Metzler Philosophen-Lexikon: Buber, Martin
Geb. 8. 2. 1878 in Wien; gest. 13. 6. 1965 in Jerusalem
Ob B. überhaupt als Philosoph zu bezeichnen ist, muß zumindest in Frage gestellt werden. Er selbst sagt 1963 im Rückblick auf Leben und Werk: »Soweit meine Selbsterkenntnis reicht, möchte ich mich einen atypischen Menschen nennen Seit ich zu einem Leben aus eigener Erfahrung gereift bin – ein Prozeß, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann und bald nach ihm vollendet war – habe ich unter der Pflicht gestanden, den Zusammenhang der damals gemachten Erfahrungen ins menschliche Denkgut einzufügen Da ich aber keine Botschaft empfangen habe, die solcherweise weiterzugeben wäre, sondern nur eben Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen habe, mußte meine Mitteilung eine philosophische sein.« Schon in diesen Worten deutet sich an, wie gespalten das Verhältnis B.s zur Philosophie letztlich geblieben ist, konnte er doch auch erklären: »Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.«
B., in Wien geboren, erfährt entscheidende Kindheitseindrücke im galizischen Lemberg, wo der Großvater Salomo B. als Bankier und Großgrundbesitzer, vor allem aber als führender Vertreter der jüdischen Aufklärung (Haskala) und hervorragender Erforscher der jüdischen Literaturgeschichte wirkte. Hier werden bereits erste Grundlagen für seine umfassende Kenntnis der weitverzweigten jüdischen Tradition gelegt, hier in Galizien begegnet der Knabe auch noch dem letzten Abglanz des Chassidismus, jener volkstümlichsten Erweckungsbewegung im Judentum, die im 18. Jahrhundert in Podolien entstand und in weiten Kreisen des osteuropäischen Judentums zur vorherrschenden Form der Volksfrömmigkeit wurde. Über der Lektüre des Testaments des Rabbi Israel ben Elieser, des Stifters des Chassidismus, gelangt B. zu jener grundlegenden Erfahrung, aus der heraus die Vielfalt seines Denkens und Wirkens zu erklären ist: »Da war es, daß ich, im Nu überwältigt, die chassidische Seele erfuhr. Urjüdisches ging mir auf, im Dunkel des Exils zu neubewußter Äußerung aufgeblüht: die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefaßt. Und dieses Urjüdische war ein Urmenschliches, der Gehalt menschlichster Religiosität Ich erkannte die Idee des vollkommenen Menschen. Und ich wurde des Berufs inne, sie der Welt zu verkünden.« B. studierte in Wien, Leipzig und Zürich und wurde 1904 mit einer Dissertation zur Geschichte des Individuationsproblems promoviert. Von Anfang an war B. an der von Theodor Herzl begründeten zionistischen Bewegung maßgeblich beteiligt gewesen. Als Mitbegründer des Jüdischen Verlags (1902) trug B., der sich bereits seit dem 5. Zionistenkongreß in Basel 1901 kritisch mit dem Zionismus Herzlscher Prägung auseinandergesetzt hatte, Entscheidendes dazu bei, daß die zionistische Idee mit Herzls Tod (1904) nicht verebbte, sondern im deutschen Sprachraum nach 1910 zum führenden Moment der jüdischen Renaissance werden konnte. Deutlich grenzten sich B. und seine Freunde gegen einen nur politisch-nationalen Zionismus, wie ihn Herzl formuliert hatte, ab: »Das nationale Bekenntnis allein verwandelt den jüdischen Menschen nicht; er kann mit ihm ebenso seelenarm, wenn auch nicht ebenso haltlos sein wie ohne es.« Der »geistige Zionismus«, wie B. ihn wollte, ließ »die Befreiung, die die national-jüdische Bewegung meint, an das große Symbol der Erlösung« grenzen. Mit seiner Trennung von der zionistischen Bewegung (1904) beginnt die Epoche der endgültigen Selbstfindung im Leben B. s. Die »Idee des vollkommenen Menschen«, die »der Welt zu verkünden« er als seinen »Beruf« begreift, ist letztlich religiöser Art. Wer von »Verkündigung« und »Erlösung« spricht, redet als ein im Innersten Überwältigter, als ein »homo religiosus«, wobei es dann fast gleichgültig wird, in welches denkerische und sprachliche Gewand die »Botschaft« jeweils gekleidet werden mag.
