Metzler Philosophen-Lexikon: Bloch, Ernst
Geb. 8. 7. 1885 in Ludwigshafen; gest. 4. 8. 1977 in Tübingen
B.s Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, das in der Zeit von 1938 bis 1947 in der Emigration in Amerika geschrieben und dessen erster Band 1954 in der DDR veröffentlicht wurde, ist eine Analyse von Gegenständen und Begebenheiten, in oder an denen B. zeigen will, daß überall die Sehnsucht nach einem besseren Leben das treibende Motiv ist. B. untersucht Gegenstände der Kunst – der bildenden Kunst, der Architektur, der Musik und der Dichtung –, er untersucht Märchen, Filme, Tourismus, Mode, Schaufensterauslagen, Tanz und Pantomime, Tag- und Nachtträume, Religion und Mythen und macht nicht halt vor Trivialliteratur, Kintopp, Kitsch, Jahrmärkten und Festen. Die Beschreibung verschiedenartigster Ausdrucksformen einer Hoffnung auf unentfremdete soziale und politische Verhältnisse ist der Generalnenner seiner Werke.
Die Hoffnung, die B. meint, ist nicht zu verwechseln mit dem Bauen von Luftschlössern oder mit Wunschdenken, sondern jene Hoffnung ist immer vermittelt mit den konkreten Tendenzen in der Welt. Sie verschließt nicht die Augen vor dem schlecht Entwickelten in unserer Welt. Ganz im Gegenteil: Alles um uns herum bestehe aus Produktionen einer noch unfertigen Welt; es sind Versuchsproduktionen, die gerade wegen ihrer Unvollkommenheit zur Vollendung streben. »Das Nicht ist Mangel an Etwas und ebenso Flucht aus diesem Mangel; so ist es Treiben nach dem, was ihm fehlt.« Darum resigniert die Hoffnung nicht vor den Tatsachen, sondern sagt: »Desto schlimmer für die Tatsachen. Konkrete Utopie richtet die miserable Faktizität.« Und B. sagt weiter: »Der Welt-Prozeß ist noch nirgends gewonnen, doch freilich auch noch nirgends vereitelt, und die Menschen können auf der Erde die Weichensteller seines Prozesses sein. Wer das Unverhoffte nicht erhofft, der wird es nicht finden.«
Man dürfe aber kein zaudernder Weichensteller sein, sondern müsse eingreifen wie der Hochstapler in B.s Spuren (1930), »der seinen Traum täglich erobern muß. Man kann auch nur davon träumen«, sagt B., »eine Wurst mehr zu haben. Ein solcher bleibt dort wohnen, wohin er geriet, stockt höchstens, hat er Erfolg, ein Zimmer auf Kein Vorstoß ins Höhere^, auch der wirklich produktive nicht, geht ohne Selbstbehauptungen ab, die nicht oder noch nicht wahr sind. Auch der junge Musikant Beethoven, der plötzlich wußte oder behauptete, ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb Hochstapelei skurrilsten Stils, als er sich Ludwig van Beethoven gleich fühlte, der er doch noch nicht war. Er gebrauchte diese durch nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn ohne die Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas Großes zustande gekommen wäre. Die Hochstapelei«, sagt B. weiter, »bleibt etwas sehr Merkwürdiges: sie zeigt Glanz, den alle meinen und der allen zukommt.«
