Metzler Philosophen-Lexikon: Blondel, Maurice
Geb. 2. 11. 1861 in Dijon; gest. 4. 6. 1949 in Aix-en-Provence
» Eine Dissertation über das Tun (l’action)? Großer Gott, was kann das sein? Das Stichwort Tun steht nicht einmal im Dictionnaire des sciences philosophiques von Adolphe Franck^, – dem einzigen damals«, berichtet B. über die Reaktion eines Freundes auf sein Vorhaben. Das unphilosophische^ Thema zu bewältigen, bedeutete für den Absolventen der »École normale supérieure« jahrelange intensive Arbeit. Die Dissertation L Action von 1893 wurde dann sein Hauptwerk. Während sein Zeitgenosse Henri Bergson sich zur selben Zeit der empiristisch-positivistischen Richtung der französischen Universitätsphilosophie anschloß, bezog sich B. auf die großen Versuche des deutschen Idealismus. Der Untertitel seines Werks, »Versuch einer Kritik des Lebens und einer Wissenschaft der Praxis«, spielt gleichzeitig auf Kants drei Kritiken und Hegels Wissenschaft der Logik an. So ist es auch nicht verwunderlich, daß der Hegelianer Georg Lasson der erste Propagandist B.s in Deutschland war und Rudolf Christoph Eucken ihn als Mitarbeiter für die Kant-Studien zu gewinnen suchte.
B.s L Action ist zunächst eine Phänomenologie des menschlichen Lebensvollzugs. Sie sucht dabei im ersten Teil – gut cartesianisch – einen nicht bestreitbaren Ausgangspunkt in der Kritik eines Ästhetizismus zu gewinnen, der jede ethische Entscheidung relativiert und für den es kein »Problem des Tuns« gibt. Im Aufweis der Widersprüchlichkeit einer »nihilistischen« Deutung der Wirklichkeit (zweiter Teil) will B. sodann das in der Sinneswahrnehmung gegebene »Etwas« (Ausgangspunkt des dritten Teils) als unvermeidbar zu bejahendes Phänomen sichern. Dessen »objektive« Bewältigung durch die Wissenschaften scheitert an deren Methodenlücke: Sie setzen die synthetisierende Subjektivität des Wissenschaftlers zu ihrem Gelingen voraus. Die Subjektivität selbst ist also zu ergründen, eine »Wissenschaft des Bewußtseins« ist für die Grundlegung der positiven Wissenschaften nötig. Diese zeigt, daß das Subjektive kein Epiphänomen ist, sondern »Substitut und Synthese aller anderen Phänomene«. Die Analyse des Determinismus der Phänomene führt ausgehend vom »Etwas« zum »notwendigen« Aufweis der im Organismus verleiblichten Freiheit. Von hier aus werden nun die Phänomene des menschlichen Selbstvollzugs aufgerollt, die menschlichen Versuche, ein Gleichgewicht zwischen den konkreten Selbst- und Weltgestaltungen und dem Dynamismus des innersten Wollens zu finden (Dialektik der »zwei Willen«). Methodisches Prinzip ist dabei, mit einem Minimum an Annahmen bzw. Entscheidungen auszukommen. B. entwickelt hier eine Philosophie der Sozialität und analysiert in origineller Weise die Versuche einer ideologischen Sicherung der Ganzheit menschlichen Wollens (»Aberglaube«), sei es durch Metaphysik, Ideologie oder Kultus. Die Analyse des »Phänomens des Tuns« führt am Ende zu einem inneren Konflikt im Wollen selbst: »Vergeblich versucht man, das freie Tun auf das zu beschränken, was vom Willen selbst abhängt. Die unermeßliche Welt der Erscheinungen, in die sich das Leben des Menschen ergießt, scheint erschöpft zu sein, nicht hingegen das menschliche Wollen. Der Anspruch, sich selbst zu genügen, scheitert, doch nicht aus Mangel; er scheitert, weil in dem, was man bis jetzt gewollt und getan hat, das, was will und wirkt, stets über das hinausgeht, was gewollt und getan wird.«
Der große Mittelteil des Buches (»Das Phänomen des Tuns«) führt zu einer formalen Beschreibung des Problems und der möglichen Lösung, die in ihrer Paradoxie von Philosophen wie Theologen als gleich anstößig empfunden wurde: »Absolut unmöglich und absolut notwendig für den Menschen: das ist genau der Begriff des Übernatürlichen«, das einzig den Dynamismus des Wollens ausfüllen könnte. Der hier aufscheinende Konflikt stellt im vierten Teil (»Das Notwendigsein des Tuns«) vor eine Alternative und fordert eine Option: Selbstabschließung des Wollens, Versuch des Menschen, »sein unendliches Vermögen zu gebrauchen, um sich zu begrenzen«, »Gott sein ohne Gott« oder der Unendlichkeit des freien Wollens zu folgen – B. erneuert hier das Lehrstück der »Gottesbeweise« –, sich der »Heteronomie« des Guten zu überlassen, den Weg der »Selbstverleugnung« zu gehen (»Das vernünftige Glück ist das Glück der andern«), »Gott sein durch Gott und mit Gott«, – um einige Umschreibungen des Gemeinten zu geben. Es geht dabei nicht um einen moralischen Appell, sondern um eine »erstphilosophische« Grundlegung der Philosophie, die den Sinn des gesamten Erkenntnisprozesses bestimmt. B. ist hierbei manchen gegenwärtigen ethischen Grundlegungen der Philosophie (z.B. Emmanuel Lévinas) nicht so fern. B. geht aber noch einen Schritt weiter, indem er (im fünften Teil: »Die Vollendung des Tuns«) die Frage nach Autorität und Glaubwürdigkeitsbedingungen einer Offenbarung stellt und sozusagen eine Kriteriologie konkreter Religion (Dogma, Praxis, etc.) entwickelt, die gewissermaßen schon eine »transzendentale Theologie« (Karl Rahner) vorzeichnet.
