Metzler Philosophen-Lexikon: Bentham, Jeremy
Geb. 15. 2. 1748 in London;
gest. 6. 6. 1832 in London
Mit der moralphilosophischen Schrift An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789; Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung) konnte B. seine philosophiegeschichtliche Bedeutung als einer der Hauptvertreter des Utilitarismus begründen. Ursprünglich richtete sich sein Interesse – seit seinem Studium der Rechtswissenschaft von 1763 bis 1766 u. a. in Oxford – auf Fragen der Gesetzgebung und des Strafrechts. Entsprechend sollte das, was er dann als ein eigenständiges moralphilosophisches Werk ausbaute, nur als Einleitung zu rechtsphilosophischen Überlegungen dienen. Aus einem gesellschaftskritischen Impuls heraus bezog B. Stellung gegen moralische Begründungsformen, die einerseits so subjektive Instanzen wie Gewissen, natürlicher Menschenverstand oder moralisches Gefühl als Maßstab anführten und andererseits diese noch zu einer unfehlbaren Beurteilungsinstanz hochstilisierten, um sie letztlich in ein willfähriges Instrument der Unterdrückung umzumünzen. B. wollte eine Bestimmung der Sittlichkeit finden, die der Natur des Menschen, seinem Streben nach Glück und dem Anspruch einer rationalen Begründung gerecht wird. Sein wirtschaftswissenschaftlicher Essay In Defense of Usury (1787; Vertheidigung des Wuchers) gibt die Tendenz seiner ethischen Überlegungen an: Er ging von der These aus, daß jeder am besten beurteilen könne, was für ihn am nützlichsten ist. Bei der Lektüre von David Humes Treatise of Human Nature wurde ihm nach eigenen Aussagen deutlich, daß das Nützlichkeitsprinzip den geeigneten Grundsatz zur Erklärung und Gestaltung sozialer Handlungen abgibt. In den Principles of Morals and Legislation begreift er Lust und Schmerz als Konstanten der menschlichen Natur, die bei der Bestimmung des Glücks eine entscheidende Rolle spielen. Unter dieser Annahme erübrigt sich jeder weitere Beweis für das Beurteilungsprinzip der Nützlichkeit. Eine Handlung ist dann zu billigen, wenn sie das individuelle Glück und das der Gemeinschaft vermehrt. Wie sein Zeitgenosse Adam Smith sah B. keinen Gegensatz zwischen persönlichem und allgemeinem Wohlergehen. Das fundamentale Prinzip ist nach B. das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen. Eine Formel, die er von Francis Hutcheson und Joseph Priestley, möglicherweise auch von Claude Adrien Helvétius kannte. Ihr stellte er das demokratische Prinzip: »Jeder hat für einen, niemand für mehr als einen zu gelten« zur Seite. Nicht mehr der Rückgriff auf fragwürdig gewordene Autoritäten, sondern das menschliche Streben nach Glück bildet die Grundlage menschlicher Sittlichkeit. Auf diese Weise entsprach B. dem im Zuge ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen gestärkten Bewußtsein des englischen Bürgertums. Er sah in seinem Ansatz eine rationale, praktische Orientierungshilfe in Gestalt des hedonistischen Kalküls angelegt. Danach läßt sich die mit dem Handlungserfolg verbundene Lust bemessen nach Stärke und Dauer, im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens und auf die möglichen Nebenfolgen und nicht zuletzt im Hinblick auf die Anzahl der an ihr beteiligten Personen. Im Sinne des »wohlverstandenen Interesses« erweist sich der reine Egoismus als falsch berechnet, weil er über den individuellen Augenblick der Lust die längere Dauer des Gesamtnutzens übersieht. Dieses Kalkül richtet sich implizit gesellschaftskritisch gegen den Reichtum einer kleinen Schicht.
B.s Anliegen, mit dieser utilitaristischen Denkform eine kritische Instanz gegen überkommene Dogmen und politische Privilegien zu errichten, fand starke Beachtung auch in anderen europäischen Ländern und in den neugegründeten Vereinigten Staaten. B. war bereits sechzig, als jenes Treffen mit seinem späteren Mitstreiter James Mill stattfand, das zur Gründung der »Radicals« führte, einer Bewegung, die die gesellschaftlichen und politischen Anliegen des zurückgezogen lebenden B. öffentlich propagierte: Mehr Demokratie für England durch Ausdehnung des Wahlrechts und geheime Wahlen, Reformierung des Strafrechts im Sinne des Nützlichkeitsprinzips, d.h. es sollte an der Wirksamkeit der Abschreckung und nicht an der Herkunft der Täter oder dem Rachebedürfnis der Gesellschaft orientiert sein. B.s Utilitarismus wirkte, wenn auch in veränderter Form, weiter in den ethischen Ansätzen von John Stuart Mill und Henry Sidgwick.
Gähde, Ulrich/Schrader, Wolfgang W. (Hg.): Der klassische Utilitarismus. Einflüsse – Entwicklungen – Folgen. Berlin 1992. – Kohler, Wolfgang: Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik. Frankfurt am Main 1979. – Hoerster, Norbert: Utilitaritische Ethik und Verallgemeinerung. Freiburg/München 21977. – Höffe, Otfried: Einführung in die utilitaristische Ethik. München 1975.
Peter Prechtl
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