Lexikon der Neurowissenschaft: Schmerztheorie
Schmerztheorie, Etheory of pain, verschiedene Erklärungsmodelle für die Vorgänge, die zu Schmerzwahrnehmungen führen. Die älteste Schmerztheorie ist die Spezifitätstheorie nach von Frey, die den Schmerz der Erregung spezialisierter Sinnesrezeptoren zuschrieb. Entsprechend anderen Sinnessystemen benötigt die Spezifitätstheorie auch zentralnervöse Neurone und Areale, die die Erregung der Nozizeptoren direkt abbilden. Im Gegensatz zur Spezifitätstheorie stehen die Intensitätstheorie und andere Mustertheorien, bei denen ein bestimmtes Erregungsmuster (E pattern) in einer Population von nicht spezifisch nozizeptiven Afferenzen zu Schmerzwahrnehmungen führt. Als erster hat Goldscheider seine Intensitätstheorie formuliert, nach der eine bestimmte Entladungsfrequenz in Afferenzen mit einem breiten Spektrum der Reizbarkeit überschritten werden muß, um zu einer Schmerzwahrnehmung zu führen. Die gate control theory von Melzack und Wall nimmt eine Interaktion von eher niederschwelligen und eher hochschwelligen Afferenzen an, durch die die Empfindlichkeit des Nervensystems und damit auch die Wahrnehmung von Schmerzreizen gesteuert werden kann. Die Mustertheorien können klinische Schmerzen besser als die Spezifitätstheorie erklären. Eine systemische Schmerztheorie (Seemann und Zimmermann) betrachtet den Schmerz als Ausdruck und Komponente eines Regulationssystems, das sinnvolle protektive Aufgaben hat. Das Regulationssystem kann jedoch, im Sinne einer Fehlregulation auf physiologischer, psychologischer und Verhaltens-Ebene, zur Verstärkung und Verselbständigung von Schmerzen beitragen. Viele klinisch bekannte Chronifizierungsvorgänge lassen sich durch solche Fehlregulationen beschreiben und erklären, die sich über mehrere Ebenen im Zentralnervensystem ausbreiten können. – Die heutigen Schmerztheorien können jeweils nur Teilaspekte der Schmerzentstehung und -wahrnehmung beschreiben; eine umfassende Theorie, vergleichbar mit der Theorie des Sehens, besteht für den Schmerz noch nicht. Die modernen neurophysiologischen und psychologischen Forschungen zeigen, daß das Schmerzsystem äußerst komplex ist, so daß es unklar ist, ob es jemals in eine umfassende funktionelle Theorie eingefaßt werden kann.
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