Direkt zum Inhalt

Lexikon der Optik: elektrophysiologische Untersuchungen

elektrophysiologische Untersuchungen, Prozesse der Ableitung, Verstärkung, Messung und Aufzeichnung sowie Auswertung elektrischer Vorgänge in einem Organ. Sie haben in der Sinnesphysiologie große Bedeutung, besonders bei Untersuchungen des Gesichtssinnes. Verschiedene e. U. sind bereits so ausgereift, daß sie in die praktische Augenheilkunde Einzug gefunden haben.

1) Grundlagen. Elektrische Potentialdifferenzen an Zellmembranen sind für den Ablauf vieler wichtiger Lebensvorgänge von Bedeutung, z.B. für den Sauerstofftransport, für katalytische Prozesse sowie die Erregung und Erregungsleitung in den Nerven und der Muskulatur. Neben konduktilen (fortleitenden) Membranen gibt es synaptische (übertragende) und rezeptorische (reizaufnehmende) Membranen.

Rezeptorische Membranen ermöglichen die Entstehung von Nervenimpulsen durch energetische Erregung von Sinneszellen. Bei ihnen wird die notwendige Änderung des Rezeptor- oder Generatorpotentials (Abb. 1) direkt oder indirekt durch die Einwirkung einer dem Rezeptor adäquaten Energieform erzeugt, z.B. durch mechanische Einwirkungen, durch Wärme oder Lichtstrahlung.

Die Untersuchung der fortleitbaren Aktionspotentiale, die die Erregung begleiten, ermöglicht Aussagen über das Verhalten der Erregung unter verschiedenen Bedingungen sowie Einblicke in die physikalisch-chemischen Prozesse, die ihr zugrunde liegen. Daher und auch wegen ihrer schonenden Wirkung sind Untersuchungen der Aktionspotentiale für praktisch-diagnostische Zwecke wichtig geworden. Man wendet sie klinisch als Elektrokardiogramm (EKG) am Herzen, als Elektroenzephalogramm (EEG) am Gehirn, als Elektromyogramm (EMG) an Muskeln wie auch in mehreren verschiedenen Arten am Auge an.

2) Elektrophysiologische Messungen am Auge. a) Das Elektromyogramm (EMG) ist eine Aufzeichnung der elektrischen Aktivität der Augenmuskeln. Zur Ableitung der Aktionspotentiale der Augenmuskeln werden koaxiale Nadelelektroden verwendet, die ein Aufnahmefeld für sehr kleine Muskelbereiche besitzen. Durch das EMG lassen sich differenzierte Bilder von Augenmuskellähmungen darstellen: Läsionen des peripheren motorischen Neurons, Störungen des neuro-muskulären Überganges, Muskelerkrankungen (Myopathien) sowie zentrale Innervationsstörungen.

b) Das Elektrookulogramm (EOG) basiert auf der auch im Ruhezustand ständig vorhandenen Potentialdifferenz zwischen der elektronegativen Netzhaut und der positiven Hornhaut, deren Quelle der Stoffwechsel und die Dauererregung der retinalen Neuronen bzw. Sinneszellen ist. Das Auge wirkt als Dipol, und jede Bewegung des Augapfels (außer Verrollungen) beeinflußt das elektrische Potential. Die Ableitung des Meßsignals erfolgt durch Silber-Silberchlorid-Elektroden, die am inneren und äußeren Lidwinkel sowie oberhalb und unterhalb des Auges auf die Haut geklebt werden. Die Aufnahme eines EOG hat sich als wichtige Standardmethode zur Aufzeichnung von Augenbewegungen, auch des Nystagmus (Elektronystagmographie, ENG) durchgesetzt.

c) Das Elektroretinogramm (ERG) registriert die bioelektrische Gesamtaktivität der durch die Lichtreizung erregten Netzhaut. Daher können keine Lokalisationen vorgenommen werden, wohl aber funktionelle Unterscheidungen durch Variation der Reizbedingungen (Hell-Dunkeladaptation, Einzelreize, Flimmerreize, spektrale Differenzierung). Abgeleitet werden die Potentiale mit Hilfe von Kontaktschalen-Elektroden. Diese Kontaktschalen liegen breitflächig auf der Bindehaut über der Sklera auf. Sie enthalten eine Silber- oder Goldelektrode, die über ein möglichst flexibles Kabel mit dem Verstärker verbunden ist. Zur Verringerung des Übergangswiderstandes zwischen Hornhaut und Kontaktschale wird letztere mit physiologischer NaCl-Lösung gefüllt. Die indifferente Gegenelektrode wird meist an der Schläfe auf die Haut geklebt. Das ERG besteht aus einer initialen negativen a-Welle (0 bis 120 μV Spannung), einer positiven b-Welle (10 bis 600 μV) und einer positiven c-Welle (Abb. 2). Die a-Welle wird hauptsächlich der Aktivität der äußeren Netzhautschichten zugeschrieben, die b-Welle rührt von den inneren Netzhautteilen und die c-Welle wahrscheinlich von dem Pigmentepithel her. Andere Komponenten überlagern diese typischen Wellenanteile. Zur Interpretation eines ERG sind umfangreiche klinische Erfahrungen erforderlich. Das ERG-Verfahren ist unentbehrlich zur Differenzierung von Netzhauterkrankungen und Durchblutungsstörungen der Netzhaut sowie zur Prognose vor Augenoperationen, wenn ein Einblick in das Augeninnere nicht möglich ist.

d) Das visuell evozierte corticale Potential (VECP) ist das Antwortpotential auf einen visuellen Reiz, der im Gehirn vom visuellen Cortex (Area 17) ausgeht und mit Hilfe von Silberelektroden, die auf die Kopfhaut des Hinterkopfes geklebt werden, abgeleitet wird.

