Metzler Philosophen-Lexikon: Bernhard von Clairvaux
Geb. 1090/91 in Fontaines-lès-Dijon; gest. 20. 8. 1153 in Clairvaux
Einer der einflußreichsten Politiker und zugleich einer der bedeutendsten Denker des 12. Jahrhunderts war B. von Fontaines, Gründer und bis zu seinem Tod Abt von Clairvaux, einer der vier zisterziensischen Primarabteien. In dieser Funktion konnte er nicht nur zahlreiche Tochterklöster gewinnen, sondern auch intensiv an der institutionellen und spirituellen Formung seines Ordens mitwirken. Darüber hinaus hat er durch erbetene Vermittlertätigkeit wie durch unerwünschte Einmischung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene seinen Einfluß geltend gemacht. So hat er auf zahlreiche Bistumsbesetzungen in Frankreich eingewirkt, sich erfolgreich um die Beilegung einer jahrelangen europäischen Kirchenspaltung (1130–38) bemüht und wesentlich zum Zustandekommen des Zweiten Kreuzzugs (1147–49) beigetragen.
B.s vielfältige Aktivitäten nach außen widersprechen eigentlich seiner mönchischen, auf der Benediktsregel beruhenden Lebensform wie seinen auf Askese, Kontemplation und eine Gott und Menschen umfassende Liebe zielenden geistlichen Idealen. Den Zwiespalt zwischen seinen verschiedenen Wirkungsfeldern hat er selbst durchaus empfunden. Erstaunlicherweise konnte er daneben noch eine ausgedehnte Tätigkeit als begnadeter Redner und Schriftsteller entfalten. Hunderte von Predigten, acht Abhandlungen und mehr als 500 Briefe sind von ihm überliefert. Doch stellt sich die Frage, ob er deshalb schon als Theologe bezeichnet werden darf. Man hat das bezweifelt, zumal er sich klar gegen ein Streben nach Wissen um des bloßen Wissens willen ausgesprochen und Petrus Abaelard, den bedeutendsten Schultheologen seiner Zeit, mundtot gemacht hat. Dennoch ist es berechtigt, B. unter die Theologen, ja unter die größten Denker des Mittelalters zu zählen. Man kann das, wenn man sich von den herkömmlichen Maßstäben der Schultheologie löst und B. in seiner Stellung als Abt von Clairvaux sieht.
Das Nachdenken über die religiösen Fragen, die ihn und seine Mitbrüder als Mönche bewegen, bildet das Herzstück seiner Reflexionen; deshalb bezeichnet man sie treffend als »monastische Theologie«. In ihrem Mittelpunkt steht jenes heilbringende Wissen, das aus Liebe andere Menschen erbauen und aus Klugheit der eigenen Erbauung dienen möchte. Zu den alltäglichen Problemen, die B.s Leben als Mönch und sein Wirken als Abt begleiten, gehören das Erlebnis der Anfechtung durch den Körper, die Welt und eine fremde, feindliche Macht ( Teufel^), des eigenen Versagens angesichts der asketischen Forderung und der klösterlichen Regel, aber auch der Stärkung durch den Hl. Geist und der Bewährung in der Strenge des Mönchslebens. In der erfahrungsgesättigten Reflexion auf den mönchischen Alltag dringt B. tief in Probleme ein, die aus der Grundsituation des Christen vor Gott erwachsen.
