Metzler Philosophen-Lexikon: Adler, Alfred
Geb. 7. 2. 1870 in Rudolfsheim;
gest. 28. 5. 1937 in Aberdeen
A. war neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung Begründer der Tiefenpsychologie. A.s Bemühungen galten nicht nur der Heilung, sondern vor allem der Verhinderung von psychischen Krankheiten. In diesem Zusammenhang sind seine Beiträge zur Erziehung sowie sein soziales Engagement zu sehen. Die Titel einiger seiner Bücher machen diese Absicht deutlich: Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe (1898), Heilen und Bilden (1913), Individualpsychologie in der Schule (1929) und Kindererziehung (1930). Diese Ausrichtung der Tiefenpsychologie hat den Grund in A.s Entsetzen über die kollektive Machtneurose, die im Ersten Weltkrieg zum Ausbruch kam. Erst nach diesem Ereignis war die Ausprägung der Individualpsychologie in der genannten Weise festzustellen. A. teilte mit Nietzsche die Einsicht, daß alles nach Macht strebt, zugleich aber allem Macht fehlt. Dieses Streben aus der Ohnmacht zur Macht sei ubiquitär und verursache die Bewegung alles Lebendigen. Doch die Auswirkungen des Machtstrebens, sichtbar außer in den Kriegsereignissen in den psychischen Leiden des Bürgertums und der Arbeiterschaft in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ließen A. zu der Einsicht gelangen, daß es vorrangig sei, Neurosen zu verhindern. Aufgrund dieser Einsicht zeigt die entwickelte Individualpsychologie gegenüber Freuds Psychoanalyse in drei wesentlichen Punkten Unterschiede: Neurosen sah A. als ein soziales Phänomen an, da das Machtstreben seine Ursachen in der Sozialisation der Klassengesellschaft habe. In der Individualpsychologie sind darum die sozialen Aspekte auch stärker herausgearbeitet als in der übrigen Psychoanalyse. Zum zweiten wurden in der klassischen Psychoanalyse Überlegungen zur Prävention eher selten angestellt. Die Individualpsychologie dagegen hat Erziehungskonzepte ausgearbeitet, die darauf gerichtet sind, Neurosen zu verhindern. Zum dritten gab es in der ursprünglichen Psychoanalyse neben der Therapie kein Instrumentarium, das sich Beratung^ nennt, also keine tiefenpsychologische Unterstützung bei der Lösung von Alltagsproblemen.
Der in einem ländlichen Vorort Wiens großgewordene A. wuchs in kleinbürgerlichem Milieu auf. Er kokettierte damit, als »Gassenjunge« aufgewachsen zu sein. Von seiner eigenen Sozialisation her läßt sich erklären, daß A. empfindlich aufmerksam war für soziale Probleme: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts bestand rund vier Fünftel der gesamten Bausubstanz Wiens aus sogenannten »Zinskasernen«, menschenunwürdigen Behausungen, die hoffnungslos überbelegt waren. Die Familien waren kinderreich, die Menschen dem Terror und der Willkür des Hausherrn, der sogenannten »Zinsgeier«, ausgesetzt. Um die Miete bezahlen zu können, wurde an sogenannte »Bettgeher«, die nur zum Schlafen kamen, untervermietet. So wurde das Familienleben zerstört. Es kam zur Verrohung der Sitten, Alkoholismus, Kriminalität, frühem Tod oder Selbstmord. Dieses Massenelend traf A. an, als er sich nach dem Medizinstudium an der Wiener Universität entschloß, ein sozial engagierter Arzt zu werden. 1902 lernte A. Freud kennen und schloß sich dem Freudschen Mittwochskreis an. Wie der Kontakt zustande kam, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die Hinwendung A.s zur Psychoanalyse. A. warb im bürgerlichen Freud-Kreis um Verständnis für die Arbeiterbewegung. Er stieß allerdings auf Befremden. 1911 trennte A. sich von Freud. Carl Gustav Jung sagte dazu 1930: A.s Individualpsychologie »betont vor allem die soziale Seite des seelischen Problems und differenziert sich daher immer mehr zu einem sozialen Erziehungssystem«. Es unterscheidet sich »in allen der Freudschen Richtung wesentlichen Stücken von der ursprünglichen Psychoanalyse und zwar in solchem Maße, daß, mit Ausnahme gewisser theoretischer Prinzipien, die ursprünglichen Berührungspunkte mit der Freudschen Psychologie kaum mehr aufzufinden sind. A.s sogenannte Individualpsychologie ist das Bekenntnis eines anderen Temperaments und einer völlig anderen Weltanschauung. Keiner, der sich für Psychoanalyse^ interessiert und der danach trachtet, einen einigermaßen genügenden Überblick über das Gesamtgebiet der ärztlichen Seelenkunde zu erhalten, sollte es versäumen, die A.schen Schriften zu studieren. Er wird die wertvollsten Anregungen schöpfen«.
