Metzler Philosophen-Lexikon: Avicenna (d. i. Ibn Sina)
Geb. 980 in Afsana/Turkestan;
gest. 1037 in Hamadan/Persien
Der Junge war eine außergewöhnliche Begabung: Mit zehn Jahren kannte er den Koran, war bald in der Arithmetik der Inder bewandert, brachte die Jurisprudenz hinter sich und wandte sich dann der Logik, Mathematik und Naturphilosophie zu; sechzehnjährig begann er, als Arzt zu praktizieren, stürzte sich auf Aristoteles, der sich ihm über den arabischen Übersetzer und Kommentator Platons und Aristoteles’ Al-Farabi erschloß, wie er in einer Art Autobiographie schreibt. Die großen Bibliotheken von Buchara (im Nordosten Persiens) und Isfahan standen ihm zur Verfügung, und als er sich in Teheran niedergelassen hatte, vertiefte er dort seine Studien. Er schrieb denn auch einen Canon medicinae, in dem er das damals bekannte medizinische Wissen griechischer und arabischer Autoritäten zusammentrug, systematisierte und erweiterte, ein Werk, das für ein halbes Jahrtausend das maßgebliche Lehrbuch an den Fakultäten Europas werden sollte, Mitte des 12. Jahrhunderts durch Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt. Seine Philosophie legte er in einer Art philosophischer Enzyklopädie dar, die vier Teile umfaßte (Logik, Physik, Mathematik und Metaphysik). Er nannte es Buch der Genesung der Seele – er war ja Arzt –, worin er Denkirrtümer aufspüren wollte. Dieses Werk wurde erst später vollständig ins Lateinische übertragen, die Metaphysik allerdings kam früher in Umlauf. Ihre Übersetzung wurde von der Kirche in Auftrag gegeben und von Gundisalvi, Archidiakon von Segovia und den jüdischen Gelehrten Johannes Avondeath (Ibn Daud) und Salomon erst ins Kastilische, dann ins Lateinische übersetzt. Hier fällt auf, wie die Werke eines persischen Arztes und Naturforschers im extremen Westen des islamischen Kulturkreises, eben in Südspanien, übersetzt wurden, was ein Licht auf die kulturellen Verbindungen und Wanderbewegungen von Ideen wirft. Diese Abhandlung hatte einen prägenden Einfluß auf die glänzende Erstschrift des für den Westen und die Scholastik so wirkungsmächtigen Thomas von Aquin, der in seinem Traktat De ente et essentia (1252) auf A.s Gedanken zurückgreift und sein »System« darauf aufbaut.
Man hat A.s Erscheinen in der Geschichte der Philosophie als »den Beginn einer neuen Epoche« gefeiert; im Mittelalter wurde er der »dritte Aristoteles« genannt, als »einflußreichster Denker des islamischen Ostens« bezeichnet. Wie erwähnt, erklärt sich dieser Einfluß durch seine Übermittlung des Aristoteles. Man besaß dessen gesamte Schriften seit der Mitte des 10. Jahrhunderts auf arabisch, zusammen mit vielen griechischen Kommentaren einer gewissen neuplatonischen Einfärbung. Das Etikett »arabischer Aristoteles« erweist sich bei näherem Zusehen als ungenau, denn er studierte »den Philosophen«, wie Aristoteles damals einfach genannt wurde, in den Ausarbeitungen seiner neuplatonisch beeinflußten Vorgänger, besonders bei Al-Farabi. Es ist wichtig, diese Wege platonischer und aristotelischer Grundauffassungen zu verfolgen.
Einige wenige Punkte von A.s Ansichten seien näher beleuchtet. Das Studium der Übersetzungen und Kommentare Al-Farabis hatte ihm den Zugang zur Metaphysik des Aristoteles gezeigt, »nach endlosen Versuchen, die verschiedenartigen Ansätze zu verstehen«, wie er schreibt. Dort war das Sein als »Seiendes« gesehen worden, von dem aus Gott und die obersten Prinzipien des Wissens erforscht werden konnten: »Seiendes« liegt einerseits jeder geistigen Erkenntnis zugrunde, andererseits ist »seiend im ursprünglichsten Sinn nur das, was nicht sein kann, was also durch sich selbst notwendig ist: Gott« (Kurt Flasch). Er ist das reine Sein (»esse per se subsistens«). Alles weitere ist »möglich an sich« oder »notwendig durch anderes«. Diesen Gedanken fügte er die Intellekttheorie hinzu, die bei Al-Farabi ausgearbeitet ist. Sie besagte, daß der »tätige Intellekt« Gottes alle Gestalten spendet und als »dator formarum« der ewig bestehenden Materie die Formen aufprägt. So erklärt A. die Schöpfung als Emanation aus der Notwendigkeit des Einen und Ersten. Diese Auffassung hat später bei Thomas von Aquin in seinen Gottesbeweisen deutliche Spuren hinterlassen (über Albertus Magnus).
