Lexikon der Neurowissenschaft: soziales Lernen
soziales Lernen [von latein. socius = gemeinsam],Esocial learning, Bezeichnung für das Lernen von Individuen derselben oder einer anderen Art durch soziale Anregung oder durch Nachahmung von Wahrgenommenem (Nachahmungslernen). Die Aktivierung zum sozialen Lernen geht meist von der Anwesenheit und dem Verhalten von Gruppenmitgliedern oder vertrauten Interaktionspartnern aus. Ein Beispiel ist die um 1940 gemachte Beobachtung, daß Meisen in England die Deckel der vor den Häusern abgestellten Milchflaschen aufpickten, um an die Sahne zu gelangen. Dieses Verhalten breitete sich über weite Teile des Landes aus. Das geschah durch soziales Lernen auf der Basis sozialer Anregung: Durch eifrig pickende Artgenossen sind wohl unerfahrene Meisen angelockt worden und führten dann ihr angeborenes Pickverhalten zum Nahrungserwerb (Öffnen von Samen) aus. Sie pickten dabei ein Loch in den Pappverschluß, stießen auf die Sahne und nutzten nach dieser Erfahrung diese neue Futterquelle. Ein Beispiel für soziales Lernen im Übergangsbereich zwischen sozialer Anregung und Nachahmung ist bei Schimpansenkindern zu beobachten, die am Werkzeug der Mutter mit Hand anlegen, um ihr Handeln somit teilweise mitzuvollziehen. Durch diese Zusammenarbeit lernen sie den Handlungsablauf, mehr durch Versuch und Irrtum als durch Nachahmung. Ein Beispiel für soziales Lernen durch Nachahmung bieten Gorillakinder, die über längere Zeit das Tun ihrer Mutter genau beobachten: Zuerst folgen ihre Blicke den Bewegungen der Mutter, nach einiger Zeit gehen sie diesen bereits voraus, in Kenntnis des nun folgenden Ablaufs. Das Lehren, also das aktive Unterrichten zum Zweck des Lernens, ist die wirkungsvollste Form des sozialen Lernens. Sie ist nicht auf Menschen beschränkt. Schimpansenmütter bringen z.B. ihren Kindern bei, wie sie mit Steinen oder Stöcken nährstoffreiche Nüsse aufschlagen können. Soziales Lernen kann zur Grundlage für die Traditionsbildung werden, indem erlernte Verhaltensweisen über Generationen hinweg erhalten bleiben. Dies ist eine essentielle Voraussetzung und Eigenschaft der Kultur.
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