Metzler Philosophen-Lexikon: Bakunin, Michail Alexandrowitsch
Geb. 30. 5. 1814 in Prjamuchino (Distrikt Torjok, Rußland); gest. 1. 7. 1876 in Bern
»Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.« Mit diesen Worten endet der Aufsatz über »Die Reaktion in Deutschland«, den B. unter einem Pseudonym 1842 in den linkshegelianischen Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst erscheinen ließ. B. setzte sich vehement für die französischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein, die in seinen Augen auf eine gänzliche Vernichtung der politischen und sozialen Welt hindeuteten. In der Kadettenanstalt von St. Petersburg, in der er zum Offizier ausgebildet worden war, hatte er die Enge und Unmenschlichkeit der bestehenden Verhältnisse zum erstenmal leidvoll erfahren müssen. Mit 21 Jahren hatte er den Militärdienst quittiert und war zum Studium nach Moskau gegangen, wo er sich intensiv mit der Philosophie Fichtes und Hegels beschäftigte und einige ihrer Schriften ins Russische übersetzte. Aufgrund seines ungestümen Freiheitsdrangs und seiner Leichtfertigkeit in finanziellen Dingen kam es zum Bruch mit seinem Elternhaus. 1840 ermöglichte ihm ein Stipendium von Alexander Herzen, an die Universität Berlin zu gehen, wo er mit Linkshegelianern in Berührung kam. Die Schriften von Feuerbach, David Friedrich Strauß und den französischen Sozialutopisten machten ihn zum Atheisten und engagierten Revolutionär. Von Dresden, wohin ihn die Freundschaft mit Arnold Ruge gezogen hatte, mußte er wegen seines Artikels über »Die Reaktion in Deutschland« in den Deutschen Jahrbüchern (1842) nach Zürich fliehen, wo er durch Wilhelm Weitling zum erstenmal mit kommunistischen Ideen in lebendige Berührung kam. In einer anonym veröffentlichten Serie von Artikeln für den Schweizerischen Republikaner sprach B. sich für ein auf uneingeschränkter Freiheit beruhendes Gemeinschaftsleben aus, lehnte jeglichen obrigkeitlichen Zwang ab und propagierte die revolutionäre Aufgabe des einfachen Volkes. Wilhelm Weitling wurde verhaftet und vor Gericht gestellt, B. entzog sich der Aufforderung, nach Rußland zurückzukehren, erneut durch die Flucht, wodurch er seinen Adelstitel und die russischen Bürgerrechte verlor. Er floh 1843 nach Brüssel und 1844 nach Paris. Hier vertiefte er in Gesprächen mit Pierre Joseph Proudhon und Karl Marx seine Anschauungen über die bestehenden politischen Verhältnisse und die Möglichkeiten ihrer Überwindung. Der Gegensatz zu Marx trat bereits in Erscheinung: B. vermißte bei ihm eine echte Beziehung zum Volk und zur Idee der Freiheit. Nachdem er 1847 in einer Rede vor polnischen Emigranten zum Aufstand aller slawischen Völker gegen die russische Despotie aufgerufen hatte, mußte er erneut fliehen. In den folgenden zwei Jahren tauchte er überall auf, wo es zu Aufständen kam: in Paris, Frankfurt, Berlin, Breslau, Prag und Dresden. 1849 wurde er in Chemnitz verhaftet, erst an Preußen, dann an Österreich, 1851 schließlich an Rußland ausgeliefert, wo er nach mehreren Jahren Kerkerhaft, während der er seine sogenannte Beichte verfaßte, 1857 nach Sibirien verbannt wurde. 1861 gelang es ihm, über Japan und die Vereinigten Staaten nach London zu fliehen, wo er sogleich eine über ganz Europa verzweigte konspirative Tätigkeit zu entfalten begann. 1864 gründete er in Neapel die »Internationale Bruderschaft«. In seinen programmatischen Schriften für die Brüderschaft legte er die Grundlagen für seine anarchistische Weltanschauung. Für die Verbreitung seiner Ideen warb er 1867 in Genf in der »Liga für Frieden und Freiheit«, außerdem in seiner Schrift Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus (1867/68) und in Artikeln der Schweizer Zeitung Egalité (1869), die er redigierte. Durch die kurzfristige Zusammenarbeit 1869/70 mit dem skrupellosen Fanatiker Netschajew (»Die Revolution rechtfertigt alle Mittel«) geriet B.s Anarchismus in die Nähe politisch verbrämten Verbrechertums, was Marx 1872 zum Anlaß nahm, ihn aus der »Internationalen Arbeiter-Assoziation« auszuschließen. 1870, kurz nach dem Beginn des deutsch-französischen Kriegs, rief B. in Lyon die französischen Volksmassen zu einem Aufstand auf, doch es schlossen sich ihm nur wenige Arbeiter an, die von der Nationalgarde schnell überwunden wurden. B. entwich nach Marseille, wo er an dem umfangreichen Werk Das knutogermanische Reich oder die soziale Revolution zu arbeiten begann, von dem ein erster Teil 1871 und ein weiteres Fragment Gott und der Staat posthum 1882 erschienen sind. Sie gehören zu den verbreitetsten Schriften der anarchistischen Literatur. Gegen Giuseppe Mazzinis Verurteilung der Pariser Commune veröffentlichte er 1871 zwei Streitschriften, die seinen Ideen in Italien und Spanien viele Anhänger gewannen. 1873 erschien Staatlichkeit und Anarchie, die letzte, von ihm selber veröffentlichte Schrift, in der er sich noch einmal gegen jede Form der Regierung »von oben nach unten«, also auch gegen die von Marx propagierte Diktatur des Proletariats, und für eine freiheitliche, föderalistische Organisation der Menschen »von unten nach oben« einsetzte. Er sah jedoch ein, daß die Zeit für eine solche Revolution noch nicht gekommen ist. Skeptisch und müde geworden, zog er sich von agitatorischen Tätigkeiten weitgehend zurück, wenn er sich auch 1874 in Bologna noch einmal an die Spitze eines Arbeiteraufstands zu stellen versuchte, der jedoch im Keim erstickt wurde. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich schnell; verarmt und vereinsamt starb er 1876 im Krankenhaus eines Freundes in Bern.
Grawitz, Madeleine: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit. Hamburg 1999. – Dooren, Wim van: Bakunin zur Einführung. Hamburg 1985. – Saltman, R. B.: The Social and Political Thought of Michail Bakunin. Westport 1983.
Wolfhart Henckmann
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