Die Gegner, die Theologen beider Religionen, protestierten hier, weil die Freiheit Gottes bei der Erschaffung der Welt geleugnet sei. Aber A. hatte dem Begriff nur eine neue Wendung gegeben, weil er die Zufälligkeit vom »Weltgrund« fernhalten wollte. Das Beunruhigende lag darin, daß man bei Aristoteles eine philosophische Gotteslehre fand, die speziell mit dem Begriff der Bewegung und des primär Bewegten arbeitete und Gott als Ursprung jeder Veränderung, als Denken des Denkens begriff. Dagegen stand besonders im christlichen Lager der Begriff von Gott, der auserwählt, liebt und verwirft, wie es das augustinische Christentum aufgezeigt hatte; diese Sehweisen zu vereinen und zu harmonisieren, stellte ein erregendes philosophisches Thema dar. Plakativ gefaßt waren die Idee von Gott als ewigem reinen Sein, die Auffassung von der Materie als ewiger Substanz und die vom Intellekt als dem Gestaltgeber des Dinglichen diejenigen Thesen, die damals Unruhe stifteten und wie Sauerteig weiterwirkten.
In der Erkenntnistheorie griff A. – parallel zur christlichen Welt der Frühscholastik – mit einer harmonisierenden Auffassung in den »Universalienstreit« ein. Ausgelöst wiederum durch eine Stelle bei Aristoteles, hatte man sich darum bemüht zu klären, ob die Allgemeinbegriffe oder Gattungen »universalia« als Ideen frei oder nur in den Dingen als Wesensmerkmal angelegt seien. Später stritten sich in Paris und Oxford die »doctores reales«, die Realisten, die eine Existenz der Ideen außerhalb und unabhängig von der Dingwelt annahmen, mit den »doctores nominales«, die die Ideen nur als »Namen« und als Vokabeln (als Sprachphänomene) verstanden. Aristoteles hatte gelehrt, daß »das Allgemeine in den Formen durch das Denken erzeugt« werde. A. präzisierte und erweiterte diese Aussage: Die Universalien, die Allgemeinbegriffe, sind gleichzeitig vor, in und nach den Dingen: vor den Dingen in Gottes Geist, wenn er die Dinge nach einer Gattung erschafft, in den Dingen als Merkmalsgemeinsamkeiten und nach den Dingen im menschlichen Erkennen, welches die Gattungen aus Erfahrung mittels Abstraktion erfaßt. Fragt man sich, warum ein solcher Streit eine ganze Epoche in heftige Debatten verwickeln konnte, so sei daran erinnert, daß, z.B. auf die Dreieinigkeitslehre angewandt, es später zu Ketzerprozessen und zu Bücherverbrennungen kam. – Eine ähnliche Auffassung ist später bei Abaelard zu finden, durch den sie auf die Arbeitstische der Scholastiker kam. – Wenn im 13. Jahrhundert der Streit um die Vereinbarkeit von »Augustinus« und »Aristoteles« lange und heftig geführt wurde – wenn man die Grundeinstellungen zu gewissen philosophischen Fragen mit den Namen Einzelner so umreißen darf – dann mußte man sich immer mit A. und Averroës als bibelunabhängigen Autoritäten auseinandersetzen, wollte man die Philosophen mit ihren eigenen Argumenten widerlegen.
Verbeke, Gerard: Avicenna. Grundleger einer neuen Metaphysik. Opladen 1983. – Endress, Gerhard: Einführung in die islamische Geschichte. München 1982. – Bloch, Ernst: Avicenna und die aristotelische Linke. Frankfurt am Main 1963. – Horten, Max: Die Metaphysik des Avicenna. Leipzig 1907; Frankfurt am Main 1961.
Wolfgang Meckel
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