Metzler Philosophen-Lexikon: Beauvoir, Simone de
Geb. 9. 1. 1908 in Paris;
gest. 14. 4. 1986 in Paris
Spitze Kritikerzungen nannten sie »Notre-Dame de Sartre« oder »La Grande Sartreuse«, um ihre intellektuelle Abhängigkeit vom Lebensgefährten Jean-Paul Sartre und damit zugleich ihre künstlerische Epigonalität zu geißeln. Unterstellungen dieser Art sind unzutreffend. Die Tochter aus gutem Hause (Mémoires d une jeune fille rangée, 1959) – so der Titel ihres ersten Memoirenbandes – hatte ihre Wahl, mit dem Christentum, der Ideologie ihrer (klein-)bürgerlichen Herkunftsklasse und deren durch Ehe und Mutterschaft charakterisiertem Frauenbild zu brechen, schon vor ihrer folgenreichen Begegnung mit Sartre (1929) getroffen. Beide betrachteten den Partner lebenslang als Doppelgänger, Idealleser und wichtigsten Kritiker. Ihr symbiotisch anmutendes Verhältnis setzte aber stets Eigenständigkeit voraus. Sartre fiel die Rolle des unermüdlichen Ideenund Theorienproduzenten zu, der extreme intellektuelle Positionen vertrat, B. verkörperte das kritische Realitätsprinzip, forderte engen Praxisbezug: »Für mich ist eine Idee nichts Theoretisches
entweder man erlebt sie an sich selbst, oder sie bleibt theoretisch, dann hat sie keinerlei Gewicht« (L invitée, 1943; Sie kam und blieb).
Beide dachten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs strikt individualistisch. In Anlehnung an Edmund Husserl setzten sie das Ich als Bewußtsein, als reines Für-sich absolut, begriffen es als Zentrum, ja als Schöpfer der (Außen-)Welt, der es erst Existenz verlieh: »Die schwarzen Korridore zogen sie besonders an. Wenn sie nicht da war, existierten dieser Geruch nach Staub, dieses Halbdunkel, diese Verlassenheit für niemanden, existierten überhaupt nicht. Doch jetzt war sie da und hatte die Macht, durch ihre Gegenwart die Dinge der Bewußtlosigkeit zu entreißen, sie erst verlieh ihnen Farbe und Geruch es war, als sei ihr die Mission verliehen worden, diesen Saal in seiner nächtlichen Verlassenheit erst existent zu machen« (Sie kam und blieb).
Diese Hypostasierung des eigenen Ich impliziert zweierlei: Der Andere kann nur als Feind begriffen werden, der die eigene Freiheit bedroht. Das Verhältnis zu ihm oszilliert ständig – auch und gerade in der erotischen Beziehung – zwischen Herrschaft und Knechtschaft, Sadismus und Masochismus. Durch den Anderen enthüllt sich dem Ich die Dinglichkeit, das An-sich-sein des eigenen Körpers. »Es ist dieser metaphysische Ekel als Reaktion auf die spezifische Körperlichkeit der Frau (Menstruation, Schwangerschaft, Gebären), auf die Leiblichkeit als Dinghaftigkeit im allgemeinen, der sich noch in den akademischen Demonstrationen in Le deuxième sexe (1949; Das andere Geschlecht) durchsetzt. Nur so läßt sich B.s Abwertung der biologischen Fruchtbarkeit und die Bestimmung geistiger Kreativität als das absolut dagegen Gesetzte verstehen« (Christel Krauß; vgl. auch: Une Mort très douce, 1965 – Ein sanfter Tod; La Femme rompue, 1967 – Eine gebrochene Frau; La vieillesse, 1970 – Das Alter).