B. wandte sich zunächst intensiv der Erforschung des Chassidismus zu, dessen weitverstreute literarische Überlieferung außerhalb des Judentums praktisch unbekannt geblieben war. Die Ergebnisse seiner Studien sollten für das Verständnis der osteuropäisch-jüdischen Frömmigkeit bahnbrechend wirken, obwohl B. in bezeichnender Manier die Regeln wissenschaftlicher Publizistik vernachlässigte, indem er in sprachmächtigen Nachdichtungen vor allem die Legenden der großen chassidischen Rebben (Zaddikim) vorlegte. Bei aller Gelehrsamkeit ging es B. nicht um eine historische Rückschau, sondern um die Ausrichtung der Chassidischen Botschaft (hebr. 1945, dt. 1952), die er bereits 1927 in der Anthologie Die chassidischen Bücher zusammengefaßt hatte (vgl. auch Die Erzählungen der Chassidim, 1949): »Gott in aller Konkretheit als Sprecher, die Schöpfung als Sprache: Anruf ins Nichts und Antwort als Sprecher, die Schöpfung als Sprache: Anruf ins Nichts und Antwort der Dinge durch ihr Entstehn, die Schöpfungssprache dauernd im Leben aller Kreaturen, das Leben jedes Geschöpfs als Zwiegespräch, die Welt als Wort, – das kundzugeben war Israel da. Es lehrte, es zeigte: der wirkliche Gott ist der anredbare, weil anredende Gott.«
Mit seiner Deutung des Chassidismus, die z.B. der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem energisch kritisierte, hatte B. die mystischen Dimensionen seiner Ekstatischen Konfessionen (1909) überwunden, indem er nun den Verkehr Gottes mit den Menschen und den der Menschen mit Gott über die Dinge und das Wesen dieser Welt sich vollziehen sieht. Dieser entschiedenen Hinwendung zur Welt, die sich gegen alles Religiös-Ekstatische wendet und die »stillen Offenbarungen« des Alltags preist, entspricht die Überzeugung von dem »Ethos des Augenblicks«. Es kommt entscheidend auf das Tun an. Gerade darin, daß er nicht mehr nach Wissen und Erkenntnis, sondern nach Begegnung und Dialog als Grundbefindlichkeiten des Menschen fragt, erweist sich B. als ein Agnostiker, der ganz bewußt keine Lehre ausbildet und der auf alle Elemente des Konfessorischen und Konfessionellen verzichten kann, ja muß, weil das »Bekenntnis« zum »dialogischen Prinzip« die traditionellen Religionsgrenzen gegenstandslos werden läßt. Vor diesem Hintergrund setzt sich B. auch mit den Reden und Gleichnissen des Tschuang Tse (1910), Chinesischen Geister- und Liebesgeschichten (1911) und dem finnischen Nationalepos Kalewala (1914) auseinander.
Schon bei dem Berditscher Rebben Levi Jizchak dem Heiligen hatte B. das Lied kennengelernt, das den Übergang von der religiösen zur philosophischen Inspiration ermöglichte: »Wo ich gehe – du!/Wo ich stehe – du!/Nur du, wieder du, immer du!/Himmel – du, Erde – du/Oben – du, unten – du,/Wohin ich mich wende, an jedem Ende/Nur du, wieder du, immer du!« B. begann 1919 mit der Niederschrift seines philosophischen Hauptwerks Ich und Du, das 1923 im Insel-Verlag Leipzig erschien. Alle folgenden philosophischen Abhandlungen dienen letztlich der weiteren Bestimmung und Präzisierung des dort ausgearbeiteten »dialogischen Prinzips« (Die Schriften über das Dialogische Prinzip, 1954) als dem Ausdruck einer metaphysischen Anthropologie. Deren Grundbeziehung ist für B. die des Ich und Du, entfaltet als zwischenmenschliche Beziehung des Ich zu einem anderen Ich, dem Du. Von gleicher dialogischer Art ist die Beziehung des menschlichen Ich zum göttlichen Du und des göttlichen Ich zum menschlichen. Eine eigentlich systematisch-philosophische Durchdringung dieses Ansatzes ist B. nicht gelungen, er hat sie wohl auch nicht wirklich erstrebt. Aber gerade die letztlich systemlose Behandlung des Ich-Du-Phänomens in Philosophie und Religion, Sozialverhalten und Politik, Geschichte und Psychologie macht den Reiz aus, den dieses Denken auf Philosophen, Theologen, Historiker und Psychologen ausübt.
