Metzler Philosophen-Lexikon: Bayle, Pierre
Geb. 18. 11. 1647 in Carlat-Bayle/Ariège;
gest. 28. 12. 1706 in Rotterdam
Ob sich Philosophie mit Kritik und Skepsis hinlänglich charakterisieren läßt, mag auch angesichts einer »Konjunktur der Kritik« im späten 18. und 19. Jahrhundert bezweifelt werden. Indessen ist die beste Art, eine Philosophie in ihren zentralen Aussagen zu verstehen, diejenige, ihren Gegenpart in den Blick zu nehmen und zu erwägen, was sie beweisen muß, bzw. will, um diesen zu überwinden. Und gerade dieses selbsttätige und eigenverantwortliche Abwägen der Argumente von Für und Wider ist Kritik im ursprünglichen Sinne, ist der Mut, bisher ungeprüft hingenommene philosophische und religiöse Dogmen systematisch in Zweifel zu ziehen, sie ihres christlichen Offenbarungsglaubens zu entkleiden.
Für B. gelten diese Forderungen im besonderen Maße. Einer calvinistischen Pastorenfamilie entstammend, trat er unter dem Eindruck katholischer Kontroversschriften, die er während seiner Erziehung in einem Jesuiten-Kolleg studiert hatte, 21jährig zum katholischen Glauben über, machte diesen Entschluß jedoch nach weiteren 18 Monaten und heftigen Bemühungen des Elternhauses wieder rückgängig. Da er mit dem zweimaligen Religionswechsel gegen das im absolutistischen Frankreich Ludwig XIV. geltende Recht verstoßen hatte, floh er 1670 nach Genf, wo er neben einer fundamentalen theologischen Ausbildung auch eine in der Philosophie Descartes’ erhielt. Die Schließung der protestantischen Akademie in Sedan im Jahre 1681 auf königliche Order – B. war 1674 heimlich nach Frankreich zurückgekehrt und hatte dort zwei Jahre später eine Professur erhalten – und die immer heftiger werdenden Repressalien gegen Protestanten machten eine Übersiedlung nach Holland notwendig. In Rotterdam, wo er einen Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte an der neugeschaffenen »École Illustre« bekam, erschien B.s erstes Werk 1683 unter dem Titel Pensées diverses, écrites à un docteur de Sorbonne, à l occasion de la comète qui parût au mois de décembre 1680 (übersetzt v. Johann Christoph Gottsched, 1741). Das Auftauchen des Kometen stellt hier den allenfalls äußeren Anlaß für eine extensive Auseinandersetzung mit dem Aberglauben und den astrologischen Ressentiments seiner Zeit dar. Wichtiger ist hingegen die These, daß Religion und christliche Prinzipien schlechterdings unerheblich für die moralische Dignität einer Gesellschaft seien, daß also durchaus auch eine Gesellschaft von Atheisten Bestand haben könnte und daß Idolatrie, also Götzendienst im weitesten Sinne, verdammungswürdiger sei als Atheismus – Gedanken, die u. a. von Bernard le Bovier de Fontenelle und Voltaire aufgegriffen wurden und die als Vorbereitung der erbitterten Konfrontation von Vernunft und christlichem Glauben im 18. Jahrhundert angesehen werden müssen. Die anonym veröffentlichten Pensées stellen darüber hinaus das Modell eines literarischen Genres der französischen Frühaufklärung dar: Es ist einerseits nicht in der für diese Art der Disputation üblichen Form eines Traktats, sondern in Briefform gehalten, andererseits ist »das hier eines von den Büchern, die für das Volk gemacht sind und für diejenigen, die nicht von Berufs wegen studieren« (aus dem Vorwort). Damit wurde B. den Forderungen eines im Entstehen begriffenen breiteren Lesepublikums gerecht, das zwar an den aktuellen geistigen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen der Zeit Anteil nehmen wollte, jedoch durch die überwiegend fachgelehrten^ und trokkenen Publikationen abgeschreckt wurde. Dies erkennend, gründete der Philosoph 1684 eine monatlich erscheinende Literaturzeitschrift mit dem Titel Nouvelles de la République des Lettres (1684–1687; Neuigkeiten aus der Gelehrtenrepublik), die Maßstäbe für das Zeitschriftenwesen des 18. Jahrhunderts setzen sollte. Anders als bereits existierende Organe gelang es den Nouvelles, Diskussionen zu Problemen aus Theologie, Philosophie, Politik und experimentellen Wissenschaften in interessanter Weise mit Buchbesprechungen, Leserbriefen und Informationen aus aller Welt zu verbinden, ohne jedoch tendenziös zu wirken. Daß Nicolas de Malebranche und der Jansenist Antoine Arnauld die Nouvelles zur Plattform ihrer heftig geführten Kontroverse über die Frage, »ob der Genuss jedes Vergnügens, so lange wenigstens als er dauert, glücklich macht« (Ludwig Feuerbach), wählten, daß sowohl Fontenelle als auch Gottfried Wilhelm Leibniz verschiedene Beiträge über cartesische Philosopheme beibrachten und gar die Engländer John Locke und Robert Boyle in Beziehung zu B. und seinen Nouvelles traten, mag einen ersten Eindruck von deren Konzeption und Wirkung geben.
