Lexikon der Neurowissenschaft: Psychiatrie
Essay
Manfred Spitzer
Psychiatrie
Die Psychiatrie (Epsychiatry; von griech. psyche = Hauch, Seele; iatros = Arzt) ist das Fachgebiet der Medizin, das mit den Erkrankungen der Seele befaßt ist; der Psychiater ist nach mehrjähriger Weiterbildung ein Facharzt, wie etwa der Chirurg oder Internist. In historischer Hinsicht entwickelte sich das Fach – keineswegs geradlinig – im 19. Jh. aus verschiedenen Strömungen heraus; 1811 wurden in Leipzig die erste Professur und in Dresden die erste Klinik für Psychiatrie eingerichtet. Bereits damals lebte die Psychiatrie von der Spannung zwischen den Aspekten des Seelischen (vor 150 Jahren vertreten durch die an die Romantik angelehnten Psychiker) und des Körperlichen (vertreten durch die Somatiker), die jede psychiatrische Erkrankung begleiten. Seine Einheit hat das Fach letztlich der praktischen Notwendigkeit zu pragmatischem Helfen in sehr vielen Fällen zu verdanken. Psychiatrische Krankheiten – man spricht heute auch gerne vermeintlich wertfreier von psychischen Störungen – sind sehr häufig: Nach Schätzungen der WHO fallen 4 der weltweit 10 häufigsten Krankheiten in das Gebiet der Psychiatrie. Sie betreffen ganz allgemein eher höhere und höchste geistige Leistungen wie Wahrnehmen, Denken, Handeln, Fühlen und Wollen. Entsprechend gehören Halluzinationen, formale und inhaltliche Denkstörungen, pathologisch gesteigerte, reduzierte oder inadäquate Affekte sowie die Unfähigkeit zum Entscheiden (Wählen) und zielgerichteten Handeln, neben verschiedensten körperlichen Symptomen, zu den häufigeren Symptomen psychiatrischer Erkrankungen. Wie in der übrigen Medizin ist es auch in der Psychiatrie üblich, Symptome zu Syndromen zusammenzufassen; so werden z.B. optische Halluzinationen, eingeschränkte Urteilsfähigkeit und erhöhte Suggestibilität (neben einer Reihe körperlicher Symptome) zum deliranten Syndrom zusammengefaßt. Ein Syndrom weist auf eine Krankheit hin; die Syndromdiagnose ist jedoch nicht identisch mit der Krankheitsdiagnose, denn diese schließt die Ursache, d.h. den pathologischen Mechanismus der Entstehung, mit ein (so mag die Krankheitsdiagnose im obigen Beispiel, je nach Ergebnis der diagnostischen Suche nach der Ursache, z.B. bakterielle Infektionskrankheit oder Autoimmunkrankheit lauten). Eines der nach wie vor ungelösten Probleme im Bereich der Psychiatrie besteht darin, daß für die heute bedeutsamen psychiatrischen Krankheiten solche Ursachen noch nicht oder erst ansatzweise bekannt sind. Psychiatrische Diagnosen haben daher zumeist den Status von Syndromdiagnosen. Ziel der psychiatrischen Forschung war es deshalb von Anfang an, die Ursachen der vielfältigen und im Verlauf der Erkrankung oft stark wechselnden Syndrome zu finden. Die Entdeckung einer Spirochäte als Krankheitserreger der Syphilis (durch Schaldin und Hoffmann, 1905) einerseits und das Postulat von eigengesetzlich und unbemerkt ablaufenden psychischen Prozessen (durch Freud, 1900) andererseits spannten vor etwa einem Jahrhundert einen sehr breiten Rahmen auf, innerhalb dessen sich psychiatrische Forschung bis heute abspielt. Die von vielen gehegte Hoffnung, alle psychiatrischen Erkrankungen würden sich in einen einzigen einheitlichen Erklärungshorizont fügen, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Im Fall der Schizophrenie beispielsweise erwies sich die Suche nach einem "Schizococcus" als ebenso unfruchtbar wie die Annahme einer "schizophrenogenen Mutter".
Es war das Verdienst Emil Kraepelins, auch beim Fehlen ätiopathogenetischer Mechanismen über reine Syndromdiagnosen wissenschaftlich (d.h. ohne Hinzuziehung unbewiesener Modelle oder Interpretationssysteme) hinauszugehen, indem man den Verlauf der Erkrankung betrachtet. Seine Unterscheidung phasisch verlaufender (eher mit affektiven Symptomen einhergehender) von chronisch progredienten (eher mit kognitiven Symptomen einhergehenden) Erkrankungen bildet bis heute einen wesentlichen Kern psychiatrischer Diagnostik. Nicht minder wichtig für jede psychiatrische Diagnose ist die Abklärung körperlicher Ursachen (insbesondere "grober" Veränderungen des Gehirns, wie Entzündung, Tumor, vaskuläres Ereignis), die neben neurologischen (Neurologie) auch psychiatrische Symptome hervorrufen können. Es gehört zu den Aporien (Unmöglichkeit einer Lösungsfindung) der gegenwärtigen Psychiatrie, daß viele in ihrem Bereich wesentliche und häufige Erkrankungen (Depression, Sucht, Schizophrenie, Angststörungen, Zwangsstörungen) einerseits durch das Fehlen "grob-neurologischer" Ursachen definiert sind, daß man aber andererseits mit großem Aufwand nach "fein-neurologischen" Ursachen sucht.