Dieses Denken läßt sich nicht von der persönlichen Geschichte B.s trennen, der schon früh meinte, auch ihm käme dieser Glanz zu. B. wollte von Jugend an das Unmögliche wahr machen: Vom schlechten Schüler mit einem Elternhaus, das ihm keine Bildung mit auf den Weg gab, zu einem bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, ganz nach dem Motto der Spuren: »Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich noch nicht. Darum werden wir erst.« Mit 26 Jahren – noch hatte B. kein Buch veröffentlicht – schrieb er spitzbübisch an seinen Jugendfreund Lukács: »Ich habe mich jetzt, nachdem es mir sachlich erlaubt ist, entschlossen, den Ruhm und den Druck meiner Philosophie sukzessive zu inszenieren; Georg, ich versichere Dich, alle Menschen, in Rußland und bei uns im Westen, werden sich wie an der Hand genommen fühlen, sie werden weinen müssen und erschüttert und in der großen bindenden Idee erlöst sein; und nicht nur einmal, wie man schwach vor Tannhäuser und Wagners heiliger Kunst erschauert, sondern in allen Stunden; und das Irren hört auf, alles wird von einer warmen und zuletzt glühenden Klarheit erfüllt; es kommt eine große Lebensgesundheit und eine große gesicherte Technik und gebundene Staatsidee und eine große Architektur und Dramatik, und alle können wieder dienen und beten, und alle werden die Stärke meines Glaubens gelehrt und sind bis in die kleinsten Stunden des Alltags eingehüllt und geborgen in der neuen Kindlichkeit und Jugend des Mythos und dem neuen Mittelalter und dem neuen Wiedersehen mit der Ewigkeit. Ich bin der Paraklet und die Menschen, denen ich gesandt bin, werden in sich den heimkehrenden Gott erleben und verstehen.« Auch im Urteil seiner Zeitgenossen erschien er nicht anders. Marianne Weber schrieb: »Gerade war ein neuer jüdischer Philosoph da – ein Jüngling mit enormer schwarzer Haartolle und ebenso enormem Selbstbewußtsein, er hielt sich offenbar für den Vorläufer eines neuen Messias und wünschte, daß man ihn als solchen erkannte.«
Ebenso sah B. sich selbst in den Augen der anderen. Über seine erste Frau, Else B.-von Stritzki, schrieb er: »Else glaubte fest an die absolute Wahrheit meiner Philosophie. Sie kam ihr aus dem gleichen Blut und aus der gleichen Region wie die Bibel; sie erläuterte die Bibel durch meine Philosophie und meine Philosophie durch die Bibel Durchstrich ich eine Stelle, im Manuskript oder im gedruckten Buch, so schauerte sie leise zusammen; nur dieses, daß ich es tat, daß ich ein Anderes an die Stelle des Durchstrichenen setzte, milderte, stellte richtig. Ihre Achtung, ihre Verehrung meines Werkes war so unbedingt und grenzenlos wie ihre Liebe.« Und an anderer Stelle heißt es über die schon 1921 gestorbene Frau: »Es ist doch besser, daß nicht ich gestorben und sie übergeblieben ist. Dieses Leid wäre unausdenkbar gewesen, freilich hätte sie dann auch nicht mehr lange gelebt, wahrscheinlich nur genau so lange, bis alles verwahrt^ und besorgt gewesen wäre um mich.« B. dachte – wie er im Januar 1943 an den Freund Joachim Schumacher schrieb – von Anfang an für die Ewigkeit: »Wir haben unsere Zeichen in die Ewigkeit zu ritzen, nicht in den Tag.«
Bringt man seine Philosophie auf eine Kurzformel, so muss man sagen: »S ist noch nicht P«; jedes Subjekt hat potentielle Möglichkeiten in sich, die es zu verwirklichen trachtet. Erst wenn das Subjekt alle in ihm liegenden Möglichkeiten realisiert hat, ist es vollendet. B. stützt sich dabei auf die Aristotelische Denkfigur des Zusammenhangs von »dýnamis« und »enérgeia«, von »potentia« und »actus«, die zum Inhalt hat, daß alles, was ist und geworden ist, aus etwas wird, was vorher der Möglichkeit nach schon das war, was es jetzt der Wirklichkeit nach ist. Jeder Stoff birgt der Möglichkeit nach das in sich, was er später der Wirklichkeit nach ist. Alle