommenen biotischen und sozialen Umwelteinwirkungen. Die aktiven Handlungen des Organismus werden von seinem höchsten Regulationsorgan, dem Zentralnervensystem, aus gesteuert. Im Gehirn werden die eingehenden Informationen verarbeitet, gespeichert und bilden – zumindest beim Menschen – in Form mentaler Repräsentationen eine subjektive Vorstellung der Umwelt und der eigenen Persönlichkeit. Auf ihrer Grundlage entwickeln sich die probabilistischen Konzepte, die den aktiven Einwirkungen des Menschen auf seine Umwelt zugrundeliegen. Seine ontogenetische Entwicklung ist von vornherein auf die Ausbildung vielfältiger sozialer Kontakte ausgerichtet. Dies beginnt bereits in der Embryonalzeit und kommt später in den vielfältigen Formen der sozialen Kommunikation, in Musik, Tanz, Kunst, Sprache und im variabel gestalteten, kulturell unterschiedlichen Zusammenleben sowie in gemeinsamen Kulten und Weltanschauungen zum Ausdruck. Auch hier werden die Organismus-Umwelt-Beziehungen von den Grundgesetzen der Autopoiese, der Selbstregulation und der Selbstorganisation beherrscht. Mutter-Kind-Bindung, Kommunikation, höhere Nerventätigkeit.
L.P.
Organismus-Umwelt-Beziehungen
Schematische Darstellung der aktiven Beziehung des Organismus (O) zur Umwelt (U) als selbstorganisierendes System. Der graue Halbkreis stellt die Abgrenzung der Organismusoberfläche von der Umwelt dar. Von der mentalen Repräsentation (mR) ausgelöst, wirkt der Organismus über Handlungen (H), die durch genetische (g) und epigenetische (e) Faktoren gesteuert werden, auf die Umwelt ein. Aktiv überwindet er zur Selbsterhaltung negative physikalische (ph) und chemische (ch) biotische Faktoren, schützt sich vor Fremdsubstanzen (Nicht-Selbst; N-Se), die auf das Immunsystem (I) pathogen einwirken können und sorgt durch Nahrungszufuhr (N) und die sinnvolle Verarbeitung der von den Rezeptoren (R) aufgenommenen physikalisch-chemischen (ph-ch) und sozialen (soz) Einwirkungen für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Organismus in der gegebenen Umwelt.
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