Metzler Philosophen-Lexikon: Anselm von Canterbury
Geb. 1034 in Aosta/Piemont;
gest. 21. 4. 1109 in Canterbury
Über A.s Leben hat sein Schüler Eadmer in der Vita Sancti Anselmi berichtet – er war zu Lebzeiten bereits eine Legende, sein Ruhm stand dem eines weltlichen Fürsten in nichts nach. Geboren wurde er als Sproß einer einflußreichen und wohlhabenden lombardischen Familie; er zerstritt sich jedoch nach dem frühen Tod der Mutter mit seinem Vater und zog in der Folge unruhig und »verzweifelt« (»desperans«) im Glauben an Gott und damit im gnadenlosen Stand der ewigen Verdammnis, einer Todsünde, durch Frankreich. Bis er sich durch Lanfranc, Prior des normannischen Benediktinerklosters Bec, angezogen fühlte. Lanfranc war gerade in den sog. »Abendmahlsstreit« mit Berengar von Tours verwickelt, in dem erbittert um die realistische oder symbolische Interpretation der Wandlung von Brot und Wein (Transsubstantiation) und damit um die trinitarisch verbürgte Erscheinungsweise Christi gekämpft wurde. Lanfranc sprach sich schließlich in diesem Streit unter synodalem Druck für ein orthodoxes Schriftverständnis und gegen die Anwendung dialektischer Verfahren, wie sie aus der aristotelisch-boethianischen Schullogik abzuleiten waren, in Sachen des Glaubens aus.
Seit 1060 war A. Novize, dann Mönch der Benediktinerabtei Bec und wurde engster Schüler von Lanfranc. Er machte sich zunächst mit dem traditionellen theologischen Rüstzeug vertraut, aber der einstweilen durch kirchlichen Machtspruch abgetane Streit zwischen Berengar und Lanfranc arbeitete in ihm weiter – hatte er doch in seinen Augen eine »Versöhnung« von Glauben und Wissen, von Theologie und Philosophie notwendig gemacht. Dies auch aus äußeren Gründen eines unabgeklärten, höchst lebendigen Nebeneinander: Die Ausbreitung »weltlicher« Wissenschaft beschleunigte sich, der Islam war im südlichen Europa unübersehbar und hatte das Heilige Grab in seiner Hand, der Platonismus der byzantinischen Theologie reichte herüber, das Judentum wurde geistig und wirtschaftlich immer stärker. Als katholischer Geistlicher jener Zeit hatte man also allen Anlaß, der Welt zu beweisen, daß der Gott der christlichen Kirche der einzig wahre sei, weil er alle anderen Gottesvorstellungen übersteigt. Der augustinischen Tradition folgend, sei er daher das höchste erstrebenswerte Gut (»summum bonum«). Die überlegene Stellung des christlichen Gottes könne – selbst für einen ungläubigen Moslem oder Juden – unleugbar aus der Tatsache hervorgehen, daß er mit Mitteln der Logik, an der alle Menschen unabhängig von ihrer Religion teilhaben, der »Vernunft des Glaubens« (»ratio fidei«) als solcher beweisbar sei. Mit dieser rationalistischen Gotteskonzeption versucht A. nicht nur, auf den entstandenen Legitimationsdruck zu antworten; er beabsichtigt, fernab der Heiligen Schrift oder einer neuartig akzentuierten Schöpfungstheologie den christlichen Glauben »allein aus Vernunftgründen« (»sola ratione«) als integrative, dem Islam, dem Judentum, dem weltlichen Rationalismus überlegene Kraft zu beweisen. Um den Preis einer Verwissenschaftlichung des christlichen Glaubens und einer Vergeistigung des Gottesverständnisses ist A. mit diesem Plan weit über seinen Lehrer Lanfranc hinausgewachsen.