Möglichkeiten vollendet hat bei Aristoteles nur Gott. – Für B. war denn auch der Bezugspunkt seiner Philosophie von der Frühzeit bis zu seinem Tod der jüdisch-christliche Chiliasmus. Er selbst war durch Abstammung Jude und seine erste Frau Else war eine gläubige Christin aus Riga. Im Prinzip Hoffnung (1954–59) schreibt er, daß ihm der Marxismus nur ein Durchgangsstadium zu diesem Fernziel »Alles« ist. Marxismus sei nur die »erste Tür zu einem Sein wie Utopie«. In einem Gespräch mit Adorno im Jahr 1964 betonte B., daß der Sozialismus die ökonomischen Probleme zu lösen habe, bevor der Messias kommen könne. Für den einzelnen Menschen, in seiner Entwicklung von der Unvollkommenheit zur höchsten Vollkommenheit, gäbe es nichts Aufregenderes als die Frage zu stellen, ob am Ende die Gottgleichheit oder die Gottähnlichkeit stünde. In einem Vortrag von 1964 gab B. die Antwort mit der Gottgleichheit, denn der Satz Christi hieße: »Ich und der Vater sind eins«, und nicht etwa: »Wir sind uns ähnlich.« Diese Grundhaltung der Frühzeit geht auch in das ein halbes Jahrhundert später erschienene Buch Atheismus im Christentum (1968) ein, das er aber bereits in der amerikanischen Emigration geschrieben hatte. B. hatte das Glück, ab Herbst 1941 das Haus des Theologieprofessors Cadbury in Cambridge/Massachusetts mit einer großen Bibliothek zur Verfügung zu haben. Während eines langen Afrika-Aufenthalts von Cadbury hat B. sich intensiv mit der Abfassung des Manuskripts beschäftigt. Dieses Buch, das eine radikale Anthropologisierung der Religion enthält, ist das Produkt von B.s lebenslanger Auseinandersetzung mit der Religion. Dabei bildete sich die Auffassung heraus, daß der Mensch zum Besseren, zum Vollkommenen, zum Alles, zur Gottgleichheit strebe. Der Mensch habe nur deshalb immer an Götter geglaubt, weil er stets für sich eine Wunschvorstellung von der Vollkommenheit hatte. Dies bedeute, daß der Mensch alle in ihm liegenden Möglichkeiten zu verwirklichen trachte.
Genauso wie das Subjekt strebe die Materie. Im 1972 erschienenen Buch Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz spricht B. von den beiden »Weltreichen«, die aufeinander bezogen sein müßten, denn ebenso wie im Subjekt alle Möglichkeiten lägen, lägen sie in der Materie. Und schon im Prinzip Hoffnung heißt es, daß Hoffnung überall in der Welt liege und nicht im Subjekt allein: »Das Morgen im Heute lebt, es wird immer nach ihm gefragt. Die Gesichter, die sich in die utopische Richtung wandten, waren zu jeder Zeit verschieden, genauso wie das, was sie darin im Einzelnen, von Fall zu Fall, zu sehen meinten. Die Richtung dagegen ist hier überall verwandt, ja in ihrem noch verdeckten Ziel die gleiche: sie erscheint als das einzig Unveränderliche in der Geschichte. Glück, Freiheit, Nicht-Entfremdung, Goldenes Zeitalter, Land, wo Milch und Honig fließt, das Ewig-Weibliche, Trompetensignal im Fidelio und das Christförmige des Auferstehungstags danach: es sind so viele und verschiedenwertige Zeugen und Bilder, doch alle um das her aufgestellt, was für sich selber spricht, indem es noch schweigt.«
Dennoch fragte B. 1961 in seiner Tübinger Eröffnungsvorlesung: »Kann Hoffnung enttäuscht werden? – Gewiß kann sie das. Und wie!« – Die Enttäuschung sei die Weggefährtin der Hoffnung. Diese Frage und diese Antwort waren in einem Leben wie diesem nicht anders zu erwarten.
