Metzler Philosophen-Lexikon: Barthes, Roland
Geb. 12. 11. 1915 in Cherbourg;
gest. 26. 3. 1980 in Paris
Zu Beginn der 60er Jahre wird in Paris das seit den 40er Jahren vorherrschende Denksystem des Existentialismus vom Strukturalismus abgelöst. Die existentialistische Vorstellung einer Dialektik von Determination und Freiheit, eines innerhalb seiner Fremdbestimmtheit frei handelnden Subjekts der Geschichte weicht der Überzeugung von der Determination des Menschen durch wissenschaftlich erforschbare Strukturen, denen des Unbewußten, der soziokulturellen Zeichen- und Kommunikationssysteme. Diese strukturalistische Wende, die durch die Namen Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und Jacques Lacan markiert wird und zum dominierenden Interesse an Linguistik und Semiologie führt, hat B. wie ein teilnehmender Ethnologe gleichzeitig praktiziert und kommentiert, ohne je bei den von ihm selbst mitentwickelten Theorien stehen zu bleiben.
Programmatisch hat er 1964 in seinen Essais critiques geäußert: »Das Ziel der strukturalistischen Tätigkeit liegt darin, ein Untersuchungsobjekt so zu rekonstrieren, daß die Regeln sichtbar werden, nach denen dies Objekt funktioniert. Die Struktur ist somit ein Simulacrum des Objektes, und zwar ein gerichtetes, ein interessiertes Simulacrum, denn das nachgebaute Objekt bringt etwas zum Vorschein, das in den natürlichen Objekten unsichtbar geblieben war Es ereignet sich etwas Neues, und dieses Neue ist nichts weniger als das allgemein Verständliche Somit könnte man sagen, daß der Strukturalismus im wesentlichen in einer Aktivität der Imitation besteht, und deshalb gibt es genau genommen auch keinen technischen Unterschied zwischen Strukturalismus als einer intellektuellen Tätigkeit einerseits und den Künsten im allgemeinen, insbesondere der Literatur, andererseits. Beide beruhen auf dem Prinzip der Mimesis. Sie basieren nicht auf der Analogie von Substanzen (wie der sogenannten realistischen Kunst), sondern auf der Analogie von Funktionen (was Lévi-Strauss Homologie nennt).« B.’ strukturalistische Methode, die sich derart vehement gegen den subjektiven Faktor im Prozeß des Interpretierens und Verstehens wendet, hat sich rasch in den verpönten Ruf eines flagranten Antihumanismus, den skandalösen »Tod des Subjekts« gebracht: »Um zu einer wahren Erkenntnis zu gelangen, muß der Strukturalist nicht nur das Signifikat oder den Referenten eines Systems aufheben, sondern auch die subjektive Erfahrung des Wissenden. Wie der Marxismus und der Freudianismus ist der Strukturalismus somit eine Form des Antihumanismus, zutiefst der Privilegierung der subjektiven Erfahrung des Individuums abgeneigt, die das Hauptkennzeichen des Humanismus der bürgerlichen Gesellschaft des Westens war«, wendet der englische Kulturtheoretiker Terry Eagleton 1989 ein, den Affront des Strukturalismus gegen das marxistische Klima im intellektuellen Frankreich der 60er Jahre post festum beschreibend.
