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Lexikon der Neurowissenschaft: Träume

Träume, Edreams, mehr oder weniger zusammenhängende Empfindungen und Vorstellungen während des Schlafs ( siehe Zusatzinfo 1 ), die häufig einen bizarren Charakter besitzen und Halluzinationen ähneln. Traumbewußtsein ist auch dadurch gekennzeichnet, daß man Dinge sieht, die nicht existieren, Sachverhalte für wahr hält, die man im wachen Zustand als logisch absurd zurückweisen würde, und Leute, Orte und Zeiten verwechselt. Träume haben oft weder direkt etwas mit der Wirklichkeit zu tun, die den Träumenden umgibt, noch unterliegen sie seiner willentlichen Kontrolle. – Im Wachzustand werden viele verschiedene höhere Hirnregionen mit den NeurotransmitternNoradrenalin und Serotonin vom Hirnstamm geflutet, die unter anderem an Prozessen der Aufmerksamkeit beteiligt sind. Die Konzentration dieser Botenstoffe sinkt beim Einschlafen. Während des Träumens werden sie überhaupt nicht mehr ausgeschüttet: Dies könnte erklären, warum die nächtlichen Schlaferlebnisse rasch vergessen werden, denn diese Transmitter spielen auch eine wichtige Rolle bei der Bildung des Gedächtnisses. An ihrer Stelle übernehmen im Traumschlaf andere Transmitter die Kontrolle, Acetylcholin und Dopamin. – Worin sich in neuronaler Hinsicht die geträumten Imaginationen von realen Eindrücken unterscheiden, die über die Sinne empfangen werden, konnten PET-Studien (Positronenemissionstomographie) inzwischen teilweise erhellen. Dabei wurden die Hirnprozesse von Versuchspersonen während des Traumschlafs gemessen und mit denen derselben Personen im Wachzustand und im traumlosen Tiefschlaf verglichen. Es zeigte sich, daß im Traumschlaf bestimmte mittlere Verarbeitungszentren der Großhirnrinde isoliert von den Sinneseingängen und den für höhere geistige Tätigkeiten zuständigen Regionen arbeiten. Eine solche Dissoziation erklärt viele Eigenschaften des Traumerlebens: die großen Gefühlsanteile, die unkritische Akzeptanz bizarrer Trauminhalte, der Mangel an parallelen Gedanken und Eindrücken, die zeitliche Desorientierung und das fehlende Reflexionsvermögen ( siehe Tab. ). Neben dem Thalamus und dem vorderen Gyrus cinguli wird im Traum-, nicht aber im Tiefschlaf beispielsweise auch der ventrale extrastriäre Cortex aktiviert (die fusiformen, inferior-temporalen und lateral-occipitalen Anteile; extrastriäre Sehrinde). Er ist dem primären visuellen Cortex (striär) im Hinterhauptslappen des Großhirns nachgeschaltet. Dieser empfängt im Wachzustand die vom Auge aufgenommenen visuellen Reize und leitet sie dann an den extrastriären Cortex weiter, im Traumschlaf ist er jedoch gehemmt. Die höheren Verarbeitungszentren im Frontallappen, die im Wachzustand visuelle Informationen von dem extrastriären Cortex empfangen und mit anderen Sinneseindrücken verrechnen, sind im Traumschlaf ebenfalls inhibiert (insbesondere der lateral-orbitale und der dorsolaterale präfrontale Cortex). Der Frontallappen spielt beim bewußten Planen, bei willentlicher Zwecksetzung und logischem Denken eine entscheidende Rolle und ist außerdem für das Kurzzeitgedächtnis von Bedeutung. Seine Inaktivität erklärt daher, warum wir selbst den aberwitzigsten Träumen mit der Vernunft nicht beizukommen vermögen, und warum wir uns meist schon kurz nach dem Aufwachen nicht mehr an unsere Träume erinnern können. Dagegen sind beim Träumen die Bahnen vom extrastriären Cortex zum limbischen System (insbesondere zur