B. hatte den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Als am 5. März 1933 die Nazis die Wahlen gewannen, mußte er in die Schweiz emigrieren, sein erstes Emigrationsland, wo er bereits von 1917 bis 1919 wegen seiner Antikriegshaltung gelebt hatte. Seine Lebensgefährtin Karola folgte ihm bald. Diese zweite Emigration war für die B.s besonders bitter, denn sie hatten in Berlin inzwischen einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Zu diesem gehörten u. a. Theodor W. Adorno, Bert Brecht, Ernst Busch, Axel Eggebrecht, Peter Huchel, Alfred Kantorowicz, Otto Klemperer, Lotte Lenya, Gustav Regler, Alfred Sohn-Rethel und Kurt Weill. 1934 gingen beide nach Wien, wo sie heirateten. Ab 1935 lebten die beiden in Paris und von 1936 bis 1938 in Prag. 1938 emigrierten sie in die Vereinigten Staaten. 1948 wurde B. als Ordinarius auf den Philosophie-Lehrstuhl in Leipzig berufen, und zwar nicht wegen seiner Qualifikation als Philosoph, denn die Kollegen der Fakultät waren mehrheitlich davon überzeugt, daß B. nicht als Philosoph zu bezeichnen sei. Berufen wurde er, weil die Regierung von Sachsen der Auffassung war, daß »es ein großer Fortschritt in der Demokratisierung unserer Hochschulen« sei, B. zu berufen. Auch bei diesem Vorgang trat B.s ungetrübtes Selbstbewußtsein zutage: Eine erste Anfrage des Dekans hielt er bereits für seine Berufung und stellte gleich die Forderung an die Universität, den sicheren Transport seiner in Amerika geschriebenen Manuskripte zu gewährleisten. Schon bald aber geriet B. mit der Parteibürokratie in Konflikt, der er vorhielt: »Die sozialistische Oktoberrevolution ist gewiß nicht dazu bestimmt gewesen, daß die fortwirkenden, in der ganzen Westwelt erinnerten demokratischen Rechte der französischen Revolution zurückgenommen werden, statt einer Erkämpfung ihrer umfunktionierten Konsequenz« (Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, 1970). Wenn Marx von der Abschaffung des Privateigentums sprach, hätte er damit nicht gemeint, daß zugleich auch die Menschenrechte wie »Freiheit, Widerstand des Volkes gegen Unterdrückung« aufgehoben werden sollten, »denn auch der Mensch, nicht nur seine Klasse hat, wie Brecht sagt, nicht gern den Stiefel im Gesicht«. Die Gefahr der Unterdrückung des Einzelnen zugunsten einer Klasse sah B. aber in der DDR gegeben, in der selbständiges Denken »gegen den Anstand verstößt«. B. prangerte die Mißstände 1956 im Anschluß an den XX. Parteitag der KPdSU in seinem Schlußwort auf dem Kongreß der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin öffentlich an. Er war der Auffassung, daß es nun darum gehen müsse, die Fehler im sozialistischen System zu beseitigen: »Jetzt muß statt Mühle endlich Schach gespielt werden.« So verstand er praktische Philosophie. Walter Ulbricht selbst schaltete sich ein und verurteilte im Leitkommentar des Neuen Deutschland vom 30. Dezember 1956 die B.sche Philosophie. Die Folge war, daß B. 1957 zwangsemeritiert wurde. Er galt von da an, wie einst Sokrates in Griechenland, als »Verführer der Jugend«. In dem 1957 erschienenen Sammelband Ernst B.s Revision des Marxismus wurden vor allem seine Haltung zur Widerspiegelungstheorie, die »Aufweichung« der Klassentheorie, seine positive Einstellung zur bürgerlichen Aufklärung und die »Scheindialektik« von Subjekt und Objekt oder Sein und Bewußtsein kritisiert. B. stand nun offen im Widerspruch zum real-existierenden Sozialismus, dem er anfänglich ebenso in fast blind-naiver Loyalität verbunden war wie der Sowjetunion Stalins zur Zeit des Nationalsozialismus.
