Metzler Philosophen-Lexikon: Boëthius
Geb. um 480 n. Chr. in Rom; gest. um 524 n. Chr. in Pavia
B. entstammt der gens Anicia, einer der großen alten Senatorenfamilien Roms. Sein Vater ist hoher Beamter des weströmischen Reiches; nach dessen frühem Tod kommt er in den Haushalt des Memmius Symmachus, eines einflußreichen Politikers, der im zeitgenössischen Literaturbetrieb die Rolle eines »arbiter elegantiarum« einnimmt. In Alexandria studiert B. Philosophie. Seine ersten Veröffentlichungen finden allgemeines Interesse. Der Ostgotenkönig Theoderich der Große ernennt den kaum 30jährigen zum Konsul des Jahres 510 – eine außergewöhnliche Anerkennung seiner Fähigkeiten. Das folgende Jahrzehnt verbringt er, in seine Bibliothek zurückgezogen, mit philosophischer Arbeit. In der politischen Landschaft bereiten sich große Veränderungen vor. Beraten von seinem späteren Nachfolger Justinian, strebt der neue Kaiser Ostroms, Justin, nach der byzantinischen Hegemonie in Italien. In einer doppelten Strategie sucht er sich zunächst die westliche Kirche zum Verbündeten zu machen. Er nötigt dem östlichen Episkopat weitreichende dogmatische Zugeständnisse an die lateinischen Positionen ab und vermag so die seit einer Generation gespaltenen Kirchen zu versöhnen. Dieses scheinbar selbstlose Entgegenkommen fällt im Westen auch politisch auf fruchtbaren Boden. Die abgekühlten Beziehungen zwischen Ravenna und Konstantinopel kommen wieder in Bewegung. Der byzantinische Hof sucht nach dem Erfolg in Rom nun auch in der Umgebung Theoderichs Einfluß zu gewinnen. In dem römischen Aristokraten, der sich durch mehrere theologische Essays als Vermittler zwischen lateinischer und griechischer Kirche ausgewiesen hatte und der den gotischen Herren Italiens gegenüber immer vornehme Zurückhaltung wahrte, sieht Byzanz offenkundig eine Schlüsselfigur der östlichen Interessen und betreibt in Ravenna seine Karriere. Theoderich bestellt den Philosophen zu seinem »magister officiorum«, zum höchsten Verwaltungsbeamten am weströmischen Hof. Das doppelte Spiel des Ostens bleibt jedoch nicht lange verborgen; dem kurzen politischen Tauwetter folgt eine neue Eiszeit. Gotische Intrigen bei Hof, vor allem aber das Stigma der östlichen Protektion bringen B. zunehmend in Schwierigkeiten. Eine Affäre, deren Hintergründe nicht mehr aufzuklären sind, wird ihm schließlich zum Verhängnis. Theoderich läßt ihn verhaften, nach Pavia deportieren und nach längerem Arrest hinrichten.
B.’ philosophischer Kosmos ist klassisch und römisch. Er begreift sich als später Vollender Ciceros, dessen lateinische Rezeption der griechischen Philosophie er zum Abschluß bringt. Empfänglich für den Prozeß historischer Veränderung, sieht er die Bedrohtheit der Kultur angesichts der zeitgenössischen Verhältnisse. Daher sein Plan, die griechische Wissenschaft – nämlich die vier vorbereitenden Fächer Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie (das »quadruvium«; der Begriff stammt von ihm) und die Schriften Platons und Aristoteles’, gegliedert nach Logik, Physik und Ethik – in kommentierten Übersetzungen dem lateinischen Westen verfügbar zu machen. Wegen seines frühen Todes kann B. dieses Vorhaben nur zum Teil ausführen; seine Vision aber erfüllt sich: das Ausgeführte wird zum Fundament mittelalterlich-christlicher Wissenschaft. Ihr vermittelt B. nicht allein die lateinische philosophische Terminologie, sondern auch die philosophischen Methoden und Instrumentarien. So wird er nicht zuletzt zum Wegbereiter der Scholastik.