Wesentliche Anregungen entnahm B. der Bibel. Daneben sind es die Sprachphilosophien Johann Georg Hamanns, Sören Kierkegaards, Ludwig Feuerbachs oder auch Georg Simmels, die sein Denken bewegen und darin zu einer eigentümlichen Synthese verschmolzen werden. Als Mittel des Dialogs kommt der Sprache entscheidende Bedeutung zu: »Ich werdend spreche ich Du.« Diese grundlegende Einsicht bestimmte auch B.s Übersetzungsarbeit an der hebräischen Bibel als dem einzigartigen Dokument des Gegenübers von Gott und Mensch. Schon Anfang 1914 faßte er den Plan einer neuen Übertragung, an der von 1925 bis zu seinem Tod 1929 Franz Rosenzweig maßgeblich mitgearbeitet hat. Erst im Februar 1961 konnte B. die Verdeutschung der Schrift vollenden, für die er die Forderung aufgestellt hatte: »Zur Gesprochenheit wollen wir hindurch, zum Gesprochenwerden des Worts.« Überzeugt davon, daß »die ursprünglichen Schriftzüge« im Laufe der Jahrtausende »von einer geläufigen Begrifflichkeit teils theologischer, teils literarischer Herkunft« überzogen worden seien, stellt sich B. der Fremdheit der disparaten biblischen Texte, wird bei ihrer Übertragung zum oft eigenwilligen Sprachschöpfer und Vermittler der Erkenntnis: »In jedem Gliede ihres Leibes ist die Bibel Botschaft.« Dahinter steht die Überzeugung: »Der Mensch wird durch das, was ihm widerfährt, was ihm geschickt wird, durch sein Schicksal, angeredet; durch sein eigenes Tun und Lassen vermag er auf diese Anrede zu antworten, er vermag sein Schicksal zu verantworten.«
Das »dialogische Prinzip« und die daraus erwachsende Verantwortung sah B. auch auf dem Gebiet des Politischen als maßgeblich an. Seine Hinwendung zur Politik hat ihre Wurzeln im Religiösen Sozialismus, der die eigentliche Herausforderung des Glaubens darin begriff, Leben in der gebrochenen Welt des Alltags zu ermöglichen. Wie B. lehrte, geht es dem Sozialismus »um das wirkliche Zusammenleben von Menschen, die Echtheit von Menschen zu Menschen, die Unmittelbarkeit der Beziehungen«. 1928 fand in B.s Haus in Heppenheim eine Konferenz »Sozialismus aus dem Glauben« statt, bei der erstmals umfassend die Konzeption des »utopischen Sozialismus« erörtert wurde, die wesentlich durch das Denken Gustav Landauers geprägt war. Wie dieser lehnte auch B. einen Sozialismus marxistischer Prägung als mechanistisch ab. 1946 faßte er in Der utopische Sozialismus noch einmal zusammen, was ihm als Ideal vorschwebte: »Die Urhoffnung aller Geschichte geht auf eine echte, somit durchaus gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechtes.«
Ähnliche Auffassungen bestimmten auch B.s pädagogische Theorie und Praxis: »Das erzieherische Verhältnis ist ein rein dialogisches.« Bereits 1919 fand in Heppenheim eine erste Tagung zur Erneuerung des Bildungswesens statt. Hier trat er in Kontakt zu Franz Rosenzweig, der die Leitung des im Herbst 1919 gegründeten »Freien Jüdischen Lehrhauses« in Frankfurt am Main übernahm, an der sich später auch B. beteiligte. Den pädagogischen Prozeß interpretiert B. als Lockung und Hervorrufung eines nachwachsenden Wesens, das sich vorab angenommen wissen muß, soll es den ersten Schritt im Vertrauen auf ein bergendes Du wagen. B. ist zutiefst davon überzeugt, daß derjenige, der nicht lernt, Du zu sagen, auch nicht Ich sagen kann.