Die Aufhebung des Edikts von Nantes vom 14. Oktober 1685, Inbegriff religiöser Intoleranz und absolutistischer Machtvollkommenheit, bewog B. zu einer philosophischen Erörterung des Problems konfessioneller Nachsicht und Duldsamkeit. Der Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ: Contrains-les d entrer von 1686 (Philosophischer Kommentar über die Worte Jesu Christi: Zwinge sie einzutreten) konstatiert die Unmöglichkeit einer rationalen Begründung von Glaubenssätzen und postuliert, da lediglich das je individuelle Gewissen in religiösen Dingen entscheiden könne, eine unbedingte Glaubens- und Gewissensfreiheit. Eine solche universale Toleranzforderung, die Juden, Moslems, Sozinianer, ja sogar Katholiken und Atheisten ihre Freiheiten zugestanden hätte, mußte auf Unverständnis bei der Gruppe orthodoxer Calvinisten um Pierre Jurieu, einem ehemaligen Freund und Kollegen B.s aus Sedan, stoßen, die die gewaltsame Rückeroberung Frankreichs mit Hilfe Englands avisierten. Der Avis important aux réfugiés (1690; Ratschlag an die protestantischenFlüchtlinge), ein B. zugeschriebener, von ihm aber wohl lediglich bearbeiteter und mit Zusätzen versehener Aufruf gegen Gewalt und zur Loyalität gegenüber dem französischen König, führte dann nicht nur zu philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen zwischen B. und Jurieu: letzterer betrieb auch die Dispension B.s von jeglicher Lehrtätigkeit in Rotterdam.
Ungeachtet seiner zunehmend heikler werdenden finanziellen Lage nach der Amtsenthebung des Jahres 1693, bemühte sich der Philosoph um die Verwirklichung eines schon in den 70er Jahren geplanten Projekts: eines Wörterbuchs, das sämtliche Fehler und Irrtümer der bekanntesten Nachschlagewerke, insbesondere aber diejenigen des Grand dictionnaire historique (1674) von Louis Moréri, auflisten und emendieren sollte. Dieses ursprüngliche Konzept eines aktualisierten »neuen« Wörterbuchs ließ B. jedoch zugunsten eines solchen »ganz neuer Art« fallen, das die zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Auseinandersetzungen kritisch reflektierte. So erschien 1697 als Hauptwerk B.s das Dictionnaire historique et critique in zwei Folio-Bänden, das in alphabetischer Ordnung sowohl mythologische, biblische und historische Eigennamen als auch Artikel geographischer und naturwissenschaftlicher Gegenstände aufnahm. Seinen Ruf als »Rüstkammer der Aufklärung« erhielt dieses im talmudischen Stil gehaltene Lexikon weniger aufgrund seiner umfassenden Materialfülle – die biographischen und objektiv belegten Hinweise zu Beginn jedes Artikels sind eher knapp gehalten –, als vielmehr durch den erheblich umfangreicheren Anmerkungsteil, in dem die historischen Quellen überprüft und einander gegenübergestellt, Fehlinterpretationen offengelegt, tradierte Vorurteile auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden und vor allem die aktuellen philosophischen und theologischen Anschauungsinhalte zur Sprache kommen. Daß die tatsächlichen Inhalte der Artikel allzuoft kaum mehr einen Bezug zum Namenseintrag selbst besitzen (der Artikel »Rorarius« enthält die