Außer der Betonung der sozialen Seite seelischer Probleme ist es ein weiteres Merkmal der A.schen Theorie, daß er sich schon sehr früh vom kausal-naturwissenschaftlichen Denken abwandte. Das war für ihn selbst auch einer der wesentlichen Unterscheidungspunkte zur Psychoanalyse, der ebenfalls nicht unmaßgeblich für die Trennung von Freud gewesen sein dürfte. A. dachte wie viele Wissenschaftler seiner Generation: Das kausal-naturwissenschaftliche Denken wurde ergänzt durch das ganzheitliche. Das bedeutet, daß an die Stelle der triebbestimmten Psyche die Auffassung des Individuums als eines aktiv und zielbestimmt handelnden Wesens in den Vordergrund trat. Deshalb nannte A. nach dem Bruch mit Freud seine Richtung »Individualpsychologie«. Damit sollte deutlich werden, daß der Mensch in seiner Ganzheit als einheitliches, unteilbares Individuum mit all seinen – vor allem sozialen – Bezügen angesehen werden müsse. Dieses Individuum handle willentlich und zielgerichtet. An die Stelle des kausalen Erklärens von Neurosen trat das teleologische Verstehen. Somit hat die Individualpsychologie eine enge Beziehung zur verstehenden Soziologie Max Webers. A. sagte: »Wir sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne daß uns ein Ziel vorschwebt Wenn jemandem jedoch ein Ziel vorschwebt, dann verläuft die seelische Regung so zwangsläufig, als ob hier ein Naturgesetz walten würde.« Jeder Mensch strebe von einer Ohnmachtsituation in eine Machtsituation. Die Ziele des Strebens könnten sozial nützlich und real erreichbar sein oder sozial unnütz und fiktiv. Setzt sich der Mensch nicht erreichbare und sozial unnütze Ziele (»Ich will allen überlegen sein«, »Ich will der Beste von allen sein«), führt das zu Neurosen. Die Aufgabe des individualpsychologischen Therapeuten und seines Klienten wird demnach die Umfinalisierung sein.
Seine Theorie hat A. nicht systematisch dargestellt. Die wichtigsten Gedanken der Individualpsychologie finden sich in den vier Werken Studie über die Minderwertigkeit von Organen (1907), Über den nervösen Charakter (1912), Menschenkenntnis (1927) und Der Sinn des Lebens (1933). Der ruhe- und rastlose Mann war immer mehr Praktiker als Theoretiker. Er wurde gelobt als glänzender Redner mit Überzeugungskraft. Nach dem Ersten Weltkrieg baute er in Wien ein Netz von Erziehungsberatungsstellen auf. 1934 mußte er in die USA emigrieren und starb 1937 bei einer Europareise während eines Spaziergangs in Aberdeen. Freud kommentierte: »Für einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reichlich dafür belohnt, daß er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.« Die Bedeutung der Individualpsychologie ist heute, vor allem in den USA, der der klassischen Psychoanalyse fast vergleichbar. Erst Ende der 60er Jahre wurde die Individualpsychologie in Europa wieder bekannter.
Brunner, Reinhard/Titze, Michael (Hg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München 21995. – Schmidt, Rainer (Hg.): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Ein Lehrbuch. Frankfurt am Main 1989. – Ansbacher, Heinz L./Ansbacher, Rowena R. (Hg.): Alfred Adlers Individualpsychologie. München 1984.
Detlef Horster
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