Metzler Philosophen-Lexikon: Bergson, Henri Louis
Geb. 18. 10. 1859 in Paris; gest. 4. 1. 1941 in Paris
Fotografien B.s, so protokollarisch steif und den strengen Regeln der Atelierkunst gehorchend die Fotografen den prominenten Laureatus auch in Szene gesetzt haben, besitzen eine eigentümliche Ausstrahlung. Sie zeigen ein graziles, fast altersloses Gesicht mit großen, tiefliegenden doch sanften Augen, die von buschigen Brauen mehr umrahmt als beschützt werden. Der Blick ist träumerisch und wachsam zugleich und vermeidet fast scheu, den Betrachter zu fixieren.
Wie der Blick der Eule, die ja in der Mythologie der Griechen die Klugheit verkörpert hat, scheinen auch diese Augen etwas von einer gespannten Aufmerksamkeit zu verraten, die weiß, daß der Verstand nicht immer und in jedem Augenblick, zumal nicht bei grellem Tageslicht, das zu finden vermag, wonach er sucht. Jeder, der seinen eigenen Augen trauen mag, wird in diesen Porträts lesen können, daß dieser Intellektuelle weder den Typus des martialischen oder geschäftigen Meisterdenkers verkörpert hat, noch den des beamteten Ordinarius, der dröhnend die Prüfungsfragen des Tages bekannt gibt.
Husserl und B., »die beiden einzigen originären Denker des 20. Jahrhunderts« (Roman Ingarden), sind 1859 geboren, demselben Jahr, in dem John Stuart Mill Über die Freiheit und Charles Robert Darwin sein epochales Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl veröffentlicht hat. B. ist ein Sohn jüdischer Eltern. Seine Mutter war gebürtige Engländerin; der aus Polen stammende Vater war Musiklehrer und ein Komponist, der, wie der Sohn urteilte, »nur den Fehler hatte, sich zu wenig darum zu kümmern, seine Musik bekannt zu machen«. Während seiner frühen Kindheit lebte die Familie in der Schweiz; sie übersiedelte 1866 nach Paris, wo der Junge auf Vermittlung eines Rabbiners ein Externenstipendium für das Gymnasium erhält. Als die Familie im Kriegsjahr 1870 ihr Domizil im Heimatland der Mutter aufschlägt und nach London umzieht, läßt sie den Elfjährigen, der in einem jüdischen Pensionat untergebracht wird, in Paris zurück. Bis dahin übrigens war über die Nationalität des Jungen nicht entschieden. – Im »Institut Springer« wird B., der in seinem späteren Leben dem jüdischen Ritus stets fernbleiben wird, bis über seine Volljährigkeit hinaus wohnen. Er ist ein glänzender Schüler, der die jährlichen Examina gegen Ende der Gymnasialzeit und die Aufnahmeprüfung in die »École normale supérieure« in den philologischen Fächern und Mathematik mit Auszeichnung besteht. Zum selben Jahrgang der sogenannten »Normaliens«, den erklärten Eliteschülern Frankreichs, gehören der spätere Sozialistenführer Jean Jaurès und Emile Durkheim, der an Frankreichs Universitäten eine neue Disziplin, die »sciences sociales«, institutionalisieren wird und zum »rationalistischen« Antipoden des »Irrationalisten« B. werden sollte.
Vor Beginn seiner universitären Laufbahn ist B. zunächst berufstätig und wird – wie so viele Intellektuelle Frankreichs (z.B. Jules Michelet, auch Durkheim oder, im 20. Jahrhundert, Gaston Bachelard und Jean-Paul Sartre) – Gymnasiallehrer, zuerst in der Provinz, in Angers, hernach für einige Jahre in Clermont-Ferrand und schließlich in Paris. Er verfaßt in dieser Zeit kleinere Schriften, Reden für den Schulgebrauch (Die Besonderheit, Die Höflichkeit); er hält Vorträge an der Universität (Das Lachen), übernimmt Lehraufträge, übersetzt (anonym) aus dem Englischen, das er Dank seiner Mutter fließend beherrscht, veröffentlicht Auszüge aus Lukrez (eine Textauswahl für Schulzwecke) und schreibt seinen ersten Aufsatz für eine wissenschaftliche Zeitschrift. Der kurze Artikel, den der zukünftige Autor einer neuen Philosophie des Ich verfaßt, heißt Über die unbewußte Simulation in der Hypnose und erscheint, merkwürdiges Zusammentreffen, zum gleichen Zeitpunkt (1886), zu dem ein junger Privatdozent namens Sigmund Freud an der Pariser »Salpetrière« die psychologische Dimension der Nervenpathologie entdeckt.
