Metzler Philosophen-Lexikon: Baumgarten, Alexander Gottlieb
Geb. 17. 6. 1714 in Berlin;
gest. 26. 5. 1762 in Frankfurt an der Oder
»Der friedliche Baumgarten ward mit seiner seltenen, fast ängstlichen Präcision, ohne daß ers wußte und wollte, der Vater einer Schule der schönen Wissenschaften und Künste in Deutschland.« So würdigte Herder den Ästhetiker B., der Kant als »vortreffliche(r) Analyst« galt, und den der Königsberger Philosoph als »Koryphäe unter den Metaphysikern« schätzte. Allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, daß B.s zentrales Vorhaben, »die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben«, von Grund auf verfehlt sei. Diese zeitgenössischen Urteile galten dem Mann, der als Begründer der philosophischen Ästhetik in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. B. entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen und verlor früh beide Eltern. Nach dem Gymnasialbesuch in Halle studierte er dort ab 1730 lutherische Theologie, Philosophie und die »schönen Wissenschaften«. 1737 wurde er zum »Professor der Weltweisheit« in Halle und 1740 zum »Professor der Weltweisheit und der schönen Wissenschaften« in Frankfurt an der Oder berufen.
B. konnte für sich das Recht beanspruchen, als erster akademischer Lehrer Vorlesungen über Ästhetik gehalten zu haben. Er suchte die Ästhetik als die »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« zu begründen, als ein »dem rationalen Denken analoges Erkennen«. Sein Anliegen war, die sinnliche Erfahrung als vollgültigen Gegenstand philosophischer Betrachtung zu rehabilitieren. Anders als Leibniz und Wolff, von denen B. stark beeinflußt war, verwarf er die Abwertung der sinnlichen Wahrnehmung, des »unteren Erkenntnisvermögens«. Für B. war die Sinnlichkeit ein komplementäres Phänomen zum »höheren Erkenntnisvermögen« von Verstand und Vernunft. Daraus folgerte er, daß der Logik als philosophischer Disziplin des rechten Verstandes- und Vernunftgebrauchs die Ästhetik als Lehre von der »sensitiven Erkenntnis« notwendigerweise an die Seite treten müsse, um die Totalität von Vernunft- und Welterkenntnis herzustellen. Ganz im Sinne rationalistischer Aufklärungsphilosophie bemühte sich B. um exakte begrifflich-definitorische Darlegung seiner Gedankengänge. Damit imponierte er seinen Zeitgenossen derart, daß Herder sich zu der Bemerkung veranlaßt sah: »Die Gabe zu definieren kenne ich bei keinem Philosophen in kürzerer Vollkommenheit als bei Aristoteles und ihm.« Mit lakonisch-prägnanter Definitionskunst bestimmt
B. Aufgabe und Ziel der Ästhetik: »Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint. Entsprechend ist die Unvollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher, gemeint ist die Hässlichkeit, zu meiden.« Für B. gliedert sich die Ästhetik in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Die Ästhetik insgesamt ist gleichzeitig Wissenschaft und Kunst. Wahre Kunst entsteht durch die gewissenhafte Anwendung der Regeln der Wissenschaft vom Schönen. In seinem Fragment gebliebenen Hauptwerk Aesthetica (2 Bde., 1750–1758) versuchte B., diesen Doppelcharakter der Ästhetik herauszuarbeiten: »Die speziellen Künste bedürfen eines weiter entfernten Prinzips, aus dem sie das Wesen ihrer besonderen Regeln erkennen können, und dieses Prinzip, die ästhetische Kunstlehre, muss in die Form einer Wissenschaft gebracht werden.« Eine solche Wissenschaft, die sich auch als »Philosophie der Kunst« auffassen läßt, begründet nach B. die Sinnestätigkeit als selbständige Erkenntnisform und bildet sie zur »Logik der unteren Erkenntniskräfte«.
B. steht in der Tradition der Leibniz-Wolffschen Philosophie. Insofern erkennt er die Vorherrschaft der Vernunft grundsätzlich an, bestreitet ihr jedoch jedes Recht, das Sinnliche in babylonischer Gefangenschaft zu halten. Vornehmste Aufgabe der Ästhetik ist es, die Bedeutung der »unteren Seelenkräfte« für den Erkenntnisfortschritt und den vernünftigen Lebensgenuß des Menschen zu ergründen und darzulegen. Hierin einen Anfang gemacht zu haben, war die epochale Leistung B.s (der ja auch den Begriff »Ästhetik« geprägt hat). Er lieferte mit seiner Analyse die Grundlage für die ästhetischen Systeme des 18. Jahrhunderts. Er beförderte das Bestreben der Aufklärung, durch Darlegung des Schönen in der Wissenschaft und seiner Vergegenständlichung in der Kunst die disparaten »Vermögen« von Vernunft und Sinnlichkeit zu vereinen und auf die Entwicklung des Menschen zum »felix aestheticus« hinzuwirken. Indem B. den Doppelaspekt der Ästhetik als »Theorie der schönen Erkenntnis« und als »Metaphysik der Rede- und Dichtkunst« aufzeigte, wirkte er auch wesentlich auf die Regelpoetiken des 18. Jahrhunderts ein. Freilich weniger durch seine eigenen, in schwer verständlichem Latein abgefaßten Werke, sondern über die Popularisierung seiner Gedanken in dem Kompendium Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften und Künste (1748–1750) seines Schülers Georg Friedrich Meier.
Kant benutzte über Jahrzehnte B.s Metaphysica (1739) für seine Vorlesungen und bezeichnete dieses Werk als das »nützlichste und gründlichste unter allen Handbüchern seiner Art«. In vielen wichtigen ästhetischen Schriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist B.s Einfluß deutlich spürbar, auch dann noch, wenn kritisch gegen sein Denken Stellung genommen wird. Aus der Vielzahl dieser Werke seien nur Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) und Hegels Vorlesungen zur Ästhetik (1820–1829) genannt. Und noch 1932 zollte Ernst Cassirer B. höchstes Lob: »B. bleibt kein bloßer Vernunftkünstler^; sondern in ihm erfüllt sich jenes Ideal der Philosophie, das Kant als das Ideal der Selbsterkenntnis der Vernunft^ bezeichnet hat. Er ist und bleibt Meister der Analyse. Diese Meisterschaft verleitet ihn zu einer klaren Bestimmung und zu einer sicheren Unterscheidung ihrer Mittel und Ziele. Eben die höchste Durchbildung der Analyse läßt sie wieder produktiv werden; sie führt sie bis zu einem Punkt, an dem ein neuer Ansatz herausspringt, an dem eine neue geistige Synthese sich anbahnt.«
Jäger, Michael: Kommentierende Einführung in Baumgartens Aesthetica^. Zur entstehenden wissenschaftlichen Ästhetik des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Hildesheim/New York 1980. – Schweizer, Hans Rudolf: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica^ A. G. Baumgartens. Basel/Stuttgart 1973.
Walter Weber
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