Metzler Philosophen-Lexikon: Antisthenes
Geb. um 445 v. Chr. in Athen;
gest. um 365 v. Chr.
Die Antisthenes-Philologie des 19. Jahrhunderts erweckt über weite Strecken hinweg den Eindruck einer verwirrenden Schnitzeljagd, bei der die Jäger weder wissen, welcher Spur sie folgen, noch welches Tier sie fangen sollen. So konnte es nicht ausbleiben, daß jedem genau die Beute ins Netz ging, die seinen jeweiligen Zwecken am dienlichsten war: Einmal erschien A. als der begnadete Schüler des Gorgias, der später, nach seiner Begegnung mit Sokrates, ein philosophisches Bekehrungserlebnis hatte und die Sophistik zugunsten der Sokratik verriet; ein anderes Mal wurde ihm das Verdienst zugeschrieben, der einzige treue Bewahrer und Vermittler der von Platon und Xenophon letztlich nur mißverstandenen sokratischen Lehre gewesen zu sein; dann wieder machte man ihn zum Begründer des Kynismus, dessen erstes Schulhaupt er gewesen sein soll. Anderen galt er als der philosophische Erbe Heraklits, als der geistige Urgroßvater Zenons oder als der große Antiplatoniker: Wenn eine Platonische Dialogfigur gegen Unbekannt schimpft, konnte dies nur als eine gewollte Spitze gegen A. gemeint sein; wo Platons Dialogfiguren dagegen nicht ausfällig werden, mußte ihr schnödes Schweigen A. um so tiefer treffen.
Schärfere Konturen hat das Antisthenesbild erst gewonnen, seitdem neue, vollständige Fragmentausgaben die älteren rhapsodischen Sammlungen ersetzt haben und seitdem die wissenschaftliche Beschäftigung mit griechischer Philosophie dem historisch Gesicherten den Vorrang gegenüber dem weltanschaulich Genehmen eingeräumt hat. Es ist unbestreitbar, daß A.’ Stil – soweit wir ihn anhand der zwei einzigen vollständig überlieferten Reden beurteilen können – deutliche Anklänge an die von Gorgias inaugurierte Kunstprosa aufweist. Dennoch zeigt eine genaue Analyse der antiken Quellen, daß A. – entgegen einer verbreiteten Lehrbuchmeinung – aus chronologischen Gründen wohl kaum ein direktes Schülerverhältnis zu Gorgias unterhalten haben dürfte. Sein eigentliches Milieu war vielmehr das des Sokratismus, mithin das des Dialogs, des Fragens und des Zweifelns. Als gesichert gilt, daß A. als erster sokratische Dialoge^ verfaßte und damit der eigentliche Begründer der durch Platon berühmt gewordenen Prosagattung ist, doch ist leider nicht mehr feststellbar, in welchem Maße Platons Dialoge von den antisthenischen abhängen oder sich gegen sie abgrenzen. Da die doxographische Überlieferung uns die beiden begabtesten Sokratesschüler jedoch als unversöhnliche Rivalen schildert, liegt die Vermutung nahe, daß der Sokrates des A. ein anderer gewesen ist als derjenige Platons. Die Ursache der Rivalität zwischen A. und dem um 20 Jahre jüngeren Platon ist nicht bekannt; man wird sie wohl darin zu suchen haben, daß noch nie zwei Koryphäen gleichzeitig nebeneinander bestehen konnten. A. warf Platon Arroganz und Aufgeblasenheit vor; eine seiner zahlreichen Schriften trägt als Titel eine obszöne Verballhornung von Platons Namen (»Sathon«; etwa: »Pimmelchen«), und von A. stammt einer der Lieblingssätze aller späteren Nominalisten: »Das Pferd sehe ich wohl, die Pferdheit dagegen nicht.« Von Platon unterschied ihn sicherlich auch der unbedingte Wille, sich nichts vorzumachen und die Wahrheit nur in der Realität zu sehen, anstatt sie im Ideenhimmel anzusiedeln. Als jemand ihn fragte, welche Frau er heiraten solle, gab A. ihm zur Antwort: »Heiratest du eine Schöne, macht sie sich allen gemein; heiratest du eine Häßliche, trägst du die Last ganz allein.« Den Athenern legte er ans Herz, mehrheitlich zu dekretieren, daß die Esel Pferde seien; als man diesen Vorschlag für absurd hielt, gab A. seinen Mitbürgern zu bedenken, daß sie doch auch Dummköpfe durch Handaufheben zu Feldherren wählten. Ein ähnlich illusionsferner denkerischer Rigorismus spiegelt sich auch in A.’ Haltung gegenüber der Physis-Nomos-Auseinandersetzung wieder. Die Sophistik des 5. Jahrhunderts hatte die Frage, ob die schriftlich festgelegten Gesetze und die gängig befolgten Verhaltensweisen in einer unwandelbaren Natur (»phýsis«) des Universums und des Menschen begründet lägen, oder ob sie vielmehr nur auf Tradition und Übereinkunft (»nómos«) beruhten, zu einem ihrer Lieblingsthemen erkoren. A. vertrat die These, daß es »nach dem Gesetz zwar viele, nach der Natur aber nur einen Gott« gibt, wobei seine Sympathie zweifellos der Natur^ galt, das heißt der Erkenntnis des eigenen Göttlichen, dem man entgegen der relativen Gültigkeit von Brauchtum und Gesetz folgen müsse. In die gleiche Richtung weist auch A.’ allegorische Homerauslegung: Unter dem augenfälligen Schein des Gesagten (»dóxa«) verbirgt sich eine dem Gemeinen nicht zugängliche Wahrheit (»alḗtheia«), die nur der Philosoph zu erkennen vermag.
Für die Folgezeit am wichtigsten war A.’ Auffassung, daß die Tugend lehrbar sei, und daß derjenige, der sie einmal erworben hat, sie nicht mehr verlieren könne. Die Grundvoraussetzung für ein tugendhaftes Leben bildet die innere geistige Unabhängigkeit (»autárkeia«) gegenüber den widrigen Umständen des äußeren Lebens; hierzu gehört, daß man den sinnlichen Freuden sowenig wie möglich stattgibt und strenge Enthaltsamkeit auf allen Gebieten übt. Die Liebe bezeichnete A. als ein »Übel der Natur«; ferner meinte er, er sei »lieber wahnsinnig, als Freude zu empfinden«. Pointiert findet sich die Quintessenz seiner Philosophie in jenem denkwürdigen Diktum ausgedrückt, in dem es heißt, man solle »entweder Verstand erwerben oder einen Strick«.
Navia, Luis E.: Antisthenes of Athens. Westport, Conn. 2001. – Giannantoni, Gabriele: Socratis et Socraticorum reliquiae. Neapel 1990. – Patzer, Andreas: Antisthenes der Sokratiker. Diss. Heidelberg 1970.
Luc Deitz
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