Sein erstes Buch, das die Grundzüge dessen entfaltet, was als Spielart der »Lebensphilosophie« apostrophiert werden wird (ein Ausdruck übrigens, der nur im deutschen Sprachraum zum philosophiegeschichtlichen Fachterminus wird), erscheint 1889; der Beginn des Bergsonismus datiert also auf das Jahr von Nietzsches Zusammenbruch zurück, dem Verstummen jener anderen, so viel glückloseren Lebensphilosophie. Das Buch heißt Essai sur les données immédiates de la conscience (die deutsche Übersetzung wird 1911 unter dem Haupttitel Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen erscheinen) und bildet (zusammen mit einer Aristotelesmonographie) einen Teil seiner Dissertation. Mit Vorliegen seiner akademischen Eintrittskarte ist B. allerdings vom Beginn seiner universitären Karriere noch über zehn Jahre entfernt. In diesem, seinem akademischsten, Werk liefert B. eine fachkundige Auseinandersetzung mit der sich zur empirischen Wissenschaft entwickelnden Assoziationspsychologie. Er entdeckt »im Fließen des inneren Lebens« die Dauer (»durée«). »Die ganz reine Dauer«, lautet seine Bestimmung, »ist die Form, die die Sukzession unserer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es davon absieht, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen«.
B., ein glänzender und erfolgreicher Schriftsteller, hat immer »in besonders hohem Maße die Aufgabe erfüllt, im zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb vernachlässigte und inhaltliche Probleme selbständig zu fördern« (Max Horkheimer). Darin ist er von den anderen sogenannten Lebensphilosophen (Dilthey, Nietzsche) am ehesten Georg Simmel verwandt, der engagierteste Propagandist dieser neuen französischen Philosophie im wilhelminischen Vorkriegsdeutschland. Auch in Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à esprit (1896) arbeitet er ein großes Material empirischen Wissens durch. Diese Untersuchung über die Beziehung zwischen Körper und Geist ist um die Kritik des szientistischen Theorems vom psycho-physischen Parallelismus zentriert, exemplifiziert an empirischen (Dys-)Funktionen (z.B. der Amnesie und Aphasie) des Gedächtnisses (»mémoire«). Nach der Physiologie wird er sich in der L évolution créatrice (1907; Die schöpferische Entwicklung) der Biologie zuwenden, um dort die Blindstellen von Evolutionstheorien darwinscher Prägung bloßzustellen.
Nach vergeblichen Bewerbungen auf eine Sorbonneprofessur (1894, 1898) – seine Kandidatur soll an Interventionen Durkheims gescheitert sein –, beginnt B. seine universitäre Karriere mit 41 Jahren; das ist verhältnismäßig spät. Andererseits beginnt sie sozusagen gleich auf einem Gipfel: Er wird 1900 Professor für griechische und lateinische und später, 1904, für zeitgenössische Philosophie am »Collège de France«, dem Paradies der von jeglichen Lehr- und Prüfungsverpflichtungen befreiten Hochschullehrer, dem Eliteinstitut der französischen Wissenschaft. Dort lehrt er bis zu seinem Rücktritt mit einigen Unterbrechungen 21 Jahre lang und durchläuft eine von Ehrungen überhäufte Karriere, in der ihm kein Erfolg versagt bleibt; 1901 wird er Mitglied der »Académie des Sciences Sociales«, wird zu Gastvorlesungen in Italien (1911), England und Spanien (1916) eingeladen, in die Académie Française gewählt (1914); er wird 1922 Präsident der »Völkerbundkommission für geistige Zusammenarbeit« und erhält 1927 für seine Schöpferische Entwicklung den Nobelpreis für Literatur.
B. ist der intellektuelle Star der Vorkriegsgeneration, zu dessen Freitagskollegs ein internationales Publikum strömt, und den zu ignorieren den zeitgenössischen Intellektuellen kaum möglich ist – von Heinrich Rickert über Georgi W. Plechanow bis hin zu Bertrand Russell. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist eine mehrbändige russische Werkausgabe erschienen; alle Hauptwerke B.s lagen kurz nach ihrem Erscheinen in deutscher und englischer Übersetzung vor.
