Metzler Philosophen-Lexikon: Berdjaev, Nikolaj A.
Geb. 6. 3. 1874 in Kiew;
gest. 23. 3. 1948 in Clamart bei Paris
In seinen Samopoznanie (postum 1949, Erinnerungen), in denen er Ende der 1940er Jahre in Proustscher Manier auf die Suche nach der verlorenen Zeit geht, gibt B. ein knappes Resümee seines Lebens. Er lebte, so schreibt er, in einer sowohl für seine Heimat als auch für die gesamte Welt katastrophalen Epoche. Vor seinen Augen seien ganze Welten untergegangen und neue entstanden. Er habe drei Kriege überlebt, von denen zwei Weltkriege genannt werden könnten, zwei Revolutionen in Rußland, eine kleine und eine große. Er habe die russische Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts überlebt, dann den russischen Kommunismus, die Krise der Weltkultur, den Umsturz in Deutschland, den Zusammenbruch in Frankreich und die Okkupation durch die Sieger. Er habe den schrecklichen Krieg gegen Rußland überlebt, und er wisse nicht, wie diese Welterschütterungen enden würden. Für einen Philosophen, so B., zu viele Ereignisse. Und er fragt sich, was denn das typisch Russische sei, das er und andere russische Emigranten nach Westeuropa mitgebracht hätten. Vor allem, so schreibt er, habe er in den Westen ein eschatologisches Geschichtsgefühl mitgebracht, das den westlichen Menschen und Christen fremd gewesen wäre und immer noch fremd sei: ein Gefühl für die Krisenhaftigkeit des Christentums selbst und der gesamten Welt. Er habe Gedanken mitgebracht, die in den Katastrophen der russischen Revolution entstanden seien. Doch zugleich mit diesem eher pessimistischen Geschichtsgefühl habe er stets das Vertrauen in eine neue, schöpferische Periode des Christentums bewahrt.
Für B. ist das Ende der Welt kein fatales, unabwendbares Schicksal. Er vertritt einen schöpferisch-aktivistischen Eschatologismus, wonach die Menschen durch ihr Handeln in der Lage sind, die Katastrophe abzuwenden und den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen zugunsten des Ersteren zu entscheiden. Den »Aufbau einer religiösen Geschichtsphilosophie« bezeichnet B. denn auch in seinem zu Beginn der 1920er Jahre entstehenden Buch Smysl istorii (Der Sinn der Geschichte) als »Beruf des russischen philosophischen Denkens. Das ursprüngliche russische Denken ist dem eschatologischen Problem des Endes zugewandt, es ist eschatologisch gefärbt. Hierin besteht sein Unterschied gegenüber dem Denken des Westens. Ich habe mich immer besonders für die Probleme der Geschichtsphilosophie interessiert. Der Weltkrieg und die Revolutionen haben dieses Interesse verschärft und meine Beschäftigungen hauptsächlich diesem Gebiete zugewandt.« In den Mittelpunkt seiner Geschichtsphilosophie stellt B. die Persönlichkeit und ihre Freiheit. Der dramatische Prozeß der freiwilligen Wiedervereinigung des Menschen mit Gott – nach dem ursprünglichen Sündenfall – macht ihm zufolge die Logik der Geschichte aus. In Anschluß an Vladimir Solov’ëv erhebt er das Gottmenschentum zum Ziel der Geschichte, dessen Inkarnation die Christusgestalt bilde. Doch stärker noch als sein Vorgänger akzentuiert er das Moment der Freiheit der Persönlichkeit in der Geschichte.
Sein Denken bezeichnet B. als »Aristokratismus«, »Egoismus«, »Universalismus«, »Nonkonformismus«, seine Philosophie als »Philosophie der Freiheit«, »Personalismus«, »Existenzialismus«; ja er beansprucht, die Philosophie des Existenzialismus konsequenter und früher entwickelt zu haben als die westeuropäischen Existenzphilosophen wie Karl Jaspers und Martin Heidegger. Er stellt sich in die Tradition der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere Fëdor Dostoevskijs und Lev Tolstojs, und in die philosophische Tradition von Immanuel Kant, Sören Kierkegaard, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, von Autoren also, denen gleichfalls das schöpferische Individuum Ausgangspunkt des Philosophierens ist.