Das helligkeits- oder lichtevozierte VECP (auch Luminanz-VECP genannt) gestattet nur eine Groborientierung, ist aber auch ohne Einblick in den Augenhintergrund, z.B. bei Verletzungen, Medientrübungen oder geschlossenen Augen, durchführbar, ebenso bei starken Refraktionsanomalien ohne optische Korrektion. Nachweisbar sind angeborene und erworbene Farbensehstörungen, insbesondere solche des Rot-Grün-Systems. Das VECP gilt bei mesopischer Anwendung als Antwort auf das photopische System des Sehens. Das musterevozierte VECP ist die zuverlässigste elektrophysiologische Untersuchungsmethode des photopischen Sehens und erlaubt Rückschlüsse auf die monokulare und binokulare Sehleistung (Sehschärfe, Binokularsehen) sowie auf das Gesichtsfeld bei Augengesunden und Sehschwachen. Es ist bereits im Kleinkindesalter anwendbar. Besonders erfolgreich ist die Anwendung bei degenerativen und entzündlichen Erkrankungen des Sehnervs.



Elektrophysiologische Untersuchungen 1: Neurophysiologische Grundprozesse an einer Sinneszelle. Durch energetischen Reiz, z.B. Lichtreiz, wird die Ladungsverteilung der K+-, Na+- und Cl--Ionen an der rezeptiven Membran beeinflußt, es entsteht das Rezeptorpotential. Im Bereich der Axone, der erregungsleitenden Fortsätze der Nerven- und Sinneszellen, werden die langsam veränderlichen Rezeptorpotentiale in eine Folge schneller Potentialschwankungen, die Aktionspotentiale, umgewandelt, die mit gleichbleibender Amplitude über die Nervenfasern fortgeleitet werden. Jenseits der Synapsen liegt das erregende postsynaptische Signal (EPSP) vor, das ebenfalls durch Umwandlung in ein Aktionspotential fortleitbar wird.



Elektrophysiologische Untersuchungen 2: Normales Elektroretinogramm (ERG) mit a-, b-, c- und d-Welle, synchron zum Reiz von 5,3 s Dauer und 310 cd/m2 Reizstärke dargestellt.

  • Die Autoren
Roland Barth, Jena
Dr. Artur Bärwolff, Berlin
Dr. Lothar Bauch, Frankfurt / Oder
Hans G. Beck, Jena
Joachim Bergner, Jena
Dr. Andreas Berke, Köln
Dr. Hermann Besen, Jena
Prof. Dr. Jürgen Beuthan, Berlin
Dr. Andreas Bode, Planegg
Prof. Dr. Joachim Bohm, Berlin
Prof. Dr. Witlof Brunner, Zeuthen
Dr. Eberhard Dietzsch, Jena
Kurt Enz, Berlin
Prof. Joachim Epperlein, Wilkau-Haßlau
Prof. Dr. Heinz Falk, Kleve
Dr. Wieland Feist, Jena
Dr. Peter Fichtner, Jena
Dr. Ficker, Karlsfeld
Dr. Peter Glas, Berlin
Dr. Hartmut Gunkel, Berlin
Dr. Reiner Güther, Berlin
Dr. Volker Guyenot, Jena
Dr. Hacker, Jena
Dipl.-Phys. Jürgen Heise, Jena
Dr. Erwin Hoffmann, Berlin (Adlershof)
Dr. Kuno Hoffmann, Berlin
Prof. Dr. Christian Hofmann, Jena
Wolfgang Högner, Tautenburg
Dipl.-Ing. Richard Hummel, Radebeul
Dr. Hans-Jürgen Jüpner, Berlin
Prof. Dr. W. Karthe, Jena
Dr. Siegfried Kessler, Jena
Dr. Horst König, Berlin
Prof. Dr. Sigurd Kusch, Berlin
Dr. Heiner Lammert, Mahlau
Dr. Albrecht Lau, Berlin
Dr. Kurt Lenz, Berlin
Dr. Christoph Ludwig, Hermsdorf (Thüringen)
Rolf Märtin, Jena
Ulrich Maxam, Rostock
Olaf Minet, Berlin
Dr. Robert Müller, Berlin
Prof. Dr. Gerhard Müller, Berlin
Günter Osten, Jena
Prof. Dr. Harry Paul, Zeuthen
Prof. Dr. Wolfgang Radloff, Berlin
Prof Dr. Karl Regensburger, Dresden
Dr. Werner Reichel, Jena
Rolf Riekher, Berlin
Dr. Horst Riesenberg, Jena
Dr. Rolf Röseler, Berlin
Günther Schmuhl, Rathenow
Dr. Günter Schulz, Berlin
Prof. Dr. Johannes Schwider, Erlangen
Dr. Reiner Spolaczyk, Hamburg
Prof. Dr. Peter Süptitz, Berlin
Dr. Johannes Tilch, Berlin (Adlershof)
Dr. Joachim Tilgner, Berlin
Dr. Joachim Träger, Berlin (Waldesruh)
Dr. Bernd Weidner, Berlin
Ernst Werner, Jena
Prof. Dr. Ludwig Wieczorek, Berlin
Wolfgang Wilhelmi, Berlin
Olaf Ziemann, Berlin


Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.