In seinem ersten Buch, Le Degré zéro de l écriture (1953; Am Nullpunkt der Literatur), versucht er nachzuweisen, daß ein Text nicht in seiner Kommunikationsfunktion aufgeht, sondern noch von einer zweiten sprachlichen Schicht strukturiert ist, in der sich eine fälschlich als natürlich empfundene und daher als solche nicht mitteilbare Beziehung zum jeweiligen historischen Augenblick niederschlägt, in dem der Text entsteht. Diese Beziehung nennt B. »écriture«. Da der zeitgenössische Schriftsteller die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als natürlichen Zustand empfinden kann, er aber nur über eine »écriture« verfügt, die er von deren bürgerlicher Geschichte ererbt hat, befindet sich die Literatur zwangsläufig in einer Krise: »als Notwendigkeit bezeugt (die »écriture«) die Zerrissenheit der Sprachen, die untrennbar ist von der Zerrissenheit der Klassen: als Freiheit ist sie das Bewußtsein von dieser Zerrissenheit und die Anstrengung, die diese überschreiten will Literatur wird zur Utopie der Sprache.« Um den Schein der Natürlichkeit historisch bedingter gesellschaftlicher Interessen zu entlarven, wendet B. in seinen Mythologies (1957; Mythen des Alltags) strukturalistische Methoden auf die Untersuchung sprachlicher und nicht-sprachlicher Produkte der Massenkommunikation und des Massenkonsums an und kommt zu dem Ergebnis, daß deren manipulatorische Mystifikation mittels Überlagerung der Kommunikation durch mythenähnliche Metasprachen zustande kommt. Die subversive Funktion einer solchen Mythologie des Alltags wird von B. im Namen der Freiheit bejaht: »da (die Mythologie) für gewiß hält, daß der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft in jedem Augenblick in falsche Natur getaucht ist, versucht sie, unter den Unschuldigkeiten noch des naivsten Zusammenlebens die tiefe Entfremdung aufzuspüren, die zusammen mit diesen Unschuldigkeiten hingenommen werden soll. Die Entschleierung, die sie vornimmt, ist also ein politischer Akt.«
Von 1960 an setzt B., der sein Leben – abgesehen von einigen Auslandsaufenthalten – als Gymnasiallehrer, Lektor, Zeitschriftenredakteur und Hochschullehrer verbringt, seine Forschungen als Leiter eines von ihm gegründeten Zentrums für Massenkommunikation an der École Pratique des Hautes Études in Paris und der von diesem Institut herausgegebenen Zeitschrift Communications fort. Dort entwickelt er seine Éléments de sémiologie (1964; Elemente der Semiologie), seine Grundlegungen für eine allgemeine Zeichentheorie. Dennoch empfindet er ein tiefes Unbehagen bei dieser entlarvenden Tätigkeit des Mythologen: »wenn der Mythos die gesamte Gesellschaft befällt, muß man, wenn man den Mythos freilegen will, sich von der gesamten Gesellschaft entfernen Und doch zeigt sich darin, was wir suchen müssen: eine Aussöhnung des Wirklichen und der Menschen.« Dieser Wunsch nach »Aussöhnung des Wirklichen und der Menschen« wird für B. zunehmend zum Stimulans seiner weiteren Untersuchungen: Warum ist der Mensch durch manipulatorische Mythen verführbar? Wegen seines Leidens unter entfremdenden Zwängen, wegen seines Wunsches nach Vermeiden von Angst und Schmerz. Wegen seiner Begierde nach Lust. Also verbirgt sich hinter den manipulatorischen Mythen, deformiert durch das alltägliche Angebot von Ersatzbefriedigungen, ein Diskurs der Lust. »Jeder etwas allgemeine Mythos ist effektiv zweideutig, weil er die Humanität selbst jener repräsentiert, die ihn, da sie nichts besitzen, entliehen haben.« Um das Aufspüren dieser Humanität geht es B., um das, was sich der Logik und Kohärenz des kommunikativen Diskurses, der Repression der manipulatorischen Mythen entzieht und sich in Widersprüchen, Alogismen, unbeabsichtigten Assoziationen, unwillkürlichen Vermischungen inkommensurabler Zeichensysteme manifestiert. Und da sich der Diskurs der Lust am ehesten an literarischen Texten aufdecken läßt, widmet sich B. neben seinen Untersuchungen der Mythen der Massenkommunikation und des Massenkonsums, so La Tour Eiffel von 1964 (Der Eiffelturm), Système de la mode von 1967 (System der Mode) und L Empire des signes von 1970 (Das Reich der Zeichen), einem Buch über Japan, weiterhin der Literaturkritik, wie in Michelet par luimême von 1954 (Michelet), in Sur Racine von 1963 und den Essais critiques von 1964 – eine deutsche Auswahl aus diesen beiden Schriften erschien unter dem Titel Literatur und Geschichte –, in Critique et vérité von 1966 (Kritik und Wahrheit) in S/Z (1970; dt. 1987) und in Sade, Fourier, Loyola (1971; dt. 1986). Bei diesen Untersuchungen entwickelt B. zunehmend einen von Wortneubildungen und Sprachspielen durchsetzten assoziativen, aphoristischen Stil, mit dem er den Diskurs der Lust einer Lektüre der Lust nachzubilden sucht.