Als seine Freiheiten in der DDR auf ein unerträgliches Maß reduziert wurden, blieb er nach dem Bau der Mauer 1961 in Westdeutschland, nachdem gewiß war, daß seine Manuskripte in den Westen geholt würden. Denn in seinem ganzen Leben stand für ihn die geplante Gesamtausgabe im Vordergrund. Als Wohnort wählte B. Tübingen, nicht zuletzt, weil mit dieser Stadt die Namen Schelling, Hölderlin und Hegel verbunden waren, weil sie »hier in der Luft liegen«. Doch auch in der Bundesrepublik, und gerade hier im Kapitalismus, war B. unbequem. Paradox genug freilich, daß er hier mehr persönliche Freiheit genoß als in einem Land, das den Sozialismus zum Programm hatte. In der Bundesrepublik hielt er auch den Vortrag, der 1961 unter dem Titel Philosophische Grundfragen. Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins veröffentlicht wurde. Er enthält komprimiert den Kerngedanken der B.schen Philosophie: Erleben wir als Menschen einen Mangel, so streben wir danach, diesen Mangel zu überwinden. Dies ist ein Wesenszug des Menschen, eine anthropologische Grundkonstante, denn der Mensch hofft, solange er lebt. »Die Hoffnung ist das letzte, was schwindet.« Dieser Gedanke kam dem 22jährigen B., und er wurde in der zweiten Auflage des Buchs Geist der Utopie von 1923 allererst ausgeführt, doch wurde dieser oben bereits knapp dargestellte Grundgedanke von B. 1961 in der Ontologie des Noch-Nicht-Seins konzis in philosophische Terminologie gekleidet: Ist die Welt auch mangelhaft, so hat sie doch die Tendenz in sich, diesen Mangel zu beseitigen. »Nicht-Haben, Mangeln also ist die erste vermittelte Leere von Jetzt und Nicht. Mit Hungerndem als erstem bezeichneten Melden des Nicht, mit Fragendem als erstem bezeichneten Scheinen des X, des Rätsels, des Knotens im Nicht, das es nicht bei sich aushält. Und so das Daß ist, von woher überhaupt etwas erscheint und weiter erscheint, Welt geschieht Wir leben nicht um zu leben, sondern weil wir leben, doch gerade in diesem Weil oder besser: diesem leeren Daß, worin wir sind, ist nichts beruhigt, steckt das nun erst fragende bohrende Wozu. Dergestalt, daß es das Nicht des unausgesuchten Bin oder Ist nicht bei sich aushält, darum ins Noch-Nicht sich entwikkelt, das es vor sich hat Der Hunger wird so zur Produktionskraft an der immer wieder aufbrechenden Front einer unfertigen Welt. Ja die gesamte Versuchsreihe der Weltmanifestationen ist noch eine unabgeschlossene Phänomenologie unserer wirklichen Materie, als eines Ultimum, nicht Primum. Ist ein dialektischer, in seiner Dialektik von Nicht-Haben getriebener, mit utopischem Haben schwangerer Prozeß, ein Prozeß von Proben auf das immer erst dämmernde Exempel eines aus seinem Noch-Nicht gewonnenen ontos on-Seins, Substanz-Seins.« Auf die Frage nach dem »Wozu« des menschlichen Lebens gibt es also nur eine Antwort: »Konkrete Utopie (macht) das Sinnproblem der ganzen menschlichen Geschichte aus, samt der sie umgebenden Natur.«
Das bedeutet: Beim Nicht, das im Dunkel des Jetzt treibt, ist der Anfang zu machen. Aber wie geht es weiter? Das unfertige, unvollkommene Sein strebt danach, sein ganzes Wesen zu realisieren. Angetrieben vom Daß der Existenz, strebt es nach dem Was seines Wesens. Wäre es vollkommen, so gäbe es keinen Prozeß und kein Streben, kein Daß des Nicht-Da und des Nicht-Habens, das diesen Prozeß fortwährend anstößt; ja letztlich gäbe es überhaupt kein Leben. Das Sein als das noch nicht fertige Sein, von B. »Noch-Nicht-Sein« genannt, das mit dem Noch-Nicht-Bewußten eine Allianz bilden müsse, hat in der alten Metaphysik keinen Namen. Das Sein wird dort als von Anfang an fertig behandelt, so auch noch bei Heidegger. Anders bei B. Deshalb nennt er seine Philosophie auch neue Metaphysik. Dennoch stützt sich B. auf den Kerngedanken der Aristotelischen Metaphysik, daß das Wesen nur in Identität mit dem Einzelseienden überhaupt sein kann. In seiner Ontologie des Noch-Nicht-Seins sagt B., daß das Sein vom Seienden nie abgetrennt sei. Aber das Seiende ist für B. das »fragmenthafte Wesen«. Die Seienden sind für B. stets Versuchsproduktionen des Seins, eben eines noch unfertigen Seins. Dieser ständige Fortgang zum vollendeten Sein, das alle seine Möglichkeiten realisiert hat, kommt nicht von selbst. Dazu bedarf es der Praxis. Der praktisch Eingreifende muß tatkräftig sein wie der Hochstapler, denn »die Wurzel der Geschichte ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch«. 