Amygdala) aktiv. Dies macht die Gefühlstönung der Träume verständlich, denn Emotionen werden vor allem in den limbischen Regionen erzeugt, die im Inneren und unterhalb der Großhirnrinde liegen. Da in der Amygdala auch Engramme angelegt werden, liegt die Vermutung nahe, daß im Traumgeschehen affektive Komponenten von Erinnerungen reaktiviert und zugleich stärker eingraviert werden. – Während des Traumschlafs scheinen die extrastriäre Hirnrinde und das limbische Areal als geschlossenes System zu arbeiten. Offenbar kann dieses, von den umliegenden Hirnbereichen vorübergehend funktional abgekoppelte System spontan bildliche Vorstellungen erzeugen. Dieser Befund paßt gut zu einer Hypothese, daß der Inhalt der Träume die Folge von selbstorganisierten Gehirnzuständen sind, die sich von äußeren Reizen abgekapselt haben. Vermutlich wird dieser Zustand durch spontanes Feuern großer Nervenzellverbände hervorgerufen (insbesondere den Prozessen, die den pontogeniculooccipitalen Wellen zugrunde liegen), die durch ein verändertes Gleichgewicht von Neurotransmittern im Schlaf leichter erregbar sind und einer chaotischen Dynamik unterliegen ( siehe Zusatzinfo 2 ). Eine wissenschaftliche Theorie über das Bewußtsein wäre unvollständig, wenn sie den Traumschlaf unberücksichtigt ließe. Theorien, denen psychologische und phänomenologische Befunde des Träumens widersprechen, müssen falsch sein. So kann beispielsweise die Annahme des Behaviorismus, das Gehirn werde immer und ausschließlich von außen über die Sinnesorgane stimuliert, Träume nicht erklären. Denn beim Traumschlaf kommt es zu einer weitgehenden Ausfilterung der Informationen, die über Sinnesorgane eintreffen. Die motorischen Kommandos werden ebenfalls abgeblockt, obwohl sie von den dafür zuständigen Hirnregionen erzeugt werden, wenn der Träumende beispielsweise während einer geträumten Verfolgungsjagd flieht (Schlaflähmung). – Die Funktion des Traumschlafs ist bislang nur unzureichend verstanden, sie ist aber seit langem in der Geschichte der menschlichen Kultur Gegenstand zahlreicher Spekulationen: vom Kontaktreich mit Göttern, Verstorbenen usw. über einen Zugang zum kollektiven Unbewußten (C.G. Jung) und einem "Tummelplatz" unbewußten Triebgeschehens von oft destruktiver oder sexueller Natur (S. Freud) bis hin zur Verarbeitung von Tagesresten ( siehe Zusatzinfo 3 ). Daß Träume zumindest teilweise gedächtnisbildende Funktion haben (Gedächtnis), zeigten die simultanen Ableitungen vieler Gehirnzellen mit Elektroden in Tierversuchen: Bei Ratten feuern im REM-Schlaf bevorzugt solche Neuronen im Hippocampus, die beim Lernen neuer Informationen während der vorangegangenen Wachperiode aktiv waren (der Hippocampus dient zumindest vorübergehend als eine Art "kognitive Karte", das heißt zur Speicherung räumlicher Informationen). Dieses "Playback" im Schlaf wurde als ein Mittel zur spezifischen Verstärkung von Nervenzellkontakten gedeutet, der strukturellen Grundlage des Langzeitgedächtnisses. Nachdem wache Ratten im Experiment neue Aufgaben zu lösen gelernt hatten, nahm die Menge des REM-Schlafes zu. Ratten, denen der REM-Schlaf entzogen wird, zeigen schlechtere Gedächtnisleistungen. Aber nicht nur Ratten lernen im Schlaf. Daß dies, wenigstens für implizite Gedächtnisformen (implizites Gedächtnis), auch beim Menschen der Fall ist, zeigten Verhaltenstests mit Personen nach Schlafentzug. Wahrscheinlich kommt es beim Lernen sowohl auf den Tiefschlaf als auch den REM-Schlaf an.