Wie alle mittelalterlichen Theologen ist B. Schrifttheologe. Sein Denken und Argumentieren stützt sich immer auf die Hl. Schrift, und er leitet seine Hörer und Leser zum rechten Schriftverständnis an. Aus Stundengebet und Liturgie, aus den gemeinschaftlichen Schriftlesungen und aus einem vertieften Studium der Bibel hat er so gründliche Bibelkenntnisse erworben, daß er seine eigenen Erfahrungen und Gedanken mit Worten der Schrift ausspricht. Man kann geradezu von seinem biblischen Stil^ reden. Dabei benutzt er die Bibel nicht nur, wie die Schultheologie seiner Zeit häufig, als eine Sammlung von Sätzen, die man einzeln als Argumente verwenden kann. Er sieht in ihr vielmehr einen reichen Schatz an Erfahrungen. Sein Umgang mit der Schrift besteht nun nicht in der philologisch-historischen Bemühung um den Sinn des Bibeltexts. B. bevorzugt jenen Zugang zum Text, der in der Alten Kirche und im Mittelalter immer als der eigentlich wissenschaftliche gegolten hat: das Aufspüren eines tieferen, geistlichen Sinnes hinter dem vordergründigen Wortsinn. Dabei wird ihm die Schriftauslegung zu einer Auslegung der eigenen Situation durch die Schrift. Die Schrift gibt nämlich die Mittel an die Hand, eigene Erfahrungen sprachlich auszudrücken. Sie leitet dazu an, eigene und fremde Erfahrungen richtig zu verstehen, zu deuten und in einen Sinnzusammenhang einzuordnen. Sie hilft, eigene Probleme zu lösen, und regt dazu an, neue Erfahrungen zu machen. Unter den vielen Erfahrungen, von denen B. berichtet und die er durchdenkt, ragen solche bedrückenden Unheils und beseligenden Heils hervor. Tiefstes Unheil bedeutet es für den Menschen, wenn er die Macht der Sünde über sich erfährt. Als Asket, der Forderungen erfüllen möchte, ist B. der Überzeugung, der menschliche Wille sei an sich frei. Um so enttäuschender ist die Beobachtung, daß der Wille gerade aus seiner ursprünglichen Freiheit heraus durch die Zustimmung zur Sünde zu deren Sklave wird. Mit den Worten den Apostels Paulus führt B. bewegte Klage über die Erfahrung des Zwanges, der aus dem eigenen Innern hervorgeht und das Handeln zum Bösen lenkt.
Auf der anderen Seite schildert er eingehend die entgegengesetzte, beglückende Erfahrung der Gottesbegegnung. Er beschreibt sie in einer Weise, die sie in die Tradition der Mystik stellt. Die beste Gelegenheit dazu bietet ihm die Auslegung des Hoheliedes in 86 vor seinem Konvent gehaltenen Predigten. Unter Rückgriff auf Origenes faßt er diese Sammlung von ursprünglich profanen Liebesliedern als ein Zwiegespräch Christi nicht nur mit der Kirche, sondern auch mit der gläubigen Seele auf. Die Bilderwelt des Hoheliedes bietet ihm das Material, um die liebende Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen darzustellen. So entwickelt er an drei Arten von Küssen – Fußkuß, Handkuß und Mundkuß – die drei Stufen des mystischen Aufstiegs von der Reinigung über die Erleuchtung bis zur Vollendung in der Vereinigung mit Gott. Die Beziehung zu Gott hat für ihn wesentlich worthaften Charakter. Sie erschöpft sich aber nicht in der Begegnung mit dem göttlichen Wort^, der göttlichen Natur Christi, sondern umfaßt gleichzeitig sein Menschsein. B. wendet sich der Niedrigkeit und dem Leiden des Gottessohnes in einer bisher unbekannten Offenheit und Intensität zu und entwirft im Anschluß an Paulus (1. Kor. 2,2; Gal. 6,14) eine ausgeprägte Kreuzestheologie. – Trotz seiner persönlichen Betroffenheit bewegen sich B.s Ausführungen nicht im Privaten oder gar im Beliebigen. Er gebraucht einen klaren und prägnanten Begriff religiöser Erfahrung, der ebenso von der Innerlichkeit und Affektbezogenheit des Erfahrungsvorgangs wie von der Passivität des erfahrenden Subjekts bestimmt ist. Durch B. wird die monastische Theologie zum Prototyp einer Erfahrungstheologie, deren Erschließungskraft sich nicht auf den Kreis der Mönche beschränkt, sondern sich auf jeden Christen bezieht. Ihre Wirkungen reichen über Luther, die Orthodoxie, den Pietismus und Schleiermacher bis in den neueren Protestantismus hinein.
Köpf, Ulrich: Bernhard von Clairvaux. Monastische Theologie. In: Theologen des Mittelalters. Hg. von Ulrich Köpf. Darmstadt 2002, S. 79–95. – Köpf, Ulrich: Artikel »Bernhard von Clairvaux«. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1. Tübingen 41998,
S. 1328–1331.
Ulrich Köpf
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