Das Kriegserlebnis macht dem Ich schockartig seine totale Abhängigkeit von äußeren Umständen bewußt: »Und plötzlich war es geschehen. Den Krieg wollen, ihn nicht wollen. Von nun an hatte die Antwort keine Bedeutung mehr; der Krieg war da Meine Gedanken, meine Wünsche waren nur noch Luftblasen, die zerplatzten, ohne Spuren in der Welt zu hinterlassen« (Le sang des autres, 1945; Das Blut der anderen). Als Reaktion auf die neue Erfahrung verwerfen B. und Sartre den nun als »leer« erkannten individualistischen Freiheitsbegriff und statuieren, daß die Freiheit des einzelnen nur bei gleichzeitiger Freiheit aller gewährleistet ist (Les bouches inutiles, 1945; Die unnützen Münder). Die Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen kann lediglich in einer ausbeutungs- und repressionsfreien, demokratisch-sozialistischen Gesellschaft gelingen, für die Kants »Reich der Zwecke« und die klassenlose Gesellschaft von Marx als Zielprojektionen herangezogen werden. B. und Sartre gründen 1941 gemeinsam die kleine, relativ bedeutungslose Widerstandsgruppe »Socialisme et Liberté«, 1945 die einflußreiche Zeitschrift Les Temps Modernes.
Lebenslang versuchen sie, die Konzepte von Freiheit und Sozialismus zur Synthese zu bringen. Angesichts der durch den kalten Krieg bedingten Spaltung der Welt in zwei konkurrierende, ideologisch verhärtete Machtblöcke teilen sie Maurice Merleau-Pontys Auffassung, man könne weder Kommunist noch Antikommunist sein: der Kapitalismus sei als Ausbeutersystem, der doktrinäre Stalinismus/Kommunismus mit seinen Hegemonieansprüchen gegenüber den Satellitenstaaten als Verrat an der Idee der Weltrevolution abzulehnen. Die Existenz der sowjetischen Arbeitslager, die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes (1956) und die Besetzung der CSSR (1968) lenken ihr Interesse auf sozialistische Experimente fernab der sowjetischen Generallinie (Kuba, China, Maoismus). Innenpolitisch gehören sie zu den schärfsten Kritikern des kolonialistischen Algerienkriegs von 1958 bis 1962 (Djamila Boupacha, 1962).
Die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums analysierte B. erstmals theoretisch in Le deuxième sexe. Sie übertrug dabei Sartres These aus Réflexions sur la question juive (1946; Überlegungen zur Judenfrage) – der Jude sei nur Jude, weil er von anderen dazu gemacht werde und diese Fremdbestimmung verinnerliche – auf die Situation der Frau: »Man kommt nicht als Frau zu Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation bestimmt dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet.« Das über Jahrhunderte tradierte gesellschaftliche Idealbild der Frau ist aus den spezifischen Interessen des Mannes abstrahiert: Virginität, eheliche Treue, Beschränkung auf Kindererziehung und häusliche Tätigkeit machen die Frau zur Funktion des Mannes, weisen ihr die Rolle des abhängigen Objekts zu, das der Transzendenzfähigkeit des Mannes zur Rechtfertigung seiner Existenz bedarf. Die Unterdrückung der Frau und die Unterdrückung des Proletariats sind analoge Vorgänge. Frauenemanzipation ist kein weibliches, sondern ein gesellschaftliches Problem, das erst in einer sozialistischen Gesellschaft, die allen unentfremdete, eigenständige Arbeit ermöglicht, adäquat gelöst werden kann. Aus dieser Überzeugung ergibt sich B.s Distanz zu biologistisch argumentierenden feministischen Gruppen, die der Frau spezifisch weibliche Formen der Wahrnehmung und der künstlerischen Kreativität zurechnen: »Man darf nicht glauben, der weibliche Körper verleihe einem eine neue Vision der Welt. Das ist lächerlich und absurd Frauen, die das glauben, fallen ins Irrationale, ins Mystische, ins Komische zurück. Sie spielen das Spiel der Männer.«