Widerlegung der cartesischen Konzeption der Tiere als Mechanismen, eine Erörterung des Leib-Seele-Problems, sowie die Darstellung Leibnizens neuer metaphysischer Theorie), ein Prinzip, das d’Alembert und Diderot auch für die Encyclopédie verwenden sollten, vermochte wohl lediglich die staatlichen Zensoren irrezuführen, nicht aber die interessierte Leserschaft. Das Grundanliegen vieler Artikel ist hier, wie bereits in den Pensées, die Kritik an den dogmatisch vertretenen religiösen Offenbarungswahrheiten, die Grundlegung eines laizistischen Moralbegriffs, die Rehabilitierung der zuvor pejorativ gefaßten menschlichen Leidenschaften und die Formulierung des unaufhebbaren Widerspruchs von Vernunft und Glauben, den aufzulösen Leibniz daraufhin in seiner Theodizee bemüht war. »Man muss nothwendig«, so sagt B. im Artikel Pyrrhon, »wählen zwischen Philosophie und dem Evangelium; wollt ihr nur glauben, was deutlich und den allgemeinen Begriffen gemäss ist, so ergreift die Philosophie und lasst das Christenthum; wollt ihr aber die unbegreiflichen Mysterien der Religion glauben, so ergreift das Christenthum und lasst die Philosophie; denn es ist ebenso unmöglich, die Deutlichkeit und die Unbegreiflichkeit zu verbinden, wie es unmöglich ist, die Bequemlichkeit eines viereckigen und eines runden Tisches zu vereinigen«.
Die Wirkung des Dictionnaire – es erlebte im 18. Jahrhundert nach der zweiten Auflage von 1702 noch acht weitere – war nicht allein auf Frankreich beschränkt. Schon 1709, also drei Jahre nach dem Tode B.s, erschien eine vierbändige englische Ausgabe, 1741 der erste Band der ebenfalls vierbändigen deutschen Übersetzung, die Gottsched besorgte. Ihr verdankt B. wohl auch seinen Einfluß auf die deutsche Aufklärung, der sich allen voran bei Hermann Samuel Reimarus, Gotthold Ephraim Lessing und bei Friedrich II. nachweisen läßt. Trotz dieser ausgeprägten Wirkungsgeschichte bleiben auch noch in der heutigen B.-Forschung wesentliche Punkte seiner Aussagen und Gedanken umstritten: Liegt B.s Bemühen um die Beseitigung religiösen Autoritätsglaubens begründet in einer calvinistischen Denktradition, und sind die Pensées und einige Artikel des Dictionnaire dann in diesem Sinne gleichsam apologetisch zu interpretieren? Oder sind seine Anstrengungen ganz im Sinne einer aufklärerisch-skeptizistischen, epikureisch-libertinistischen Tradition, wie sie Pierre Gassendi und François de la Mothe Le Vayer vertraten, zu sehen? Indessen ist man sich einig darin, »daß von diesem Franzosen Erschütterungen auf das gesamteuropäische Denken ausgegangen sind«, die bei der Lektüre des Dictionnaire auch heute noch empfunden werden könne.
Schalk, Fritz: Studien zur französischen Aufklärung. Frankfurt am Main 1984. – Weibel, Luc: Le savoir et le corps. Essai sur le dictionnaire de Pierre Bayle. Lausanne 1975. – Labrousse, Ernest: Pierre Bayle. La Haye 1963/64. – Sugg, Elisabeth Bernhardine: Pierre Bayle – Ein Kritiker der Philosophie seiner Zeit. In: Forschungen zur Geschichte der Philosophie und der Pädagogik 4, 3 (1930).
Jörg F. Maas
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