Der Bergsonismus wird von einer ganzen Generation wie eine Befreiung aufgenommen, wie die Errettung des endlichen Menschen vor dem Zugriff der szientistischen Rationalisierung des Lebens. »Während der Wissenschaftler immer darauf bedacht ist, die Wirklichkeitso wie er es braucht aufzuspalten, um sie der technischen Einwirkung des Menschen zu unterwerfen, um die Natur zu überlisten in einer Haltung des Mißtrauens und der Kampfbereitschaft, behandelt sie der Philosoph als Gefährtin. Die Richtschnur der Wissenschaft ist jene, die Bacon aufgestellt hat: gehorchen um zu herrschen. Der Philosoph hingegen gehorcht weder, noch herrscht er, ihm ist darum zu tun, einen Gleichklang (»sympathie«) zu finden.« Für einen historischen Moment lang scheint die Philosophie mit dem Bergsonismus ein längst verlorenes Prestige zurückzugewinnen. Wie wenig kontrollierbar diese überraschende Resonanz einer neuen Philosophie über die Fachgrenzen hinaus damals schien, mag daran zu ermessen sein, daß der katholische Klerus die Werke des Nichtkatholiken B. 1914 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt hat. So sehr sah sich eine Theologie von einer Philosophie bedrängt, die einerseits doch nachdrücklich dagegen protestierte, daß die neuzeitliche Wissenschaft sich ausschließlich »der Materie zugewandt« hat, aber andererseits so wenig zum Bundesgenossen geeignet war, daß sie wie eine Häresie verfolgt werden mußte.
Daß der Bergsonismus mit so großem Erfolg zur Alternative des szientistischen Weltbilds werden konnte, hängt wesentlich damit zusammen, daß er seine Grundbegriffe im Stoffwechsel mit kurrenten wissenschaftlichen Theoremen sowohl gewonnen wie reformuliert hat. Das ist nicht unbedingt das klassische Verfahren einer Systemphilosophie. Nach seiner quasi bewußtseinsimmanenten Herleitung reformuliert B. in der Schöpferischen Entwicklung das Prinzip der »Dauer« mit dem neuen Zauberwort vom »élan vital« (Lebensschwung, Lebensschwungkraft); diese Generalisierung auf die allgemeine Sphäre des Organischen ist zugleich, wenn man so will, eine neue Fundierung^ seiner Philosophie durch die Biologie. Der Irrationalismusvorwurf, der gegen B. so oft erhoben worden ist, unterschlägt bequemerweise diese wissenschaftskritische Seite des Bergsonismus. Es ist geradezu ein Grundzug dieser hellwachen Philosophie, ihre elementaren Theoreme der Irritation durch die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion auszusetzen. Der dreiundsechzigjährige B. veröffentlicht 1922 eine Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie Einsteins (Durée et simultanéité), in der er, wie Gilles Deleuze gezeigt hat, ganz unschulmäßig und wie selbstverständlich die Chance zur Selbstverständigung und Selbstkorrektur ergriffen hat.
Die wissenschaftskritische Seite des »toten Klassikers« (Leszek Kolakowski) B. hat sich historisch, so scheint es, nicht verbraucht. »Während Physik und Chemie uns helfen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und uns dadurch ermuntern, sie zu vermehren, kann man voraussehen, daß Physiologie und Medizin uns mehr und mehr offenbaren werden, wie gefährlich diese Vermehrung ist, und wieviel Enttäuschung sich in der Mehrzahl unsrer Befriedigungen birgt.« Der Philosoph des »élan vital« ist gewiß kein Ekstatiker, der die Verdinglichungen des Erlebnisstromes überspielen will. Nüchtern bezieht er die Beobachtung eines selbsterfahrenen Unbehagens an den Fortschritten der wissenschaftlich-technischen Welt ein: Er, der »ein gutes Fleischgericht sehr schätzt«, registriert, daß im Vergleich zum Vegetarier »meine Befriedigung auf Unachtsamkeit beruht und bei klarer Beleuchtung eher verblaßt«. So direkt können die Wege sein, die die Kritik der szientistischen Technikgläubigkeit, den Aufweis des ungeschmälerten Aufklärungspotentials naturwissenschaftlicher Einsicht und die Wahrnehmung einer prekär werdenden Genußfähigkeit miteinander verbinden.