Der Vorwurf, in B.s literarischem Werk gebe es keine authentischen Frauenfiguren, deren Lebensentwurf gelinge, sie schildere lediglich den als negativ empfundenen Status quo, konstruiere nirgends positive, zukunftsweisende Heldinnen, ist nur dann gerechtfertigt, wenn man ihre Überzeugung, erst die sozialistische Gesellschaft ermögliche Authentizität, ablehnt. Damit verstellt man sich aber zugleich den Zugang zu La Vieillesse, in dem sie zeigt, daß die kapitalistisch organisierte Sozietät den Menschen nur als Produktionsmittel begreift und an denjenigen, die nicht oder nicht mehr produzieren (Kinder, Frauen, Alte) kein Interesse hat: »Wenn man einen Menschen vierzig Jahre lang als Maschine behandelt, wenn man ihn abgenutzt und erschöpft hat, kann man ihn nicht durch eine wie auch immer geartete Alterspolitik in die Gesellschaft wieder eingliedern: dazu ist es dann zu spät.«
Sartres Ankündigung in L Etre et le Néant (1943; Das Sein und das Nichts), er werde bald eine existenzialistische Ethik publizieren, wurde weit eher von B. als von ihm eingelöst, der in Qu est-ce que la littérature (1947; Was ist Literatur?) lediglich eine Ethik des Schreibens und des Lesens vorlegte. Pyrrhus et Cinéas (1944) und Pour une Morale de l Ambiguité (1947; Für eine Moral der Doppelsinnigkeit) charakterisieren in relativ leicht verständlicher Sprache die beiden gemeinsamen Grundgedanken: Der Mensch ist, da Gott nicht existiert, zu totaler Freiheit und zu totaler Verantwortung verurteilt. Weil das Individuum des Anderen bedarf, um sich seiner selbst innezuwerden, muß es sich auf ihn hin transzendieren, seine Gleichheit und Freiheit wollen, ihm gegenüber Solidarität üben, mit ihm an der Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen arbeiten. Da sich jeder Mensch in einer je eigenen Situation befindet, entwirft B. keine normativ-allgemeinverbindliche Ethik, sondern kritisiert in erster Linie tradierte individualistisch oder totalitär geprägte Moralvorstellungen, die den Menschen ungebührlich vereinzeln oder versklaven.
Ethische Implikationen besitzen auch die autobiographischen Werke von B. und Sartre. Während dieser sich eher indirekt und vermittelt zur Selbstvergewisserung an anderen Autoren (Baudelaire, Genet, Flaubert) abarbeitete, überprüfte B. ihre philosophischen Theoreme an der eigenen Existenz, die sie aus der Retrospektive einer bis hin zur Indiskretion kritischen Prüfung unterzog: Mémoires d une jeune fille rangée; La Force de l âge, 1960, In den besten Jahren; La Force des choses, 1963, Der Lauf der Dinge; La cérémonie des adieux, 1981, Die Zeremonie des Abschieds. »In einer Autobiographie zeigen sich die Ereignisse in ihrer Willkürlichkeit, ihrer Zufälligkeit, in ihren bisweilen banal-albernen Zusammenstellungen, so wie sie wirklich gewesen sind: Diese Treue läßt besser als die geschickteste literarische Umsetzung verstehen, wie die Dinge den Menschen wirklich zustoßen« (Der Lauf der Dinge). Autobiographisches Schreiben erscheint so als adäquates Medium zur Wiedergabe der Kontingenz menschlichen Existierens. Nimmt man ihre Versuche ernst, engagiert an der Veränderung der Realität mitzuwirken, so drängt sich angesichts der »expérience vécue« B.s das Fazit auf, das Sartre für beide zog: »Man hat getan, was man tun konnte. Man hat getan, was man zu tun hatte« (Die Zeremonie des Abschieds).
Arp, Kristana: The Bonds of Freedom. Simone de Beauvoir’s Existentialist Ethics. Chicago u. a. 2001. – Pilardi, Jo-Ann: Simone de Beauvoir Writing the Self. Philosophy becomes Autobiography. Westport, Conn. u. a. 1999. – Halpern-Guedj, Betty: Le Temps et le transcendant dans l’œuvre de Simone de Beauvoir. Tübingen 1998. – Moi, Toril: Simone de Beauvoir. The Making of an Intellectual Woman. Oxford/Cambridge 1994. – Krauß, Christel: Enfanter ou écrire – gebären oder schreiben. In: Baader, Renate/Fricke, Dietmar (Hg.): Die französische Autorin vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1979, S. 227–238.
Henning Krauß
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