Geboren am 6. 3. 1874, entstammt B. einer Familie der Kiewer Hocharistokratie. Mit zehn Jahren tritt er in das Kadettenkorps ein. Vom 14. Lebensjahr an interessiert er sich für Philosophie, liest er Schriften der genannten Philosophen. Wie viele seiner Zeitgenossen wird er in den 1890er Jahren Marxist. So arbeitet er in einer Kiewer Studentengruppe mit Anatolij Luna carskij zusammen. Wegen seiner Tätigkeit in der Sozialdemokratie und der Teilnahme an Studenten- und Arbeiterdemonstrationen wird er 1897/8 zum ersten Mal verhaftet, 1898 aus der Universität ausgeschlossen. Von 1901 bis 1903 lebt er in der Verbannung in Vologda. Doch sein schon frühzeitiges Insistieren auf Werten wie Freiheit und Persönlichkeit bringt ihn zunehmend in Konflikt mit dem marxistischen Flügel der Intelligencija. Insbesondere nach der gescheiterten Revolution von 1905 kritisiert er immer schärfer den freiheits- und geistfeindlichen Charakter der russischen Revolutionäre. Diese Kritik mündet zunächst 1909 in dem einflußreich gewordenen Sammelband Vechi (Wegzeichen), den B. mit sechs anderen Autoren verfaßt und der, über die Auseinandersetzung mit Politik und Ideologie der russischen Marxisten hinaus, eine Soziologie der Intelligencija darstellt, insofern die Autoren die historischen und sozialen Wurzeln der Spezifika der russischen Intellektuellen aufzudecken suchen.
Krieg und Revolution bilden auch innerhalb B.s Trajektorie tiefe Einschnitte. 1918 publiziert er Sud ba Rossii (Rußlands Schicksal), eine Sammlung von Aufsätzen, die er noch während des Krieges verfaßt hatte. Dieses Buch zeigt anschaulich, wie sich unter dem Einfluß des Krieges B. Auffassung von der Stellung Rußlands in Europa verändert. Bedeutet dieser Krieg für ihn zunächst den Eintritt Rußlands in die Weltgeschichte und das Ende des Kulturmonopols Westeuropas – hier wird das slawophile Erbe B.s deutlich –, kommt er im weiteren Verlauf zu der Auffassung, daß dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden müsse, da ansonsten der Untergang Westeuropas und Rußlands zugleich droht. Diese Auffassung von der notwendigen Kooperation – statt der Konfrontation – der einander bekämpfenden Seiten, die er in dem im Nachhinein verfaßten Vorwort zum Ausdruck bringt, wird er auch später während des Zweiten Weltkriegs einklagen. Doch zunächst bringt ihn sein politischer Nonkonformismus mit der neuen Führung in Konflikt. Seine schon 1909 verbalisierte Kritik am freiheits- und geistfeindlichen Charakter revolutionärer Bewegungen im allgemeinen, der Bol’ seviki im besonderen, die er nunmehr sowohl in Wort als auch in der Tat ausdrückt, hat jetzt existentielle Folgen. Noch 1920 zum Professor an der Moskauer Universität berufen, wird er 1922 verhaftet, nach einem »Gespräch« mit Felix Dzer zinskij des Landes verwiesen und per Schiff nach Westeuropa verbracht.
Für B. beginnt nun die Zeit im Exil. Von 1922 bis 1924 lebt er in Berlin. Seine politische Haltung, die zwar der Revolution und ihren gewaltsamen Konsequenzen kritisch gegenübersteht, dennoch aber stets ihre historische Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit betont, bringt ihn in Distanz zu der Mehrzahl der russischen Emigranten, die er als rückwärtsgewandt und reaktionär bezeichnet. Dennoch gründet er, gemeinsam mit anderen Ausgewiesenen, das Russkij nau cnyj institut (Russisches wissenschaftliches Institut), und er wird auch zum Initiator der russischen Religionsphilosophischen Akademie (Religiozno-filosofskaja akademija), seiner, wie er selbst schreibt, wissenschaftlichen Heimat in Berlin. Hier veröffentlicht er u. a. auch 1923 das Buch Novoe srednevekov e (Das Neue Mittelalter); dabei steht »das Neue Mittelalter« als Metapher für das Ende der modernen westlichen Gesellschaften und ihrer Ideologie der Aufklärung und des Individualismus und den Beginn einer »neuen Gemeinschaftlichkeit«, deren allerdings pervertierte Prototypen B. sowohl im italienischen Faschismus als auch im russischen Kommunismus erblickt. Über das slawophile Erbe weist die hier zum Ausdruck kommende antiwestliche Haltung zurück auf die romantische Kritik am entstehenden Kapitalismus sowie auf mystische Denker wie etwa Jakob Böhme.