1975 schreibt B. im Experimentum mundi: »Gelingende Praxis enthält eben im immer erneut Insistierenden des Daß den Durchbruch eines nicht nur zu Bestimmenden, sondern eines zu Verwirklichenden. Worin über das Was des Daß schon ausgesprochen ist, daß es kein vorhanden Wirkliches darstellt, wie es der menschlichen Erkenntnis nur Bestimmung aufgibt. Vielmehr ist es noch erst herausbringbar, muß erst bestimmt herausgeschafft werden, damit es ein nun vollständig zu Bestimmendes sei. Dieses reale Herausbringen ist auf tendenzielle Möglichkeiten seiner in der vorhandenen Realität angewiesen, auf objektiv-reale Möglichkeiten, die ihrerseits in den Begriff gebracht werden müssen, damit das in ihnen Angelegte realisierbar wird. Im weiteren reicht allein das Begreifen der objektivrealen Möglichkeiten, zum Daß immer weiter, immer näher zu gelangen, nicht aus, sie sind nur realisierbar, wenn der subjektive Faktor kräftig eintritt, wie er hier nun innerhalb des Geschichtsprozesses gemäß einem ökonomisch-gesellschaftlichen Fahrplan als eingreifende Beförderung des objektiv-real Fälligen, konkret Möglichen erscheint.« – Mit dieser Auffassung hatte B. sich schon gegen die II. und III. Kommunistische Internationale vor und nach dem Ersten Weltkrieg gestellt, in denen man von einer automatischen geschichtlichen Entwicklung überzeugt war. Hier wird noch einmal deutlich, daß für B. Hoffnung nicht blinde Zuversicht ist, die sagt, daß am Ende schon alles gut werde. Für die Zuversichtlichen, sagte B. in seiner Eröffnungsvorlesung 1961 in Tübingen, gelte immer noch der alte Spruch: »Hoffen und harren macht manchen zum Narren.«
1977 starb B. 92jährig in Tübingen, nachdem seine Gesamtausgabe fertiggestellt war und er an dem Ergänzungsband Tendenz-Latenz-Utopie (1978) arbeitete. Mittlerweile wird oft gefragt, ob seine Philosophie der Hoffnung noch aktuell sei, denn die Gründe zur Mutlosigkeit sind seither zahlreicher geworden. B. würde sagen: Wenn wir genau hinsähen, dann würde uns deutlich, daß wir immer noch von Versuchsproduktionen des »Laboratorium possibilis Salutis« umgeben seien. Das »Experimentum mundi« sei keineswegs zum Stillstand gekommen. Wir hätten heute mehr Protest gegen das schlecht Gewordene zu beobachten als jemals zuvor. Daraus entwickle sich die alternative Praxis, die ein Beispiel geben könne. Dies würde B. als ein ermutigendes Signal auffassen, nach dem oft von ihm zitierten Motto aus Hölderlins Gedicht Patmos: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« B. selbst legte bis zum letzten Tag seines Lebens sein Veto ein gegen das, was der Hoffnung auf eine bessere menschliche Gesellschaft im Wege stand. Als hochbetagter Mann kämpfte er noch gegen den Paragraphen 218, was Franz-Josef Strauß motivierte, ihn als »geilen Greis« zu beschimpfen. B. erhob seine Stimme gegen die Notstandsgesetze, gegen die Berufsverbote und gegen den Bau der Neutronenbombe.
Münster, Arno: Ernst Bloch. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2003. – Becker, Ralf: Sinn und Zeitlichkeit. Vergleichende Studien zum Problem der Konstitution von Sinn durch die Zeit bei Husserl, Heidegger und Bloch. Würzburg 2002. – Kirchner, Verena: Im Bann der Utopie. Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie in der DDR-Literatur. Heidelberg 2002. – Neuhaus, Manfred/Seidel, Helmut (Hg.): Ernst Blochs Leipziger Jahre. Schkeuditz 2002. – Bloch, Ernst: Über die Hoffnung. Reden und Gespräche. Ausgewählt und mit einem Begleittext versehen von Karlheinz Weigand. München 1999 [4 Hörkassetten]. – Rohrbacher, Klaus (Hg.): Zugänge zur Philosophie Ernst Blochs. Frankfurt am Main 1995. – Horster, Detlef: Bloch zur Einführung. Hamburg 71991. – Zudeick, Peter: Der Hintern des Teufels. Ernst Blochs Leben und Werk. Baden-Baden 1987.
Detlef Horster
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