»Bergsons Ansehen und seine Wirkung«, schreibt Kolakowski, »lassen sich nur mit der modischen Beliebtheit vergleichen, deren sich Jean-Paul Sartre in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erfreute.« Bei diesem Vergleich sind die Unterschiede vermutlich interessanter als das Gemeinsame. Gewiß, beide, Sartre und B., verdankten ihren Erfolg wesentlich auch dem, daß sie Schriftsteller-Philosophen waren. Darin mag durchaus ein Allgemeingültiges liegen. Wenn in der Moderne die Philosophie dem Anspruch nicht mehr zu genügen vermag, »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« zu sein, scheinen philosophische Systementwürfe Autorität nur dann erlangen zu können, wenn ihre Urheber bereit und in der Lage sind, zu intellektuellen Stars im Alltagsleben ihrer Epoche zu werden. – Solche, dann auch Nobelpreis-Komitees beschäftigende Stars sind beide gewesen, der Urheber des Bergsonismus wie des Existentialismus. Bei B. freilich war die Philosophie nicht wie bei Sartre von der Aura der moralischen Integrität eines Davids in der literarischen oder politischen Opposition überstrahlt, sondern stützte sich – vorerst zum letzten Mal – auf ihr Gewicht als Institution. Die Autorität, die ihm zukam, war die Autorität einer Metaphysik in Amt und Würden. Der späte, La cause du Peuple verteilende Sartre war über eine Verhaftung erhaben, weil man »einen Voltaire nicht ins Gefängnis steckt« (De Gaulle). Die Politiker haben auf B., wenn man so will, genau die entgegengesetzten Machtphantasien projiziert. Wurde diesem (jedenfalls in bestimmten politischen Konjunkturen) die Unangreifbarkeit des spöttischen, gewissermaßen außerhalb stehenden Kritikers attestiert, so hat man jenen (gewiß nicht ohne Kalkül) umgekehrt in das Licht des alten platonischen Mythos vom Philosophenkönig gerückt. B. wurde – ohne sich freilich zum apologetischen Haupt- und Staatsphilosophen machen zu lassen – im Laufe des Ersten Weltkriegs von zwei verschiedenen politischen Administrationen Frankreichs (1917 und 1918) die diplomatisch-offizielle Mission übertragen, Präsident Wilson davon zu überzeugen, die Neutralität der USA zugunsten der Entente aufzugeben. Nach neueren Archivforschungen hat B. tatsächlich, und nicht nur als plaudernder Erfüllungsgehilfe des akreditierten französischen Botschafters, ein Stückchen Diplomatiegeschichte geschrieben.
Sozialen Fragen hat er sich erst lange nach Ende seiner Lehrzeit in Les deux sources de la morale et de la religion (1932; Die beiden Quellen der Moral und der Religion) zugewandt. Zur Tagespolitik, etwa zur Dreyfus-Affäre, in der sein Schulfreund Jaurès eine so prominente Rolle spielte, hat sich B. in seinen veröffentlichten Werken nirgends geäußert. Die Anliegen des Henri B. zu Problemen des Bergsonismus zu machen, hätte er gewiß abgelehnt; keines seiner Bücher trägt irgend eine gedruckte Widmung oder Zueignung. Aber B., dessen jüngste Publikationen Max Horkheimer in der Zeitschrift für Sozialforschung gerade erst schonungslos rezensiert hatte, hat andererseits zu jenen gehört, mit deren Unterstützung im Jahre 1933 dem ins Exil gehenden Frankfurter Institut für Sozialforschung Räume für ein Pariser Büro zur Verfügung gestellt werden konnten, und die dafür sorgten, daß die Zeitschrift des Instituts (im Hausverlag B.s, bei F. Alcan in Paris) ihr Erscheinen fortzusetzen vermochte.
B. starb im Januar 1941. Der Achtzigjährige hatte vergeblich versucht, der deutschen Blitzkrieg-Invasion im Juli 1940 zu entkommen, und war in den Westen, in die Nähe von Bordeaux übersiedelt. Nach Proklamation der Vichy-Regierung kehrte er in das besetzte Paris zurück. Das Angebot, ihn von den sofort beginnenden Reglementierungen auszunehmen, denen die Juden unterworfen wurden, lehnte er ab. Er soll infolge einer Lungenentzündung gestorben sein, die er sich zuzog, als er sich, im Winter Schlange stehend, als Jude registrieren ließ.
Bachelard, Gaston: La dialectique de la durée – Henri Bergson. Paris 1972. – Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Darstellung und Versuch einer Kritik. Halle 1921.
Martin Weinmann
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