Während in systematischen Lehrbuchdarstellungen die Diagnostik auf einem Ursachenverständnis (Ätiologie) beruht und ihrerseits die Therapie begründet, zeigte die historische Entwicklung der Psychiatrie im 20. Jh. ein komplexes Wechselspiel von unsystematisch eintretenden Fortschritten in den Bereichen Ätiologie, Diagnostik und Therapie: Mit den Entdeckungen der Malariakur der Syphilis durch Wagner-Jauregg (1917), der Elektrokrampftherapie durch Cerleti und Bini (1938) und vor allem der Antipsychotika (ab 1953) und Antidepressiva wurden nicht nur bedeutsame therapeutische Fortschritte erzielt, sondern auch erste Überlegungen im Hinblick auf die neurobiologischen Grundlagen wichtiger psychiatrischer Erkrankungen möglich (z.B. Dopaminhypothese der Schizophrenie Anfang der 1960er Jahre). Die psychiatrische Ursachenforschung ihrerseits bedurfte klarer Diagnosen, so daß in den 1970er Jahren große Anstrengungen in Hinblick auf eine (vor allem auch internationale) Vereinheitlichung der psychiatrischen Diagnostik unternommen wurden. Wie u.a. die Untersuchungen von Kendell (1973) zeigten, gab es zu dieser Zeit noch große Unterschiede in den diagnostischen Gewohnheiten zweier in gesellschaftlicher Hinsicht nicht sehr unterschiedlicher Gesellschaften wie Großbritannien und den USA. Zugleich erbrachten transkulturelle Vergleichsstudien der WHO im wesentlichen das Ergebnis der Ubiquität psychiatrischer Erkrankungen und der relativen Unabhängigkeit von kulturellen Gegebenheiten. Die Publikation der dritten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association, Abk. APA) im Jahr 1980 kann als Meilenstein in Richtung auf eine standardisierte Diagnostik gelten. Mit der 1994 erschienenen 4. Auflage des DSM (DSM-IV) wurden schließlich die US-amerikanische und die europäisch beeinflußte Diagnostik (die in der International Classification of Diseases, 10. Auflage, ICD-10, ihren klassifikatorischen Niederschlag hat) weitgehend vereinheitlicht. Man kann davon ausgehen, daß die weitere Entwicklung auf eine Identität von DSM- und ICD-Diagnosen hinausläuft.
Um die Ursachen psychiatrischer Erkrankungen erforschen zu können, ist es erforderlich, die Störungen zunächst einmal unabhängig von hypothetischen Ursachen, also rein deskriptiv, zu charakterisieren. Daher wurde in den gegenwärtig vorliegenden Diagnosesystemen ganz ausdrücklich auf theoretisch begründete Konzeptionen verzichtet. Dies führte nicht nur zur Elimination beispielsweise des Begriffs der Neurose (der ein bestimmtes Krankheitsmodell voraussetzt), sondern sogar zur Ersetzung des Begriffs der seelischen Krankheit durch den unbestimmteren der psychischen Störung. Weiterhin hatten die deskriptiven Bemühungen eine Diversifizierung der möglichen psychiatrischen Diagnosen und damit eine deutliche Zunahme ihrer Anzahl (von einigen Dutzend im DSM-I auf mehr als 400 im DSM-IV) zur Folge. In praktischer Hinsicht ist von Bedeutung, daß diagnostische Hierarchien (z.B. die Schichtenregel, derzufolge eine schwere Störung die Diagnose einer leichteren Störung beinhaltet und damit überflüssig macht) verlassen und stattdessen Mehrfachdiagnosen gestellt werden. Diese Trennung von Deskription und Interpretation befriedigt klinisch-praktisch zuweilen wenig (welche Therapie folgt beispielsweise, wenn bei einem Patienten das gleichzeitige Vorliegen einer Depression, einer Sucht und dreier Persönlichkeitsstörungen festgestellt wird?). Ihr langfristiges Ziel ist jedoch gerade die Erstellung eines nicht-spekulativen, wissenschaftlich gesicherten Kanons psychiatrischer Krankheiten mit geklärter Ätiologie, Diagnose und Therapie.