Die phänomenale Reichhaltigkeit vieler dieser Analysen der L Action stellt B. in die Reihe der großen französischen Moralisten; sein konventionalistisches Wissenschaftsverständnis gehört in das Umfeld des philosophischen Pragmatismus; seine Analysen des Unbewußten und der praktischen Genese des Erkennens sind den Arbeiten bedeutender Zeitgenossen wie Bergson und William James, aber auch der gleichzeitigen Phänomenologie vergleichbar; das Bemühen um eine konstruktiv-rationale Systematik zeigt B. dabei als Erben des »rationalistischen« Strangs der Philosophie, Leibniz wie Kant verpflichtet. Das größte Hindernis für B.s Wirken im laizistischen Frankreich der Jahrhundertwende, der Grund für sein Ausweichen in die »Provinz« als Professor in Lille 1896 und Aix-en-Provence von 1897 bis 1927 lag jedoch in der spätestens im Schlußteil der L Action deutlichen Absicht, im Rahmen der Phänomenologie des Tuns »alles zu begreifen, selbst die Religion«. In deutlichem Bezug auf die Philosophien des Christentums im deutschen Idealismus, aber in erklärter Eigenständigkeit ihnen gegenüber will er das Christentum dabei nicht »gnostisch« auflösen, sondern vielmehr dem Denken die Notwendigkeit einer Entscheidung vor dem Faktum des Christlichen zeigen. Diese Entscheidung überschreitet freilich die Philosophie, auch nach B., der sie nur im letzten Wort des Buches (»C’est«) bezeugt.
Der Kritik von philosophischer Seite (Léon Brunschvicg) konnte B. so begegnen (vor allem in Lettre sur l apologétique 1896; Zur Methode der Religionsphilosophie), daß der Sacheinwand zurückgewiesen wurde, die Transzendenz, das Unendliche seien die Voraussetzung des Buches und die ganze Argumentation daher eine »petitio principii«. Doch löste dies heftige Kontroversen mit neuscholastischen Autoren aus. Das Bemühen um einen dritten Weg zwischen den Fronten historischer Kritik und archaisierender Neuscholastik in der sog. »Modernismus«-Krise im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verwickelte ihn vollends in das theologische Diskussionsfeld (Histoire et dogme, 1904; Geschichte und Dogma). Die ganze Dramatik dieser Auseinandersetzungen zeigen erst die posthum veröffentlichten umfangreichen Korrespondenzen. Fortschreitende Erblindung behinderte den Philosophen. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens veröffentlichte er (von 1934 bis 1946) unter solch erschwerten Bedingungen ein monumentales Spätwerk in sieben Bänden (La pensée I-II; L Etre et les êtres, L Action I-II (Neufassung); La philosophie et l esprit chrétien III). Die Prägnanz und Frische des Frühwerks fehlen diesen Arbeiten, was zum Teil erklärt, daß sie wie erratische Blöcke weitgehend unausgewertet blieben. Die Wirkung B.s zeigt sich vor allem in seinen Schülern im französischen Südwesten und in einem epochalen – wenn auch teilweise hintergründigen – Einfluß auf das katholische Denken des 20. Jahrhunderts (Teilhard de Chardin; Henri de Lubac, Joseph Maréchal, Hans Urs v. Balthasar, indirekt aber auch Karl Rahner). Erst zu seinem 125. Geburtstag 1986 erinnerte sich die Sorbonne ihres bedeutenden Absolventen in einem Kongreß, und erst jetzt wird die französische Gesamtausgabe herausgegeben.
Reifenberg, Peter: Verantwortung aus der Letztbestimmung. Maurice Blondels Ansatz zu einer Logik des sittlichen Lebens. Freiburg i.Br./Basel/Wien 2002. – Schwind, Georg: Das Andere und das Unbedingte. Anstöße von Maurice Blondel und Emmanuel Lévinas für die gegenwärtige theologische Diskussion. Regensburg 2000. – Raffelt, Albert u. a. (Hg.): Das Tun, der Glaube, die Vernunft. Würzburg 1995. – Hooff, Anton van: Die Vollendung des Menschen. Freiburg i.Br. 1983. – Hommes, Ulrich: Transzendenz und Personalität. Frankfurt am Main 1972.
Albert Raffelt
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.