1924 verläßt B. Berlin. Von nun an bleibt er bis zu seinem Lebensabend in Frankreich. Wie schon in Berlin und vorher in Moskau entfaltet er hier eine rege intellektuelle Aktivität. Er pflegt Kontakte zu französischen Intellektuellen, Politikern und zu Personen aus der Heimat, die sich in Paris aufhalten. Von 1926 an ediert er die Zeitschrift Put (Der Weg), die er das »Organ des russischen religiösen Geistes« nennt. Er initiiert eine Reihe interkonfessioneller Gespräche unter Orthodoxen, Katholiken und Protestanten. Enge Bekanntschaft verbindet ihn mit Jacques Maritain. In seiner Pariser Wohnung veranstaltet er, ähnlich wie Jahre zuvor in Moskau, Gespräche über Mystik; zu den Teilnehmern zählen u. a. Charles Du Bos und Gabriel Marcel. Mit letzterem verbindet ihn seine Autorschaft in der Zeitschrift Esprit, die Marcel herausgibt.
Neben vielen unmittelbar religionsphilosophischen Schriften verfaßt B. in den 1930er Jahren mehrere Arbeiten, die sich mit dem neuen Regime in seiner Heimat auseinandersetzen. Seine politischen und seine religiösen Anschauungen verschmelzen hier zu einer historisch-politischen Analyse des russischen Kommunismus als einer Art politischer Religion, die sich durchaus mit dem ungefähr zeitgleich entstehenden Konzept politischer Religion von Eric Voegelin vergleichen läßt. Verwiesen sei hier insbesondere auf das 1934 erscheinende Pravda i lo z russkogo kommunizma (Wahrheit und Lüge des russischen Kommunismus) und das 1937 zunächst in deutscher und englischer Sprache erscheinende Istoki i smysl russkogo kommunizma (Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus). Unter Rückgriff auch auf Ideen aus den Vechi stellt B. hier die Frage danach, was denn den Marxismus in Rußland so attraktiv und wirkmächtig gemacht habe. Das nun seien, so B., gar nicht die rationalen Seiten dieser Weltanschauung gewesen, also ihr Determinismus und ihr Ökonomismus, sondern vielmehr der ihr innewohnende Glaube an die Kraft des Proletariats zur Erschaffung einer besseren und gerechteren Gesellschaft der Zukunft. Die dem westlichen Marxismus entstammende Idee der historischen Mission des Proletariats sei durchaus kompatibel gewesen mit der in der russischen Ideengeschichte stets virulenten messianischen Idee des Dritten Roms; der Bolschewismus Leninscher Prägung könne daher als ein »ins Russische übersetzter Marxismus« angesehen werden. Noch dazu würde, durch seine Implementierung und Realisierung in der russisch-sowjetischen Gesellschaft, der ursprünglich westliche Sozialismus-Kommunismus immer mehr typisch russische Züge annehmen und sich in die russische Geschichte einschreiben. Statt also ein der russischen Geschichte völlig fremder, reiner Import aus dem Westen zu sein, bildet der Bolschewismus, B. zufolge, ein Amalgam aus östlicher und westlicher Geschichte. Zugleich betont er, im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen, eher die Kontinuitäten als die Diskontinuitäten zwischen vor- und nachrevolutionärem Regime, insofern letzteres mit der Zeit immer deutlicher Züge des alten russischen Imperiums und seiner Herrschaftsstrategien annehme.
Den Zweiten Weltkrieg erlebt B. in seinem Pariser Exil. Der Auseinandersetzung mit ihm widmet er das 1948 erscheinende Buch Ekzistencial – naja dialektika bo zestvennogo i celove ceskogo (Das Reich des Geistes und das Reich Caesars). Wie schon während des Ersten Weltkriegs in Sud ba Rossii betont er noch einmal die Notwendigkeit der Vereinigung der westlichen und östlichen Zivilisationen bei Strafe des gemeinsamen Untergangs. In Anschluß an Solov’ëv entwickelt er hier ein Verständnis vom Verhältnis von Individuum, Nation und Menschheit, wonach diese eine in sich komplexe Einheit in der Vielheit bilde und die Vielfalt der miteinander kooperierenden Nationen sowie die zu ihnen gehörigen Individuen in sich berge. Als geistige Grundlage für diese zu erschaffende Einheit sieht er die universale Kirche an, wie sie aus der ökumenischen Bewegung hervorgehe.
Goerdt, Wilhelm: Russische Philosophie. Grundlagen. Freiburg/München 1995. – Dahm, Helmut: Grundzüge russischen Denkens. Persönlichkeiten und Zeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1979. – Klein, Paul: Die »kreative Freiheit« nach Nikolaj Berdjaew. Zeichen der Hoffnung in einer gefallenen Welt. Regensburg 1976.
Effi Böhlke
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