Im Jahr 1076 hat A. das Monologion (Selbstgespräch) fertiggestellt, das diese Absicht als erste Schrift einlösen sollte. A. führt darin einen stufenförmig angelegten Beweis der Teilhabe des Menschen und der Schöpfung am höchsten Gut. Obwohl er durchweg mit logischen Begriffen argumentiert, spricht er auch die Heilsgewißheit aus, die sich aus der Geborgenheit des Menschen in der ewigen, uneingeschränkten Liebe des »höchsten Wesens« ergibt. Wenig später, etwa zum Zeitpunkt seiner Wahl als Abt des Klosters Bec (1078), hat er die Schrift Proslogion (Anrede) vollendet, in deren zweitem und drittem Kapitel er folgenden Gedankengang darstellt: Er bezeichnet Gott als »dasjenige, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann« (»aliquid quo nihil maius cogitari possit«) – eine Definition, der auch ein Heide (darauf kommt es A. ja programmatisch an) zustimmen muß. Da nun etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, wahrhaft wirklich existiert, ja nicht einmal als nicht-existent gedacht werden kann, und Gott als solcher (nach A.s Auffassung auch von einem Heiden) verstanden wird, ist es zwingend, daß auch Gott als nicht-existierend garnicht gedacht werden kann. Der Begriff Gottes verlangt also ein vom Denken unabhängiges Sein – seine Existenz, seine Realität ergibt sich mithin aus seinem Begriff. Den methodischen Weg, den A. bei seiner Beweisführung einschlägt, bezeichnet er mit dem »Glauben, der die Einsicht aus Vernunftgründen sucht« (»fides quaerens intellectum«); an anderer Stelle sagt er, in Anlehnung an Jes. 7, 9 und Augustinus: »ich glaube, um zu erkennen« (»credo, ut intelligam«). Diese logische Gottesschau hat schon bei Zeitgenossen wie Lanfranc und Gaunilo von Marmoutier Widerspruch ausgelöst, insofern beiden uneinsichtig war, weshalb aus einem Begriff auf die Existenz seines Gegenstands geschlossen werden könne. Eine spürbare Wirkung aber, die sich keinesfalls in ungeteilter Zustimmung erschöpfte, ging von A.s Gottesbeweis erst aus, als man sich in der Hochscholastik um eine genauere Klärung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben – bei A. noch eingebettet in die christliche Heilsgewißheit – bemühte. Erst von diesem Zeitpunkt an ist eine anhaltende Auseinandersetzung mit A.s Gottesbeweis zu verzeichnen: bei Duns Scotus, Descartes, Malebranche, Leibniz und Hegel, skeptisch bei Thomas von Aquin und Kant, der den Begriff »ontologischer Gottesbeweis« schuf und über ihn, Leibniz und Descartes einbeziehend, vernichtend urteilte: »Es ist also an dem so berühmten ontologischen Beweise, vom Dasein eines höchsten Wesens, aus Begriffen, alle Mühe und Arbeit verloren, und ein Mensch möchte wohl eben so wenig aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden, als ein Kaufmann an Vermögen, wenn er, um seinen Zustand zu verbessern, seinem Kassenbestand einige Nullen anhängen wollte.« Karl Barth schließlich hat den Versuch unternommen (in Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes, 1931), A.s Beweis dem erkenntniskritischen Pro und Contra zu entziehen und ihn als rationalen Ausdruck eines apostolischen Bewußtseins verständlich zu machen.
Barth kommt damit vermutlich der Wahrheit über A. in seiner Zeit nahe. A. war gläubiger Mann der Kirche; seine Schriften zu Christologie und Dogmatik sprechen dafür; er war kein Logiker oder Erkenntnistheoretiker in neuzeitlichem Sinn. Seine Form des Denkens ist die der spekulativen Meditation. Er suchte neue Wege des Argumentierens über das traditionelle Schriftverständnis hinaus, und mit seiner Integration dialektischer Methoden in den theologischen Disput, mit seinem Schritt über Berengar und Lanfranc hinaus ist er zum »Vater der Scholastik« geworden. Neu und ungewöhnlich ist seine Sprache des Beweises. In seiner zentralen Schrift Cur deus homo (1094/98; Warum Gott Mensch geworden) führt er vor, daß Gott mit Notwendigkeit in Jesus Christus Mensch werden mußte; der Mensch allein, im Stand der Erbsünde, ist nicht in der Lage, die göttliche Gerechtigkeit zu erkennen und aus der Erkenntnis höchster Gerechtigkeit heraus zu handeln. Die Gerechtigkeit ist allein in Gott, und deshalb muß sie sich dem Menschen durch Jesus Christus zu erkennen geben, damit er nach ihr handeln kann. Ähnlich argumentiert A. in De veritate (Von der Wahrheit): Die Wahrheit ist in Gott, der Mensch ist nur Teil der gottgeschaffenen Seinsordnung. Was der Mensch Erkenntnis des Wahren nennt, ist lediglich Wirkung der Wahrheit, die nur von Gott ausgeht. Kein Zweifel: Der christliche Kosmos A.s ist unverbrüchliche Realität, wie sie sich in den Skulpturen, den Bildwerken und den monumentalen Sakralbauten der Romanik zeigt, die er auf seinen Visitationsreisen vor Augen hat.
Indessen wird in Deutschland, Frankreich und England der Investiturstreit ausgetragen, ein Aufstand des Klerus gegen die adlige Oberherrschaft, bei der es ihm letzten Endes um eine Erweiterung des machtpolitischen Instrumentariums der Kirche und eine Steigerung der territorialen Expansion ging. In diesem Kampf gerieten selbst die Kreuzzüge zum Mittel, den Adel substantiell zu schwächen. A. ist nicht nur deren lebhafter Befürworter, er trägt den Kampf auf seiten der Kirche gegen den englischen König Wilhelm den Zweiten und danach gegen dessen Sohn Heinrich den Ersten entscheidend mit. A., seit 1093 bekleidet er die Würde des Erzbischofs von Canterbury, muß zweimal außer Landes nach Frankreich fliehen, aber er ficht den Kampf bis zum Konkordat von London (1107) zu Ende, weil er weiß, daß er dem katholischen Glauben, der amtierenden Kirche in allen Belangen der Zeit die theoretische Vorherrschaft, das geistige Monopol gesichert hat: Damit ist er ein beispielloser klerikaler Machtpolitiker, auf philosophischer Ebene.
Mensching, Günther: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart 1992, S. 105–128. – Le Goff, Jacques: Die Intellektuellen im Mittelalter. Stuttgart 1986. – Schmitt, Franciscus S. (Begr.): Analecta Anselmiana. Untersuchungen über Person und Werk Anselms von Canterbury, 5 Bde. Frankfurt am Main 1969–1976. – Cramer, Wolfgang: Gottesbeweise und ihre Kritik. Frankfurt am Main 1967. – Henrich, Dieter: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 21967.
Bernd Lutz
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