Die lange Haft zieht einen Schlußstrich unter seine ehrgeizigen Pläne. In einer seiner Schriften hatte er einmal festgestellt, das Studium der Philosophie sei der Trost^ seines Lebens. Zu diesem Gedanken kehrt er jetzt zurück und widmet ihm das Werk, das ihn unsterblich macht: De consolatione philosophiae (Vom Trost der Philosophie). Sämtliche klassischen Genera philosophischer Darstellung erscheinen in dem Text: dialektisches Gespräch (Platon), geschlossene Argumentation (Aristoteles), Allegorese (Stoa), philosophisches Gedicht (Parmenides, Empedokles, Lukrez), umrahmt von einer großen Zwiesprache des B. mit der Philosophie. Diese, allegorisch als Frau geschildert, besucht den Gefangenen, um ihn in seiner Verzweiflung zu trösten und durch die Hinführung zur Wahrheit zu heilen. Während die erste Hälfte des Werks die Vergänglichkeit allen Glücks, die zu Unrecht erstrebten falschen Güter, die Bedeutung einer angemessenen inneren Haltung (allein das Denken definiert die Lebensumstände als glücklich bzw. glücklos) beschwört, sucht die zweite Hälfte eine Bestimmung der wahren Glückseligkeit. Das vollkommen Gute existiert; alles Unvollkommene setzt notwendig ein Vollkommenes voraus. Ort^ dieses vollkommen Guten ist Gott; etwas Besseres als Gott kann nicht gedacht werden. Gottes Allmacht ist unbegrenzt; das Böse hat über ihn keine Macht, sonst wäre Gott zu Bösem fähig. Folglich wird die Welt durch das Gute gelenkt. Da das vollkommen Gute zugleich die wahre Glückseligkeit ist, ist auch diese mit Gott identisch – und damit auch die Welt letztlich bestimmt zur Glückseligkeit. B. fragt, wie der Mensch angesichts einer feindlichen Welt sein Glück (zurück-)gewinnen kann. Seine Antwort ist zunächst moralisch: In Wirklichkeit sind die schlechten Menschen unglücklich, die guten glücklich – jene verfehlen, diese erreichen durch ihr Tun ihr wirkliches Sein, die Glückseligkeit. Die Entscheidung zum Guten liegt einzig in der Verantwortung des Einzelnen. Auf einer zweiten Ebene, deren weltflüchtiges Moment freilich eine Augustin übertreffende Absage an jeden Versuch politischer Analyse^ bedeutet, argumentiert er metaphysisch: Alles irdische Unglück – und Glück – ist relativ, ja nichtig angesichts der ewigen Ordnung und Gerechtigkeit des Kosmos, die wir deshalb als Glück erleben können, weil sie auch in unserem Geist gegenwärtig sind und wirken. Die wahre Aufgabe des Menschen ist es, sie zu erkennen. Hierbei hilft ihm die Philosophie, die vernunftgeleitete Betrachtung dessen, was sich jenseits der Vergänglichkeit als das ewig Wahre erweist – Ich, Kosmos, Gott.
Ein bis heute diskutiertes Problem ist die Abwesenheit der christlichen Heilsinstanzen in De consolatione philosophiae. B.’ Argumentation stützt sich allein auf Positionen der klassischen Philosophie. Es erscheinen aber keine, die zur christlichen Theologie in Widerspruch stehen. Die wohl treffendste Deutung sieht diese Schrift als Werk des Neuplatonismus. Dafür sprechen ihre profund religiöse Stimmung und Weltsicht – eine Haltung, die Neuplatonismus und nachaugustinisches Christentum teilen –, darüber hinaus die Beschränkung auf den Bereich rational nachvollziehbarer Aussagen. Daß B. in einer solchen Grenzsituation die Philosophie, und nicht der Glaube zum inneren Halt geworden ist, was ihn im Urteil der Nachwelt an die Seite Senecas und Sokrates’ rückte, mußte christliche Interpreten immer wieder befremden. Doch tat dieser Umstand der Wirkung des Werkes keinen Abbruch: Neben Augustinus’ Confessiones wurde es das berühmteste Buch der Spätantike und einer der Großklassiker des Mittelalters und der Renaissance.
Gruber, Joachim: Art. »Boëthius«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 2, Sp. 719–723. – O’Daly,
G.: The Poetry of Boëthius. London 1991. – Fuhrmann,
M./Gruber, J. (Hg.): Boëthius. Darmstadt 1984. – Chadwick, H.: Boëthius. The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy. Oxford 1981 – Gibson, M. (Hg.): Boëthius. Oxford 1981.
Peter Habermehl
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