Neben dem Verlauf stützen sich die Forschungsbemühungen zur Auffindung von Krankheitseinheiten heute vor allem auf die Neurowissenschaft und die Genetik. Für eine ganze Reihe psychiatrischer Erkrankungen wurde in Adoptions- oder Zwillingsstudien (Zwillingsforschung) eine hereditäre Komponente nachgewiesen, der man mit Kopplungs- und Assoziationsstudien sowie in naher Zukunft mit den sich durch das Human Genome Project bietenden Möglichkeiten nachgeht. Es gibt kaum noch eine psychiatrische Krankheit, für die nicht ein neurobiologisches Modell, Korrelat oder manifest nachgewiesenes Defizit existiert. Viele akute psychiatrische Krankheitsbilder lassen sich in neurobiologischer Hinsicht als gestörte Neuromodulation (Modulation) verstehen, d.h. als Über- oder Unterfunktion von Neuromodulatoren bzw. Neurotransmittern wie z.B. Serotonin, Noradrenalin, Dopamin oder Acetylcholin. Mittels moderner psychopharmakologischer Interventionen (Psychopharmakologie) können diese akuten, häufig krisenhaft verlaufenden psychischen Störungen oft innerhalb von Tagen oder Wochen günstig beeinflußt werden, was psychotherapeutische oder sozialpsychiatrische Interventionen meist erst ermöglicht. Diese haben ihrerseits einen neurobiologisch faßbaren "Wirkungsmechanismus", wie u.a. Untersuchungen zu den Auswirkungen einer erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung (Psychotherapie) von Zwangsstörungen auf den Glucose-Stoffwechsel mittels Positronenemissionstomographie (PET) nachweisen konnten. Es ist zu hoffen, daß durch weitere derartige Studien die noch immer zu spürende Kluft zwischen psychologischem und biologischem Verständnis psychiatrischer Erkrankungen verringert wird. Die seit einigen Jahren zur Verfügung stehenden funktionellen bildgebenden Verfahren, insbesondere die funktionelle Kernspinresonanztomographie, sollten dies bewirken, denn sie erlauben die nicht-invasive Beobachtung zentralnervöser Aktivität bei komplexen höheren geistigen Leistungen und deren Pathologie. Möglicherweise können Psychiater mit diesen Verfahren künftig auch den klinischen Herausforderungen chronisch-progredient verlaufender Erkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen erfolgreich begegnen.
Von großer Bedeutung für jede moderne integrative psychiatrische Therapie, die sich in aller Regel aus biologischen, psychologischen und sozialen Maßnahmen zusammensetzt, sind die neurobiologischen Erkenntnisse zur Neuroplastizität (Plastizität im Nervensystem) als Korrelat von Lernvorgängen. Lernen bewirkt auf der Ebene einzelner Synapsen die Veränderung der Stärke neuronaler Verbindungen und auf der Ebene corticaler kartenförmiger Repräsentationen deren erfahrungsabhängige Veränderung. Die in der Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie wichtigen Begriffe der Struktur und der Dynamik (des seelischen Geschehens) erfahren so eine neurobiologische Interpretation. Tierversuche zeigen die Bedeutung von Motivation, Aufmerksamkeit und Affektivität (Affekt, Emotionen) für Lernvorgänge, die letztlich allen psychosozialen Therapiemaßnahmen zugrundeliegen. Therapiestudien belegen die Bedeutung der genannten Faktoren: Die Motivation des Patienten zur Behandlung, seine (pharmakologisch nicht beeinträchtigte) Vigilanz und seine (sich vor allem im Verhältnis zum Therapeuten ausdrückende) affektive Schwingungsfähigkeit stellen wesentliche Moderatorvariablen des psychotherapeutischen Prozesses dar, denen auch bei zusätzlichen begleitenden therapeutischen Maßnahmen wie Bewegungs- und Musiktherapie, Arbeits- und Ergotherapie sowie kognitiven und interaktiven Trainingsverfahren eine wesentliche Bedeutung zukommt.
Die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Großkrankenhäuser wichen gemeindenahen kleinen Einrichtungen, teilstationäre und ambulante Versorgungsangebote erlaubten in der BRD eine Reduktion der psychiatrischen Betten auf die Hälfte, die Psychotherapie wurde integraler Bestandteil der Psychiatrie und stigmatisierende Nebenwirkungen der Psychopharmaka gehören weitgehend der Vergangenheit an, so daß nicht mehr die Institutionalisierung, sondern die Reintegration psychisch kranker Menschen das therapeutische Ziel darstellt.
Die nächsten zwei Jahrzehnte werden zeigen, ob die Psychiatrie entweder in Neurologie, Neuropsychologie und Verhaltensneurologie einerseits und medizinischer Psychologie, Psychotherapie und Sozialarbeit andererseits aufgeht und als Fach verschwindet oder ob es ihr gelingt, sich als Fachgebiet für Störungen von Gehirn und Geist auf der Grundlage von Neuro- und Sozialwissenschaften (bzw. Natur- und Geisteswissenschaften) zu etablieren.
Lit.:Berger, M.: Psychiatrie und Psychotherapie. München 1998. Comer, R.J.: Klinische Psychologie. Heidelberg 1995. Helmchen, H., Henn, F., Lauter, H., Sartorius, N. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart. Heidelberg 2000. Möller, H.J., Laux, G., Kapfhammer, H.P.: Psychiatrie und Psychotherapie. Heidelberg 1999. Peters, U.H.: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Augsburg 1997.
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