Metzler Philosophen-Lexikon: Bonaventura (d. i. Giovanni di Fidanza)
Geb. 1217 (1221?) in Bagnoreggio/Toskana; gest. 15. 7. 1274 in Lyon
B. studierte von 1236 bis 1242 in Paris. Mit dem Eintritt in den Franziskanerorden 1243 wurde er ein Schüler des Alexander von Hales. Nach Beginn einer wissenschaftlichen Karriere – mit etwa 35 Jahren in Theologie promoviert, 1257 Magister regens an der Pariser Universität – wurde er 1257 zum Generalminister seines Ordens gewählt. Seine Bedeutung reichte über den Orden hinaus. So wurde 1271 Gregor X. auf B.s Anraten hin zum Papst gewählt. 1273 gab B. die Leitung des Ordens ab, da er von Gregor X. zum Kardinalbischof von Albano ernannt und mit der Ausarbeitung von Reformvorschlägen für das II. Lyoner Konzil beauftragt worden war. Noch vor Abschluß des Konzils starb B. Von Sixtus IV. 1482 heiliggesprochen, wurde er 1588 von Sixtus V. zum Kirchenvater proklamiert.
B. gilt neben Thomas von Aquin als der größte Theologe der Scholastik; mit ihm erreicht die ältere Franziskanerschule ihren Höhepunkt. B. versucht, die geistesgeschichtlichen Spannungen seiner Zeit (Augustinismus, Aristotelismus) in eine Synthese zu bringen. Glaube und Vernunft sind dabei prinzipiell ausgesöhnt, da sie der gleichen Quelle, der christlichen Wahrheit, entspringen. Unter heilsgeschichtlichem Aspekt bietet seine Theologie eine Gesamtschau der Welt in hierarchischer Ordnung. Wissenschaft ist nur dann von Nutzen, wenn sie die Vereinigung mit Gott zum Ziel hat. Jedes Wissen, das sich nicht an diesem Ziel orientiert, ist für B. nur leere Neugier. Alle Wissenschaft hat der Theologie zu dienen und steht unter der Leitung der Heiligen Schrift. Schon Schrift und Vätertradition gelten B. nicht als gleichwertige Zeugen der einen Gottesoffenbarung; einzige Quelle alles Wissens ist die Schrift. Auch der natürlichen Philosophie kommt nur eine relative Selbständigkeit zu, da sie nach B. nicht frei von Irrtümern sein kann. So muß die aristotelische Philosophie irren, weil sie sich bewußt auf die Erklärung der sinnlichen Welt beschränkt. B. befürchtet bei einer vom Glauben losgelösten Philosophie eine Trennung von ihrem Wahrheitsgrund. Denn nur eine vom Glauben erleuchtete Vernunft kann wahr von der Welt reden. Jede Wahrheit setzt die Existenz einer absoluten Wahrheit voraus, von der sie abhängig ist. Durch die Präsenz in der Seele bezeugt Gott sich selbst. Die menschliche Seele ist der Empfangsort der göttlichen Erkenntnis der Wahrheit.
Nach Bekanntwerden des ganzen Aristoteles, vornehmlich durch eine indirekte Rezeption über die jüdisch-arabische Philosophie, die am Aristotelismus arbeitete, ohne Rücksicht auf christlichtheologische Konsequenzen, kam es zu einer Emanzipation der Philosophie. Dieser Verselbständigung versuchte B. entgegenzuwirken. Entscheidend bei allen Studien ist dasjenige Wissen, das zum Heil führt. Unabdingbare Voraussetzung dazu ist die Zusage der Vergebung der Sünden, ein Wissen, das die Philosophie nicht aufbieten kann. Dem selbstherrlichen Wissen des Menschen erteilt B. eine theologisch begründete Absage: Die von den Philosophen vertretene Auffassung, nach der der Mensch auch ohne Glauben von der unsichtbaren, intelligiblen Welt und damit von Gott weiß, ist nicht akzeptabel, da dem Menschen das Verlangen nach Wahrheit zwar innewohnt, er sie aus eigener Kraft aber nach dem Sündenfall nicht mehr erlangen kann. Der Mensch ist nicht mehr befähigt, das Buch der Welt zu lesen, aus ihm seinen Schöpfer zu erkennen und zu ihm aufzusteigen. Diesem durch die Sünde in Gottferne lebenden Menschen will B. den Aufstieg der Seele zur mystischen Vereinigung mit Gott schildern. Dies ist möglich, da Christus am Kreuz die Satisfaktion für die Sünde des Menschen leistete und so die Schöpfungsordnung wiederherstellte. Zugleich betont B. das Zusammenwirken des menschlichen Willens mit der vorbereitenden Gnade, die den Weg ebnet für den Empfang der eigentlichen Gnade, die den Menschen für Gott annehmbar macht. Für B. gelten jetzt Glaube und Gnade als Bedingung für die vollkommene Gottesund Welterkenntnis. Ausgangspunkt alles rationalen Denkens über Glaubenssätze bildet der lebendige, erfahrene Glaube, der so nicht die Annahme bestimmter Sätze, sondern die erfahrungsbedingte Erkenntnis meint. Meditation und theologische Spekulation gehören zusammen. Das erklärt sich auch aus den Traditionen, in denen B. verhaftet ist. Entscheidendes Gewicht kommt dabei Augustinus und Franz von Assisi zu; seine Mystik ist u. a. von Hugo von St. Victor und Bernhard von Clairvaux beeinflußt. B. hat seinerseits Einfluß auf Heinrich Seuse, die »devotio moderna«, auf Jean Gerson und Franz von Sales geübt. Im Sinn der franziskanischen Tradition stellt B.s Theologie den letzten großen Versuch vor Thomas von Aquin dar, sich in Augustinus von Aristoteles zu distanzieren.
Hattrup, Dieter: Ekstatik der Geschichte. Die Entwicklung der christologischen Erkenntnistheorie Bonaventuras. Paderborn/München/Wien/Zürich 1993. – Schlosser, Marianne: Cognitio et amor. Zum kognitiven und voluntativen Grund der Gotteserfahrung nach Bonaventura. Paderborn/München/Wien/Zürich 1990.
Sabine Holtz
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