Von 1923 an lehrte B. an der Frankfurter Universität Religionswissenschaft und jüdische Ethik. Die erst 1930 verliehene Honorarprofessur legte er 1933 nieder, bevor ihm die Lehrerlaubnis offiziell entzogen wurde. Nun intensivierte er seine Tätigkeit auf dem Feld der jüdischen Erwachsenenbildungsarbeit, insbesondere durch die »Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland«. Angesichts der nationalsozialistischen Judenverfolgungen kämpfte B. für den »Aufbau im Untergang« (Ernst Simon), für den er schon im April 1933 eintrat: »Wenn wir unser Selbst wahren, kann nichts uns enteignen. Wenn wir unserer Berufung treu sind, kann nichts uns entrechten. Wenn wir mit Ursprung und Ziel verbunden bleiben, kann nichts uns entwurzeln, und keine Gewalt der Welt vermag den zu knechten, der in der echten Dienstbarkeit die echte Seelenfreiheit gewonnen hat.« Im März 1938 mußte auch B., dessen Haus in Heppenheim zur Anlaufstelle für viele Ratsuchende, Juden und Nichtjuden, geworden war, der Gewalt weichen und nach Palästina auswandern. In Jerusalem erhielt B. schließlich einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie, nachdem er eine pädagogische Professur abgelehnt hatte. 1941 erschien der einzige Roman Gog und Magog. Seine pädagogischen Bemühungen werden durch das 1949 gegründete »Seminar für Erwachsenenbildner« in Jerusalem fortgesetzt. Insgesamt wird nun aber in Israel »die fast völlige Einflußlosigkeit B.s in der jüdischen Welt, die seltsam mit seiner Anerkennung bei den Nichtjuden kontrastiert«, schmerzlich bewußt: »Der Apostel Israels sprach eine Sprache, die allen verständlicher war als den Juden selber« (G. Scholem). Der Grund dafür lag nicht nur in dem oft beklagten Mangel an Gegenständlichkeit und der Neigung zum Abstrakten von B.s Schriften, sondern vor allem an den inhaltlichen Positionen, deren theoretisch-philosophische Brillianz im Gegenüber zur Realität durchaus problematisch werden konnte.
In besonderer Weise trifft das auf seine Stellungnahme zur zionistischen Idee und zur Problematik der arabischen Bevölkerung in Palästina bzw. Israel zu. Mit Nachdruck bestand er darauf, daß »von Uranbeginn die einzigartige Verbindung zwischen diesem Volk und diesem Land im Zeichen dessen (steht), was sein soll, was werden, was verwirklicht werden soll«, denn »zu dieser Verwirklichung kann das Volk nicht ohne das Land und das Land nicht ohne das Volk gelangen: nur die getreue Verbindung beider führt zu ihr«. Im Blick auf die Araber forderte B. aber bereits 1948: »Positiv gesprochen, Entwicklung einer echten Interessengemeinschaft durch Einbeziehung des anderen Volkes in unsere wirtschaftliche Tätigkeit im Lande. Negativ gesprochen, Vermeidung aller einseitigen politischen Proklamationen und Handlungen, d.h. Verschiebung der politischen Entscheidungen, bis die Interessengemeinschaft ihren genügenden praktischen Ausdruck gefunden hat.« Nach der Gründung des Staates Israel erklärte B. dann: »Die Form des jüdischen Gemeinwesens, die aus dem Krieg hervorgegangen ist, den Staat Israel, habe ich als meinen Staat akzeptiert. Ich habe nichts gemein mit denjenigen Juden, die sich vorstellen, sie könnten das tatsächliche Gebilde der jüdischen Selbständigkeit anzweifeln. Das Gebot, dem Geiste zu dienen, muß von nun an in diesem Staate und von ihm aus erfüllt werden.«
Von 1947 an besuchte B. wiederholt Europa und Amerika. Zahlreiche renommierte Preise bezeugten sein internationales Ansehen, das sich auch in einer wachsenden Anzahl von Übersetzungen seiner Werke niederschlug. Als B. 1965 starb, schrieb E. Simon, der langjährige Freund und Vertraute, in einem Nachruf: »Meist stand er allein, von wenigen Freunden gestützt, vom Beifall der halb Verstehenden umspült, von der Gegnerschaft der Getroffenen befeindet, durch die schweigende Abwendung enttäuschter Anhänger verletzt.«
Caspar, Bernhard: Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Freiburg 2002. – Grimme, Hans-Werner: Ich – DU – Ewiges Du. Religionsphilosophische Aspekte der Dialogik Martin Bubers. Stuttgart 2002. – Kirsch, Hans-Christian: Martin Buber. Biographie eines deutschen Juden. Freiburg 2001. – Leiner, Martin: Gottes Gegenwart. Martin Bubers Philosophie des Dialog und der Ansatz ihrer theologischen Rezeption bei Friedrich Gogarten und Emil Brunner. Gütersloh 2000. – Friedman, Maurice: Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber – ein Leben. Münster 1999. – Wehr, Gerhard: Martin Buber. Leben, Werk, Wirkung. Zürich 1991. – Kohn, Hans: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880–1930. Wiesbaden 41979. – Scholem, Gershom: Martin Bubers Auffassung des Judentums [1967]. In: Judaica 2 (1970),
S. 133–192.
Peter Maser
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