Metzler Philosophen-Lexikon: Ariès, Philippe
Geb. 21. 7. 1914 in Blois;
gest. 8. 2. 1984 in Paris
Das Nahe als fern, das Selbstverständliche als Produkt historischer Entwicklung erscheinen zu lassen – mit dieser Sichtweise hat A. auch in der Bundesrepublik eine nach Zehntausenden zählende Leserschaft gefunden, ein Interesse für Mentalitäten und Lebensweisen geweckt, das seit den späten 70er Jahren zahlreiche Stadtteilstudien und Regionalgeschichten hervorgebracht und statt der großen politischen Ereignisgeschichte den Alltag in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hat. Seine nach wie vor große Popularität verdankt A. einer Darstellungsweise, die ihn von der akademischen Historiographie ebenso weit entfernt wie vom unbefangenen Erzählen, »wie es denn eigentlich gewesen ist«. Wirkt auch sein Stil überaus plastisch und anschaulich, so fehlt ihm doch das – längst fragwürdig gewordene – Selbstvertrauen der großen Historiker des 19. Jahrhunderts, das Geschichte noch eindeutig als Zunahme an Fortschritt erscheinen ließ. Vielmehr bildet der produktive Zweifel an der Gegenwart den Motor seines Denkens. Wie die einflußreiche Historikerschule um die Zeitschrift Annales, betreibt A. Sozialgeschichte, wie sie sammelt er mit größter Akribie über Jahre und Jahrzehnte hinweg Detailergebnisse, um sie in umfangreichen Gesamtdarstellungen zu publizieren. Die erstaunliche Tatsache, daß er sich in einem langen Forscherleben nur mit zwei großen Themen, der Familie und dem Tod, beschäftigt hat, liegt allerdings im Gegenstand einer als Psychohistorie verstandenen Sozialgeschichte begründet: er läßt sich nicht auf wenige greifbare Zeugnisse reduzieren, sondern nur mühsam aus Testamenten, Kirchenbüchern, Grabmälern, Anstandslehren, Hochzeitsbräuchen, Predigten usw. rekonstruieren. Und hier trennen sich allerdings die Wege A.’ von denen der akademischen Geschichtswissenschaft, vor allem in Frankreich. Die Studie zur Geschichte der Kindheit (L Enfant et la vie familiale sous l Ancien Régime, 1960), im Jahr 2000 bereits in der 14. Auflage vorliegend, stellt er unter das Motto der »Erfindung der Kindheit«. Der scheinbar selbstverständliche Tatbestand der auf Affektivität gegründeten bürgerlichen Familie erfährt hier eine grundlegende Revision: Kindheit wird als solche erst in dem Moment wahrgenommen, in dem mit der Ausbildung der bürgerlichen Wirtschaftsform das »ganze Haus«, jene mittelalterliche und frühneuzeitliche Lebens-, Arbeits- und Lerngemeinschaft, zu existieren aufhört und sich in die getrennten Funktionsbereiche Haus, Arbeitsplatz und Schule aufsplittert. Hier sieht A. den »Sündenfall« der Moderne: Das Kind wurde vorher, sobald es physisch dazu in der Lage war, in das Familiengeschehen einbezogen und als »kleiner Erwachsener« betrachtet. Zahlreiche, heute als »Ausbeutung« betrachtete Verhaltensweisen ihm gegenüber, etwa die frühzeitige Verpflichtung zur Arbeit, das Indie-Lehre-Geben bei Freunden und Verwandten im Alter von 10 oder 12 Jahren, erscheinen so als Indizien einer ökonomisch, nicht affektiv funktionierenden Lebensgemeinschaft.
Die wissenschaftliche Pädagogik, in dem Dilemma einer fortschreitenden Formalisierung ihrer Theorie und einer zunehmenden Hilflosigkeit gegenüber praktischen Problemen befangen, hat zunächst auf die These A.’ mit Abwehr und Betroffenheit reagiert. So sehr die Vorwürfe der Romantisierung der Vergangenheit und des Absehens von den psychischen Kosten der großen Lebensgemeinschaft für den einzelnen zutreffen, so sehr provoziert A. doch durch seinen Blick auf ein vorbürgerliches Zeitalter Fragen nach der Organisation des Lernens, dem Verhältnis von Praxisbezug und Theorie, Pädagogisierung des Lebens und praktischer Lebensuntüchtigkeit der Schüler.