R.V.

Lit.:Braun, A.R., u.a.: Dissociated pattern of activity in visual cortices and their projections during human rapid eye movement sleep. Science 279 (1998), S. 91-95. Hobson, J.A.: The Dreaming Brain. New York 1988. Hobson, J.A., Stickgold, R., Place-Schott, E.F.: The neuropsychology of REM sleep dreaming. Neuroreport 9 (1998), R1-R14. Kahn, D., Krippner, S., Combs, A.: Dreaming and the Self-Organizing Brain. Journal of Consciousness Studies 7 (2000), S. 4-11. Revonsuo, A., Valli, K.: Dreaming and Consciousness. Psyche 6 (2000), Nr. 8. Solms, M.: Neuropsychology of Dreams. New Jersey 1997. Strauch, I., Meier, B.: In search of dreams. New York 1996. Vaas, R.: Blick ins Reich der Träume. Bild der Wissenschaft 5 (1998), S. 108-109.

Träume

1 Der Schlaf wird von einem Zeitgeber im Nucleus suprachiasmaticus des Hypothalamus reguliert. Dadurch wird der Tiefschlaf (slow wave sleep, NREM-Schlaf) eingeleitet. Im pontinen Stammhirn (Brücke) scheint ein zweiter Zeitgeber zu existieren, der den REM-Schlaf in Gang setzt. Der REM-Schlaf wird in der Regel von Traumzuständen begleitet. Allerdings ist der REM-Schlaf für Träume weder notwendig noch hinreichend. Denn zum einen führen bestimmte Läsionen zum Verlust des Träumens bei intaktem REM-Schlaf, und Kinder bis zu sieben Jahren berichten nach REM-Phasen kaum von Traumerlebnissen (vielleicht sind ihre visuell-räumlichen Fähigkeiten noch nicht weit genug entwickelt). Zum anderen wird der NREM-Schlaf ebenfalls von Träumen begleitet, wenn diese anscheinend auch seltener, kürzer und weniger lebhaft und emotional sind. Während des REM-Schlafs kommen salvenartig gepulste Signale aus dem Hirnstamm und werden über das Corpus geniculatum laterale des Thalamus zum primären visuellen Cortex im Hinterhauptslappen weitergeleitet. Sie machen sich im Elektroencephalogramm als typische Wellenmuster bemerkbar, den pontogeniculooccipitalen Wellen, die im NREM-Schlaf fast nicht in Erscheinung treten. Die beiden Schlaf-Formen wechseln sich im Lauf des Schlafs mehrfach ab, wobei die Dauer der REM-Phasen mit der Zeit zunimmt. Neuronen der bulbären Formatio reticularis im Stammhirn senden hemmende Signale zum Rückenmark, die den externen sensorischen Input und den motorischen Output blockieren (bei Menschen mit bestimmten Stammhirnläsionen ist das nicht der Fall, sie können während des REM-Schlafes aufstehen – dies ist aber kein Schlafwandeln (Somnambulismus), das nur in NREM-Schlaf stattfindet.

Träume

Neuropsychologie des Träumens (PET)

phänomenale Merkmale des REM-Traumschlafs neurophysiologische Korrelate
lebhafte visuelle Halluzinationen extrastriäre Cortices [Z]
primärer visueller Cortex [A]
räumliche Vorstellungen rechtes parietales Operculum
motorische Halluzinationen Basalganglien
Bizarrheit (Inkongruenz, Diskontinuität, Unsicherheit)
Illusionen (man glaubt, wach zu sein)
Defizite bei Selbstbewußtsein, gerichtetem Denken, Einsicht in unlogische und unmögliche Erfahrungen;
beeinträchtigtes Gedächtnis ("Traum-Amnesie")
Frontallappen (dorsal, orbital) [A]
aminerge Demodulation (noradrenerge und serotonerge Neurotransmitter [A])
starke Emotionen (besonders Angst, Furcht, Ärger und euphorische Stimmung) (para)limbisches System [Z], Amygdala [Z]
anteriorer Gyrus cinguli [Z], temporaler Pol [Z]

(Z = Zunahme des Metabolismus, A = Abnahme)

Die Folge von Hirnverletzungen für das Träumen unterstützen die Resultate der PET-Studien. Läsionen, die mit Defiziten oder Veränderungen des Traumerlebens einhergehen, stehen erstaunlich komplementär zu den Messungen des Hirnmetabolismus. Der Anstieg der Aktivität beim Träumen im Tegmentum des Hirnstamms, in limbischen Strukturen, den extrastriären Cortices und dem rechten parietalen Operculum paßt dazu, daß Schädigungen dieser Regionen das Träumen beeinträchtigen können. Eine Abnahme des Stoffwechsels im primären visuellen Cortex und im dorsolateralen präfrontalen Cortex, die mittels PET gemessen wurde, korrespondiert mit dem Befund, das Läsionen dieser Areale das Träumen nicht beeinträchtigen.