Diese Methode führt er in Le Plaisir du texte (1973; Die Lust am Text) vor: »Man denke sich einen Menschen, der alle Klassenbarrieren, alle Ausschließlichkeiten bei sich niederreißt, der alle Sprachen miteinander vermengt, mögen sie auch als unvereinbar gelten, der stumm erträgt, daß man ihn des Illogismus zeiht, der sich nicht beirren läßt vom Gesetzesterror Ein solcher Mensch wäre der Abschaum unserer Gesellschaft: Gericht, Schule, Irrenhaus und Konversation würden ihn zum Außenseiter machen dieser Antiheld existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen.« Dem nicht beschreibenden, sondern simulierenden Aufspüren des Diskurses der Verliebten, ist eines der ungewöhnlichsten Bücher B.’ gewidmet: Fragments d un discours amoureux (1977; Fragmente einer Sprache der Liebe). Aber auch eine solche assoziative Lektüre befriedigt ihn schließlich nicht mehr, denn »die vom Buchstaben des Textes erzeugten Assoziationen sind niemals anarchisch; sie sind immer in bestimmten Codes, in bestimmten Sprachen, in bestimmten Stereotypenlisten eingefangen. Die subjektivste Lektüre ist immer nur ein Spiel nach bestimmten Regeln.« Selbst spielerisch also bleibt man im System der Zeichen eingeschlossen, bei dem das »signifiant«, der Zeichenträger, immer nur auf das »signifié«, das Bezeichnete, verweist, nie auf das »référent«, die unbezeichnete Realität. In seinem letzten Buch, La Chambre claire von 1980 (Die helle Kammer) präsentiert er daher eine Ausdrucksform, der es gelingen kann, aus jedem Zeichensystem auszubrechen und das »référent« ohne Codes darzubieten: das nicht arrangierte Amateur- oder Dokumentarfoto. Vom Gegenstand eines solchen Fotos kann man nur sagen, daß er unleugbar »da gewesen« ist. Diese Unmittelbarkeit bezieht ihre furchterregende Faszination aus der Erfahrung der Unwiederbringlichkeit der Realität. B. wagt die Behauptung, daß in unseren areligiösen Kulturen, in denen der Tod keinen kulturellen Platz mehr hat, die Erschütterung vor einem Foto vielleicht diesen Platz einnehmen kann.
Trotz seiner zunehmenden Entfernung vom Diskurs der Wissenschaft, gerade auch von der von ihm selbst entwickelten Semiologie, erhält B. 1977 einen Lehrstuhl für Semiologie am »Collège de France«. In seiner Antrittsvorlesung schildert er die Entwicklung seiner Forschungen: »Ich müßte mich gewiß zunächst nach den Gründen fragen, die das Collège de France bewogen haben können, ein unsicheres Subjekt aufzunehmen wenn es auch zutrifft, daß ich meine Forschung sehr früh mit der Entstehung und Entwicklung der Semiologie verknüpft habe, so trifft doch auch zu, daß ich wenig berechtigt bin, diese zu repräsentieren, so sehr war ich – kaum erschien sie mir konstituiert – geneigt, deren Definition zu verschieben und mich auf die exzentrischen Kräfte der Modernität zu stützen.«
L Aventure sémiologique (1985; Das semiologische Abenteuer, 2002) und Incidents (1987; Begebenheiten, 1988) erschienen nach B.’ Tod. Sie festigen die Angelpunkte eines inmitten der Moderne der 60er Jahre unversehens aufbrechenden postmodernen Theoriekonzepts, endgültig für die Augen der Nachwelt dokumentiert in der Ausgabe der – uvres complètes von 1993/1995.
Ette, Ottmar: Roland Barthes oder ein Weg der Moderne in die Postmoderne. Frankfurt am Main 1998. – Röttger-Denker, Gabriele: Roland Barthes zur Einführung. Hamburg 1997. – Calvet, Louis-Jean: Roland Barthes. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1993. – Barthes après Barthes. Une actualité en questions. Actes du colloque international de Pau. Pau 1993. – Culler, Jonathan: Roland Barthes. Oxford 1983. – Sontag, Susan: Im Zeichen des Saturn. München 1983. – Heath, Stephen: Vertige du déplacement, lecture de Barthes. Paris 1974. – Calvet, Louis-Jean: Roland Barthes, un regard politique sur les signes. Paris 1973.
Traugott König/Red.
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