A. hat sich selbst als Sonntagshistoriker bezeichnet – so der ironische Titel seiner Autobiographie (Un historien de dimanche, 1980); seine Ergebnisse sind aber derart formuliert, daß sie in der Darstellung der Vergangenheit die Gegenwart nachhaltig verfremden und im Publikum weniger die beruhigende Sehnsucht nach dem guten Alten hervorrufen als gegenwärtige Haltungen und Einstellungen fragwürdig machen. 1978 haben die Arbeiten von A., der wegen fehlender Universitätsexamina nie ordentlicher Professor werden konnte, durch seine Ernennung zum Leiter einer Forschungsgruppe am renommierten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris eine späte Anerkennung gefunden. In den hier mit international anerkannten Historikern und Soziologen wie Michel Foucault, Georges Duby und Jean-Louis Flandrin gemeinsam veranstalteten Seminaren konnte A. vor allem seine Thesen zur Ehe als Wirtschafts- und Liebesgemeinschaft vertiefen (Sexualités occidentales, 1982; Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit). Seit 1960 galt sein Interesse jedoch vor allem der Geschichte des Todes, der er wiederum fünfzehn Jahre intensiver Quellenarbeit widmete. Mehr noch als bei der Erforschung der Kindheit erweist sich hier eine weit in die Vergangenheit reichende Untersuchungsperspektive (»longue durée«) als notwendig, um von der heutigen Verdrängung des Todes zu der Tatsache vorzustoßen, daß er in der Vergangenheit wie selbstverständlich akzeptiert worden ist. Dem Leben im »großen Haus« entsprach das vorbereitete und öffentliche Sterben im Beisein aller Freunde und Verwandten, der Tod war allgegenwärtig und hatte nichts Beängstigendes an sich. Heute hat statt der Sexualität der Tod den Platz des wichtigsten Tabus eingenommen; A.’ Forschungen stellen einen historisch fundierten, massiven Protest gegen die Entmündigung des Individuums in den Intensivstationen der Kliniken dar. Im Einklang mit einer zunehmend kontrovers geführten öffentlichen Diskussion um Hospizbewegung und humanes Sterben markiert A. die historischen Stationen vom Akzeptieren des Todes über sein Hinauszögern in einzelnen Fällen bis zu seiner völligen Technisierung in der Gegenwart (Essais sur l histoire de la mort en occident du moyen âge à nos jours, 1975; Studien zur Geschichte des Todes im Abendland; L Homme devant la mort, 1977; Geschichte des Todes). Auch hier hat A. seine Forschungen mit umfangreichen ikonographischen Studien untermauert, die er unter dem Titel Images de l homme devant la mort (1983; Bilder zur Geschichte des Todes) veröffentlichte. Die Begeisterung für das Detail, mit der A. auch noch den entlegensten Funden nachspürt, ehe er sie der »notwendigen Algebra einer Theorie« unterwirft, hat inzwischen auch in seiner mit Georges Duby gemeinsam herausgegebenen fünfbändigen Histoire de la vie privée (1985–1987; Geschichte des privaten Lebens) ihre Anerkennung gefunden. An Norbert Elias anknüpfend, sucht A. die Genese des bürgerlichen Subjekts an jenen Orten auf, an denen es sich von der Gemeinschaft isoliert: Lektüre, Gebet, Innenraum. In dem bilanzierenden Band Le Temps de l histoire (1986; Zeit und Geschichte) hebt A. nochmals seine Sicht der Geschichte »von unten« gegen positivistische wie marxistische Orthodoxie ab. Wenn inzwischen Kategorien wie Identität^, Mentalität^ oder Erzählung^ in die Geschichtswissenschaft Eingang gefunden haben und sich nachhaltigen Erfolgs erfreuen, so ist dies auch A.’ Beharren darauf zu verdanken, daß »die Differenz der Zeiten und Besonderheiten« nicht nur die »spärliche Gruppe der Fachleute« angeht. Hutton, Patrick H.: The Postwar Politics of Philippe Ariès. In: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 365–381.
Claudia Albert
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