Träume

2synchronisierte Hirnaktivitäten, Träume und Bewußtsein:
Der Unterschied zwischen Wachheit und Tiefschlaf kann nicht strukturell, sondern muß funktionell sein, weil man sehr rasch in den Schlaf fallen und ebenso schnell wieder daraus aufwachen kann: Die zugrunde liegenden Mechanismen sind also elektrischer Natur. Es scheint, daß rhythmische Aktivitäten in den thalamo-corticalen Verbindungen, moduliert vom Hirnstamm, die Basis für das Bewußtsein abgeben, welches dann durch die Sinne (oder Vorstellungen und Erinnerungen) seinen spezifischen Gehalt erhält. In verschiedenen Hirnregionen und auf verschiedenen Größenskalen wurden oszillierende Frequenzmuster in der Aktivität neuronalen Gewebes entdeckt: im Gamma-Frequenzband zwischen 30 und 80 Hertz mit einem Schwerpunkt um 40 Hertz. Solche synchronen Aktivitäten werden als essentielle Bestandteile des Wahrnehmungsprozesses angesehen. Aber sie könnten noch weitergehende Funktionen haben, vielleicht für Bewußtseinszustände ganz allgemein. Denn die 40 Hertz-Synchronisationen machen sich auch bei globalen Messungen mit EEG und MEG (Magnetencephalographie) bemerkbar, und sie sind nicht nur im Cortex, sondern auch auf thalamo-corticaler Ebene nachgewiesen worden. Deshalb ist die Annahme plausibel, daß über den Thalamus oszillierende Erregungsmuster von der Formatio reticularis im Mesencephalon in die Großhirnrinde laufen und dort die Ausbildung kohärenter Aktivitäten zwischen den verschiedenen Arealen fördern, die für die einzelnen Sinnesmodalitäten zuständig sind. MEG-Messungen zeigten, daß die Nervenzellen auch beim Träumen im Takt feuern, nicht jedoch im traumlosen Tiefschlaf. Ein elektrophysiologischer Unterschied zwischen Wachen und Traumschlaf ist, daß ein auditorischer Stimulus im Wachzustand einen "Reset" der Oszillationen auslöst (über große Bereiche des Cortex), während dies im Traumschlaf nicht der Fall ist. Das korrespondiert mit der Erfahrung, daß während des Träumens meist kein sensorischer Input ins Bewußtsein gelangt. Im Tiefschlaf kommt es nicht, wie im Wach- und Traumzustand, zu einer thalamischen Depolarisierung, sondern zu einer Hyperpolarisierung. Es bilden sich niedrige Frequenzmuster unter 15 Hertz aus. Auch hier erfolgt bei einem auditorischen Stimulus keine Reaktion.

Träume

3 Träume als Gefahrensimulation:
Empirische Studien zeigten, daß in Träumen viel häufiger realistische Gefahren vorkommen als im wachen Alltagsleben: Rund 70% aller Trauminhalte ranken sich um Aggressionen, Kämpfe (häufiger bei Männern), Fehler, Mißgeschicke, Versagen, Angriffe, Flucht und Verfolgung (während auswegslose Situationen wie Krankheiten oder Katastrophen kaum vorkommen). Deshalb wurde vermutet, daß eine Funktion des Träumens im mentalen Durchspielen von Gefahrensituationen besteht, was vielleicht im Alltagsleben nützlich ist. Wenn Träumen einen biologischen Anpassungswert hat, also in der Evolution selektiert wurde, wäre das auch für die Erforschung von Bewußtsein allgemein erhellend, weil es dafür spräche, daß zumindest manche Bewußtseinszustände dann im Gegensatz zur Annahme einiger Philosophen und Neurowissenschaftler keine kausal wirkungslosen Epiphänomene sind. Geist und Gehirn, Leib-Seele-Problem, Willensfreiheit.

  • Die Autoren
Redaktion

Dr. Hartwig Hanser, Waldkirch (Projektleitung)
Christine Scholtyssek (Assistenz)

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